ablehnender BAföG-Bescheid wegen Anrechnung eines Erbanteils an einem von weiteren Familienmitgliedern bewohnten Haus ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 21. März 2023 zum Aktenzeichen 1 BvR 1620/22 entschieden, ein ablehnender BAföG-Bescheid wegen Anrechnung eines Erbanteils an einem von weiteren Familienmitgliedern bewohnten Haus verfassungswidrig ist.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein verwaltungsgerichtliches Verfahren um die Ablehnung von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) wegen der Anrechnung von Vermögen.

Der Beschwerdeführer beantragte im November 2020 die Bewilligung von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) für ein im Wintersemester 2020/21 aufgenommenes Studium. Er hat an einem Einfamilienhaus in ungeteilter Erbengemeinschaft einen Erbanteil von einem Zwölftel, den er neben seiner Mutter und seinen beiden Brüdern nach dem Tod des Vaters erlangt hat. Das Einfamilienhaus weist eine Wohnfläche von 161 qm auf und wird nach den Feststellungen des angegriffenen Urteils des Verwaltungsgerichts von seiner Mutter, seinen beiden Brüdern und ihm selbst bewohnt. Die Behörde hat den Wert des Erbanteils des Beschwerdeführers mit 26.219 Euro angesetzt.

Der Widerspruch des Beschwerdeführers gegen den Ablehnungsbescheid für den Bewilligungszeitraum November 2020 bis September 2021 wurde unter anderem mit der Begründung zurückgewiesen, eine wirtschaftliche Unverwertbarkeit des „Miteigentumsanteils“ sei nicht gegeben. Sollte kein Einvernehmen über eine Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft zu erzielen sein, könne die Zwangsversteigerung betrieben werden.

Die gegen diese Entscheidungen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht unter anderem mit folgender Begründung ab: Der Erbanteil des Beschwerdeführers könne nicht gemäß § 29 Abs. 3 BAföG zur Vermeidung unbilliger Härten anrechnungsfrei bleiben. Zwar könne eine unbillige Härte auch bei wirtschaftlicher Unverwertbarkeit vorliegen. Eine solche sei hier jedoch nicht gegeben. Dabei könne dahinstehen, ob für den Beschwerdeführer tatsächlich keine Möglichkeit bestehe, den Erbanteil zu beleihen oder an seine Mutter zu veräußern. Auch greife der Einwand des Beschwerdeführers nicht durch, dass seine Mutter zu einer einvernehmlichen Aufhebung der Erbengemeinschaft nicht bereit sei. Davon könne der Einsatz öffentlicher Mittel trotz vorhandenen Vermögens nicht abhängig gemacht werden, zumal über den Erbanteil als Ganzes auch ohne Zustimmung des Miterben verfügt werden könne. Umstände, die wegen unzumutbarer Konsequenzen für die Miterben als gleichsam moralisches Hindernis für eine Verwertung empfunden würden, erfüllten nicht den Tatbestand einer unbilligen Härte. Anhaltspunkte dafür, dass sich das Einfamilienhaus nicht zu einem angemessenen Preis veräußern ließe, seien weder ersichtlich noch vorgetragen.

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung ab. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Erbanteil des Beschwerdeführers an dem Hausgrundstück sei wirtschaftlich verwertbar, begegne keinen ernstlichen Zweifeln. Insbesondere stelle es keine unbillige Härte im Sinne des § 29 Abs. 3 BAföG dar, dass der Beschwerdeführer sich aus moralischen Gründen an einer Verwertung gehindert sehe, weil er diese nur unter Inkaufnahme eines innerfamiliären Konflikts erreichen könne. Die Vermeidung eines innerfamiliären Konflikts sei lediglich ein außerrechtliches, sittlich-moralisches Argument, das im Hinblick auf die grundsätzliche Nachrangigkeit der Ausbildungsförderung und den Ausnahmecharakter der über den Freibetrag hinausgehenden Anrechnungsfreistellung keine unbillige Härte begründen könne.

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen mit ihrer Annahme, dass keine unbillige Härte im Sinne des § 29 Abs. 3 BAföG wegen der Vermögensanrechnung des Erbteils von einem Zwölftel an dem Hausgrundstück der Familie vorliege, den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung als Willkürverbot.

Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den konkreten Fall sind zwar Sache der dafür zuständigen Gerichte und daher der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen; ein verfassungsrechtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt jedoch unter anderem unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot in Betracht. Ein solcher Verstoß gegen das Willkürverbot liegt bei gerichtlichen Entscheidungen nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung Fehler enthält, sondern erst dann, wenn die Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht. Von einer willkürlichen Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt. Dieser Maßstab gilt auch für die verfassungsrechtliche Überprüfung der von den Fachgerichten vorgenommenen Beweiswürdigung und der von ihnen getroffenen tatsächlichen Feststellungen.

In den angegriffenen Entscheidungen wird letztlich maßgeblich darauf abgestellt, es sei dem Beschwerdeführer zumutbar, die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft zu betreiben und seinen Erbanteil von einem Zwölftel im Wege der Zwangsversteigerung des Hausgrundstücks zu verwerten. Diese Annahme ist ausgehend von der fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung der Härtefallregelung des § 29 Abs. 3 BAföG nicht mehr nachvollziehbar. Danach stellt auch die Anrechnung wirtschaftlich nicht verwertbaren Vermögens eine unbillige Härte dar. Ein wirtschaftliches Verwertungshindernis kann auch die Notwendigkeit begründen, Vermögen im Wege der Zwangsversteigerung eines Hausgrundstücks einzusetzen, weil dabei regelmäßig ein erheblicher wirtschaftlicher Verlust entsteht. Die angegriffenen Entscheidungen enthalten hierzu keine Feststellungen noch wird die Frage eines wirtschaftlichen Verlustes im Falle der Zwangsversteigerung überhaupt aufgegriffen. Stattdessen nimmt das Verwaltungsgericht trotz der unterstellten Notwendigkeit einer Zwangsversteigerung an, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass sich das hier in Rede stehende Einfamilienhaus nicht zu einem angemessenen Preis verkaufen lasse. Das ist schlichtweg unverständlich.

Darüber hinaus lassen die angegriffenen Entscheidungen bei der Anwendung der Härtefallregelung des § 29 Abs. 3 BAföG völlig unberücksichtigt, dass die Mutter und die beiden Brüder des Beschwerdeführers zu einer voraussichtlich unwirtschaftlichen Verwertung ihres Anteils am gemeinsam bewohnten Hausgrundstück gezwungen würden, obwohl sie nicht zum Einsatz ihres Vermögens verpflichtet sind, um dem Beschwerdeführer ein Studium zu ermöglichen (§ 11 Abs. 2 Satz 1 BAföG). Dies ist umso weniger nachvollziehbar, als dem Beschwerdeführer mit nur einem Zwölftel ein im Verhältnis zu seinen Angehörigen nur geringer Anteil am Hausgrundstück von dementsprechend auch nur begrenztem Wert zusteht.