Ablehnung der Aussetzung zur Bewährung verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 15. November 2021 zum Aktenzeichen 2 BvR 336/20 entschieden, dass die abgelehnte Aussetzung des Vollzugs einer Restfreiheitsstrafe zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB verfassungswidrig ist.

Der Beschwerdeführer ist mehrfach wegen Betrugs, Computerbetrugs und Urkundenfälschung vorbestraft. Er befand sich seit dem 14. Oktober 2009 in Haft. Nachdem er eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten wegen gewerbsmäßigen Betrugs beziehungsweise gewerbsmäßigen Computerbetrugs und Urkundenfälschung in über hundert Fällen aus einem Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 10. August 2010 verbüßt hatte, wurde seit dem 22. Juni 2019 der Rest einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten aus einem Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 18. Dezember 2012 wegen Betrugs in zwei Fällen vollstreckt.

Die Aussetzungsentscheidungen des Landgerichts Berlin und des Kammergerichts nach § 57 Abs. 1 StGB sind mit dem Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person“ und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass die Norm die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuieren.

Das Bundesverfassungsgericht prüft gerichtliche Entscheidungen nur in einem eingeschränkten Umfang. Bei der nach § 57 Abs. 1 StGB zu treffenden Entscheidung handelt es sich um die Auslegung und Anwendung von Gesetzesrecht, die Sache der Strafgerichte ist. Sie wird vom Bundesverfassungsgericht daher nur daraufhin nachgeprüft, ob das Strafvollstreckungsgericht in objektiv unvertretbarer Weise vorgegangen ist oder die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite des durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 1 GG verbürgten Freiheitsrechts verkannt hat.

Die aus dem Freiheitsrecht abzuleitenden Anforderungen richten sich im Rahmen der Prüfung des § 57 Abs. 1 StGB insbesondere an die Prognoseentscheidung. Für deren tatsächliche Grundlagen gilt von Verfassungs wegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 70, 297 <309>). Es verlangt, dass der Richter die Grundlagen seiner Legalprognose selbstständig bewertet, verbietet mithin, dass er die Bewertung einer anderen Stelle überlässt. Darüber hinaus fordert es vom Richter, dass er sich um eine breite Tatsachenbasis bemüht und sich so ein möglichst umfassendes Bild über die zu beurteilende Person verschafft.

Dabei haben die Anforderungen an die Sachaufklärung sowohl dem Sicherheitsaspekt als auch dem hohen Wert der Freiheit des Verurteilten Rechnung zu tragen. Sie steigen mit zunehmender Dauer des Freiheitsentzugs, mit der auch die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte und die mit der Sachaufklärungspflicht korrespondierende Begründungspflicht der Gerichte zunimmt. Das Vollstreckungsgericht hat sich daher auch von Verfassungs wegen um eine möglichst breite Tatsachenbasis für seine Prognoseentscheidung zu bemühen und alle prognoserelevanten Umstände besonders sorgfältig zu klären.

Für die im Aussetzungsverfahren zu treffende Prognoseentscheidung haben Vollzugslockerungen im Regelfall besondere Bedeutung, da sich so für den Richter die Basis der prognostischen Beurteilung erweitert und stabilisiert. Gerade das Verhalten anlässlich solcher Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung dar. Der Gefangene erhält Gelegenheit, sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens zu bewähren; sein hierbei an den Tag gelegtes Verhalten ist „Verhalten im Vollzug“, das der Richter bei der Prognoseentscheidung zu berücksichtigen hat (vgl. § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB). Darüber hinaus machen es Vollzugslockerungen dem Gefangenen – insbesondere bei langem Freiheitsentzug – möglich, wenigstens ansatzweise Orientierung für ein normales Leben zu suchen und zu finden. Je nach dem Erfolg dieser Orientierungssuche stellen sich seine Lebensverhältnisse und die von einer Aussetzung der Strafvollstreckung zu erwartenden Wirkungen günstiger oder ungünstiger dar. Folglich werden die Chancen, dass das Gericht, das über die Aussetzung zu entscheiden hat, zu einer zutreffenden Prognoseentscheidung gelangt, durch vorherige Gewährung von Vollzugslockerungen verbessert und umgekehrt durch deren Versagung verschlechtert.

