Abhängigkeit sozialrechtlichen Verwertungsschutzes für selbst bewohntes Wohneigentum von der aktuellen Bewohnerzahl verstößt nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz

02. Juni 2022 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 28. April 2022 zum Aktenzeichen 1 BvL 12/20 eine Vorlage entschieden, dass § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 in Verbindung mit Satz 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 49/2022 vom 2. Juni 2022 ergibt sich:

Die Vorlage betrifft die im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung anzuwendende Regelung des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 in Verbindung mit Satz 2 SGB II, wonach selbst bewohntes Wohneigentum angemessener Größe einem Bezug von Grundsicherungsleistungen nicht als anrechenbares Vermögen entgegensteht, also in der Sache vor Verwertung geschützt ist. Die angemessene Größe richtet sich dabei nach der aktuellen Bewohnerzahl. Die Regelung berücksichtigt daher nicht, wenn Eltern gegenwärtig gerade deshalb über größeren Wohnraum verfügen, weil sie zuvor noch den Wohnbedarf ihrer mittlerweile ausgezogenen Kinder decken mussten. Dass die Vorschrift für die Frage des Verwertungsschutzes von Wohneigentum nicht nach dessen familiärer Vorgeschichte differenziert, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Vorschrift dient der Realisierung des Bedarfsdeckungsprinzips, wonach im System der Grundsicherung staatliche Leistungen allgemein nachrangig gewährt werden. Das steht zu der Belastung der Betroffenen nicht außer Verhältnis.

Sachverhalt:

Selbst genutztes Wohneigentum ist nach § 12 Abs. 3 SGB II bei der Bedürftigkeitsprüfung bei einem Bezug von Grundsicherungsleistungen geschützt, wenn es eine „angemessene Größe“ hat. Das Bundessozialgericht hat dies in ständiger Rechtsprechung dahingehend konkretisiert, dass die angemessene Größe eines Hausgrundstücks mit Blick auf die Gesamtwohnfläche des darauf errichteten Hauses, differenziert nach der Anzahl der dort lebenden Personen zu bestimmen ist.

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens lebte mit ihrem Ehemann in einem von ihnen erbauten und im Eigentum des Ehemannes stehenden Haus mit einer Wohnfläche von 143,69 m². Die Eheleute zogen 1997 mit ihren sechs Kindern dort ein. Das letzte Kind zog im April 2013 aus. Seitdem bewohnten die Eheleute das Haus allein. Das Jobcenter lehnte den Antrag der Klägerin auf zuschussweise Leistungsgewährung ab, weil der Ehemann der Klägerin Eigentümer eines Hauses sei und damit Vermögen besitze, das den für die Klägerin und ihn maßgeblichen Freibetrag übersteige. Das Hausgrundstück sei auch verwertbar, da es mangels angemessener Größe kein Schonvermögen im Sinne des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II sei. Angemessen seien bei einem Zwei-Personen-Haushalt 90 m².

Das Sozialgericht setzte das sich anschließende Verfahren aus. Nach Auffassung des Sozialgerichts erzeugen § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 und Satz 2 SGB II in ihrem Zusammenwirken eine die Familie diskriminierende Wirkung, indem sie das Wohneigentum von Eltern in ihrer aktuellen Lebenssituation nur deshalb nicht schützen, weil sie in einer vorangegangenen Lebensphase Kinder betreut hätten, für die sie größeren Wohnraum hätten vorhalten müssen.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die vorgelegte Norm ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Hieraus folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung untersagt. Ebenso wenig ist er gehalten, Ungleiches unter allen Umständen ungleich zu behandeln. Der Gesetzgeber hat bei der Gewährung von Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, grundsätzlich einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen darüber trifft, ob und in welchem Umfang das Vermögen des Empfängers auf den individuellen Bedarf angerechnet wird. Das Bundesverfassungsgericht kann insbesondere nicht prüfen, ob der Gesetzgeber im Einzelnen die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden hat.

Danach verstößt es nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 in Verbindung mit Satz 2 SGB II allen Betroffenen gleichermaßen die Verwertung von aktuell unangemessen großem Wohneigentum abverlangt, ohne danach zu unterschieden, ob es sich um schon immer in diesem Sinne unangemessen großes Wohneigentum handelt oder ob es früher mit Kindern bewohnt wurde und vor deren Auszug angemessen im Sinne von § 12 Abs. 3 Nr. 4 SGB II war. Nicht zu berücksichtigen, ob in dem aktuell zu groß bemessenen Wohneigentum einst Kinder erzogen wurden, für die entsprechend größerer Wohnraum vorgehalten werden musste, entspricht dem allgemeinen System der Grundsicherung, staatliche Leistungen nachrangig zu gewähren. Den gegenwärtigen Bedarf als Bezugspunkt staatlicher Transferleistungen zu wählen, verfolgt einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck; das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber nicht, soziale Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn Menschen ihre Existenz nicht vorrangig selbst sichern können. Für die Frage der angemessenen Größe von Wohnraum auf die aktuelle Bewohnerzahl abzustellen, ist zur Realisierung des Bedarfsdeckungsprinzips auch im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet und erforderlich und die daraus für Eltern ausgezogener Kinder resultierende Ungleichheit steht zu dem Regelungszweck nicht außer Verhältnis. Denn auch der soziale Rechtsstaat ist darauf angewiesen, dass Mittel der Allgemeinheit, die zur Hilfe für deren bedürftige Mitglieder bestimmt sind, nur in Fällen in Anspruch genommen werden, in denen aktuell Bedürftigkeit vorliegt. Auf der anderen Seite werden den Betroffenen hier nicht Leistungen verwehrt, die sie zur Existenzsicherung benötigten. Denn sie verfügen über Wohneigentum, das sie einsetzen und damit ihren Bedarf selbst sichern können.