Mit deutlichen Worten hatte die ver.di-Betriebsgruppe an der Freien Universität (FU) Berlin der Hochschulleitung vorgeworfen, sich tarifwidrig und antidemokratisch zu verhalten und so den Aufstieg der AfD zu begünstigen. Daraufhin erteilte die Universität einem beteiligten Gewerkschafter – einem freigestellten Personalrat und Vorstandsmitglied der ver.di-Betriebsgruppe – eine förmliche Abmahnung. Zur Begründung warf der Arbeitgeber dem Mitarbeiter ehrverletzende Kritik und einen Verstoß gegen die arbeitsvertragliche Treue- und Loyalitätspflicht vor. Der Betroffene klagte auf Entfernung der Abmahnung aus seiner Personalakte.
Konkret warfen die Gewerkschafter der FU Berlin in einem Online-Aufruf Ende Januar 2024 unter anderem vor:
- geltende Tarifverträge nicht einzuhalten,
- Tätigkeiten niedriger Gehaltsgruppen (mit hohem Anteil migrantischer Beschäftigter) an externe Firmen auszugliedern,
- die Mitbestimmung der Beschäftigten und demokratische Prozesse im Betrieb zu behindern, und
- gewerkschaftliche Organisierung zu bekämpfen – womit die Universität nach Ansicht der Autoren den allgemeinen Rechtsruck in der Gesellschaft und den Aufstieg der AfD mitfördere.
Die Universitätsleitung reagierte im März 2024 mit Abmahnungen gegen die Verfasser des Aufrufs. Mehrere Mitglieder der Betriebsgruppe zogen daraufhin vor Gericht. In den meisten Fällen bekamen sie schon vor dem Arbeitsgericht Berlin Recht; nur in einem Fall – ausgerechnet bei dem klagenden Personalratsmitglied – hatte das Arbeitsgericht die Klage zunächst abgewiesen. Diese eine Abmahnung wurde nun in zweiter Instanz vom Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg kassiert: Die Hochschule muss die Abmahnung aus der Personalakte des Mitarbeiters entfernen. Das LAG hob damit die erstinstanzliche Entscheidung auf, welche die scharfe Kritik noch als zulässigen Abmahngrund bewertet hatte.
Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg
Das LAG Berlin-Brandenburg hat keine Verletzung der arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflicht erkennen können. Im Gegenteil stellte das Gericht fest, dass die kritisierten Missstände nicht frei erfunden waren. Die Vorwürfe trafen im Kern zu: Die FU Berlin hatte Reinigungsarbeiten tatsächlich an Fremdfirmen vergeben (mit entsprechend ungünstigeren Tarifbedingungen für die Beschäftigten), tarifliche Zuschläge teils nicht oder verspätet gezahlt und in einem gerichtlichen Verfahren sogar die Verletzung von Mitbestimmungsrechten des Personalrats eingestanden. Mit anderen Worten waren die beanstandeten Aussagen durch einen wahren Tatsachenkern gedeckt – eine wichtige Voraussetzung, damit heftige Kritik vom Arbeitgeber hingenommen werden muss.
Auch die pointierte Wortwahl in dem Aufruf überschritt nach Ansicht des LAG nicht die Grenze zur unzulässigen Schmähkritik. Zwar handelte es sich um polemisch zugespitzte Formulierungen, doch diese erfolgten nicht anlasslos und nicht mit dem Ziel einer persönlichen Kränkung einzelner Verantwortlicher. Eine derart sachbezogene und allgemein gehaltene Kritik fällt vielmehr unter den Schutz der freien Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz. Selbst deutliche Werturteile sind von diesem Grundrecht gedeckt, solange sie einen Sachbezug haben und nicht rein beleidigend wirken. So hat bereits das Bundesverfassungsgericht 2018 entschieden, dass etwa die Bezeichnung eines Vorgesetzten als „Ausbeuter“ noch keine ungeschützte Schmähkritik darstellt – ein vergleichbarer Grundsatz, den das LAG hier erneut betont hat.