Daraus folgen besondere Prüfungspflichten der Gerichte im Aussetzungsverfahren. Will das Gericht die Ablehnung der Aussetzung auch auf die fehlende Erprobung des Gefangenen in Lockerungen stützen, darf es sich nicht mit dem Umstand einer – von der Vollzugsbehörde verantworteten – begrenzten Tatsachengrundlage abfinden. Ungeachtet des Standes eines möglichen Verfahrens über einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 Abs. 1 StVollzG hat das Gericht von Verfassungs wegen selbstständig zu klären, ob die Begrenzung der Prognosebasis zu rechtfertigen ist, weil die Versagung von Lockerungen auf einem hinreichenden Grund beruhte. Kommt das Gericht dieser Prüfungspflicht nicht oder nicht hinreichend nach, entspricht die auf fehlende Erprobung gestützte Ablehnung der bedingten Entlassung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

Beide Gerichte verweisen in den angegriffenen Beschlüssen insbesondere darauf, dass der Beschwerdeführer seit seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt T. im August 2017 therapeutische Gespräche geführt habe. Dabei stellt das Landgericht fest, dass es sich um intensive Gespräche gehandelt habe, die beim Beschwerdeführer zu einer Aufarbeitung seiner Straftaten geführt haben mögen. Er habe sich unter anderem in einer psychotherapeutischen Behandlung mit sich und seinen Taten intensiv auseinandergesetzt und die Behandlung nach Einschätzung der Anstaltspsychologin erfolgreich abgeschlossen. Darüber hinaus weisen beide Gerichte auf ein seit geraumer Zeit beanstandungsfreies Vollzugsverhalten sowie seit dem 24. Juli 2019 laufende, bisher beanstandungsfreie Lockerungen hin. Über die Annahme des Kammergerichts hinaus nimmt das Landgericht sogar noch einen positiven sozialen Empfangsraum im familiären Bereich an.

Gleichwohl gehen beide Gerichte davon aus, dass dem Beschwerdeführer keine positive Legalprognose gestellt werden könne und daher eine Strafaussetzung zur Bewährung ausscheide.

Das Landgericht verweist darauf, dass angesichts der Dichte und Intensität der seit 2004 vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten bei ihm ein kritischer Maßstab an die Wahrscheinlichkeit des Wohlverhaltens anzulegen sei, zumal ihn auch die Strafvollstreckung nicht von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten habe. Aus der äußerst kurzen Erprobungsphase ließen sich beim bisherigen Vollzugsverlauf noch keine tragfähigen Schlüsse ziehen. Es sei offen, ob er nicht nur den Willen, sondern auch die Fähigkeit habe, mit dem nunmehr erlernten Repertoire künftig Versuchungssituationen zu widerstehen.

Das Kammergericht geht davon aus, dass trotz einer „Reihe positiver Ansätze“ die bislang erreichten Fortschritte noch nicht die Erwartung rechtfertigten, dass eine erneute Straffälligkeit wenig wahrscheinlich sei. Dies führt es insbesondere darauf zurück, dass die geschilderte Entwicklung weitgehend unter dem Schutz des Strafvollzugs stattgefunden habe und sich daraus allein noch keine tragfähigen Schlüsse für das Verhalten des Beschwerdeführers in Freiheit ziehen ließen. Sodann weist es darauf hin, dass es entgegen der Einschätzung der Justizvollzugsanstalten noch keinen hinreichenden sozialen Empfangsraum sehe, es die Zukunftsvorstellungen des Beschwerdeführers weniger zukunftstragend als dieser bewerte, die bisherigen Entschädigungsleistungen keine ausreichende Wiedergutmachung darstellten und insbesondere bislang keine ausreichende Erprobung in der Vollzugslockerung stattgefunden habe.

Damit haben die Gerichte jedoch dem verfassungsrechtlichen Gebot, ihre Prognoseentscheidung auf eine möglichst breite Tatsachengrundlage zu stellen und alle prognoserelevanten Umstände sorgfältig zu klären, nicht hinreichend Rechnung getragen. Vielmehr hätte es hierzu aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalls einer Vernehmung der Anstaltspsychologin und des früheren Sozialarbeiters der Justizvollzugsanstalt T. bedurft. Insoweit kann auf die Erwägungen in dem Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juni 2020 im Verfahren 2 BvR 343/19 hinsichtlich der vormaligen Beschlüsse über die Reststrafenaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB verwiesen werden, die auch hier zutreffend sind. Es erscheint erneut zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Gerichte durch die Stellungnahmen der Anstaltspsychologin und des Sozialarbeiters weitere Erkenntnisse hätten gewinnen können, ob sich aufgrund des durchgeführten und als intensiv bewerteten Aufarbeitungsprozesses prognoserelevante Veränderungen in der Persönlichkeit des Beschwerdeführers ergeben haben. Die Vernehmung der Anstaltspsychologin und des Sozialarbeiters hätten weiteren Aufschluss über den Verlauf und das Ergebnis dieses Prozesses und die sich daraus ergebenden Rückwirkungen auf das Risiko der Begehung künftiger Straftaten durch den Beschwerdeführer geben können. Für einen positiven Einfluss der Behandlung spricht dabei auch die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt T., in der die Auseinandersetzung des Beschwerdeführers mit seinen pathogenen Persönlichkeitsanteilen und den Delikten positiv dargestellt und ihm im Ergebnis auch aufgrund des Verlaufs der Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt T. und der Straftatauseinandersetzung eine günstige Prognose gestellt wird.

Der Verweis insbesondere auf die während der Strafvollstreckung begangenen Taten genügt daher zur Begründung der negativen Legalprognose nicht, zumal der Beschwerdeführer sämtliche Straftaten während der Vollstreckung noch vor der Verlegung in die Justizvollzugsanstalt T. im August 2017 ausgeführt hat. Angesichts der nachfolgenden, unstreitig positiven Entwicklung hätte es den Gerichten oblegen, nachzufragen, ob ein Rückfall des Beschwerdeführers in frühere Verhaltensmuster weiterhin zu erwarten ist oder ob dem eine nachhaltig positive Veränderung seiner Persönlichkeit entgegensteht.

Hieran vermag auch die Feststellung des Kammergerichts, dass es sich den positiven Wertungen der Justizvollzugsanstalt teilweise nicht anschließe, nichts zu ändern. Denn die dementsprechenden Angaben insbesondere zur abweichenden Bewertung des sozialen Empfangsraums und zur anderweitigen Bewertung der Berufsplanung vermögen allein angesichts der unstreitig positiven Entwicklung des Beschwerdeführers eine negative Legalprognose nicht zu tragen. Das Gleiche gilt auch für die Frage der ausreichenden Schadenswiedergutmachung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die mit der abgeschlossenen psychotherapeutischen Behandlung von erheblichem Umfang – ausweislich der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt T. umfasste die Bearbeitung der Persönlichkeitsanteile 80 Stunden – erreichten Fortschritte für sich genommen eine positive Legalprognose zu stützen geeignet sind.

Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Lockerungserprobung des Beschwerdeführers und insbesondere der offene Vollzug im Zeitpunkt der angegriffenen Beschlüsse erst seit kurzem durchgeführt wurden. Zwar sehen beide Gerichte diese als unverzichtbare Voraussetzung einer Bewährungsaussetzung an. Auch insoweit haben sie aber dem Gebot bestmöglicher Sachverhaltsaufklärung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls nicht hinreichend Rechnung getragen. Die Gerichte lassen außer Betracht, dass nach dem Vortrag des Beschwerdeführers die Anstaltspsychologin hätte darlegen können, dass dieser während des Vollzugs in der Justizvollzugsanstalt T. täglich Situationen ausgesetzt gewesen sei, die zu einem früheren Zeitpunkt zu kriminellem Verhalten geführt hätten, und er aufgrund der erfolgreichen Behandlung nunmehr in der Lage sei, diesen Anreizen zu kriminellem Handeln zu widerstehen. Davon ausgehend hätte auf eine Vernehmung oder Stellungnahme der Anstaltspsychologin nicht verzichtet werden dürfen. Es erscheint angesichts des unstreitig positiven Verlaufs der Therapiegespräche nach der Verlegung des Beschwerdeführers nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Darstellung des Beschwerdeführers zutrifft. Wäre dies der Fall, käme eine positive Aussetzungsentscheidung auch ohne seine Erprobung in Lockerungsmaßnahmen möglicherweise in Betracht, zumal deren Unterbleiben von ihm nicht zu verantworten ist. Im Ergebnis fehlt es damit an der Ausschöpfung der Möglichkeiten zur Klärung aller prognoserelevanten Umstände in der Person des Beschwerdeführers.

Die Vernehmungen der entsprechenden Auskunftspersonen waren vorliegend auch nicht deshalb entbehrlich, weil unabhängig vom Ergebnis dieser Vernehmungen eine positive Prognose zugunsten des Beschwerdeführers sicher ausgeschlossen werden konnte.

Die Gerichte erkennen zwar, dass der Beschwerdeführer sich einer intensiven therapeutischen Behandlung unterzogen und diese nach Einschätzung der Therapeutin auch erfolgreich abgeschlossen habe. Dieser Umstand wird jedoch im Rahmen der Legalprognose nicht konkretisiert oder gewichtet, sondern bleibt letztlich außer Betracht. Stattdessen wird auf die Bedeutung eines schützenden Vollzugsumfelds und die zu kurze Erprobung in Lockerungen verwiesen. Dies vermag den Verzicht auf die gebotenen Vernehmungen nicht zu rechtfertigen.

Die negative Legalprognose zulasten des Beschwerdeführers beruht folglich erneut auf dem Verstoß gegen das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.