Bedeutung für Arbeitnehmer
Das Urteil liefert wichtige Hinweise für Arbeitnehmer und ihre Rechte im Arbeitsverhältnis:
- Kritikrecht: Beschäftigte dürfen ihren Arbeitgeber – insbesondere im Rahmen gewerkschaftlicher Aktivitäten oder öffentlicher Debatten – auch in scharfen Worten kritisieren, wenn die Kritik auf Tatsachen beruht oder zumindest einen überprüfbaren Sachkern hat. Solche Meinungsäußerungen über betriebliche Missstände (z.B. Verstöße gegen Tarifverträge oder die Missachtung von Mitbestimmung) sind in der Regel vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt und rechtfertigen keine Abmahnung.
- Grenzen beachten: Beleidigende Angriffe ohne sachlichen Kern – sogenannte Schmähkritik – sind dagegen nicht geschützt. Arbeitnehmer sollten daher darauf achten, Kritik nicht in persönlich herabwürdigende Beschimpfungen abgleiten zu lassen. Unwahre Tatsachenbehauptungen oder reine Diffamierungen können sehr wohl arbeitsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
- Abmahnungen anfechten: Erhält ein Arbeitnehmer wegen kritischer Äußerungen eine Abmahnung, die er für ungerechtfertigt hält, sollte er diese nicht einfach hinnehmen. Eine Abmahnung bleibt in der Personalakte und kann künftige Karrierechancen beeinträchtigen (etwa wenn ein neuer Arbeitgeber Einblick in die Akte nimmt). Betroffene können vor dem Arbeitsgericht die Entfernung einer unberechtigten Abmahnung verlangen – so wie im vorliegenden Fall mit Erfolg geschehen.
Bedeutung für Arbeitgeber
Auch Arbeitgeber sollten die Lehren aus diesem Urteil berücksichtigen:
- Faktische Kritik tolerieren: Arbeitgeber müssen auch harte Kritik von Beschäftigten hinnehmen, solange diese auf konkreten Tatsachen oder zumindest nachvollziehbaren Umständen beruht. Wenn Mitarbeiter z.B. tatsächliche Vertragsverstöße oder Missstände anprangern, liegt darin in der Regel kein Loyalitätsverstoß – eine Abmahnung wäre hier unangebracht.
- Meinungsfreiheit respektieren: Selbst polemisch zugespitzte oder drastische Äußerungen von Arbeitnehmern sind zulässig, solange sie sachbezogen bleiben und nicht zur persönlichen Diffamierung entarten. Kritische Werturteile, die im Zusammenhang mit Arbeitsbedingungen oder Unternehmenspraktiken stehen, fallen unter die Meinungsfreiheit und dürfen nicht vorschnell sanktioniert
- Schmähkritik erkennen: Nur wenn eine Äußerung die Grenze zur Schmähkritik überschreitet – also allein auf die Herabwürdigung von Personen abzielt, ohne sachliche Auseinandersetzung – ist eine disziplinarische Reaktion wie eine Abmahnung rechtlich haltbar. Arbeitgeber sollten sorgfältig prüfen, ob eine Mitarbeiteräußerung wirklich diese Qualität erreicht, bevor sie zu Mitteln wie Abmahnungen greifen.
- Besonnen reagieren: Statt kritische Mitarbeiter sofort zu sanktionieren, ist es oft sinnvoller, das Gespräch zu suchen und auf die inhaltlichen Vorwürfe einzugehen. Ein überzogener Sanktionsreflex – wie hier die Abmahnungswelle gegen Gewerkschafter – kann nicht nur vor Gericht scheitern, sondern auch das Betriebsklima unnötig belasten.
Das Urteil des LAG Berlin-Brandenburg vom 02.07.2025 (Az. 23 SLa 94/25) unterstreicht eindrucksvoll, dass die Meinungsfreiheit auch im Arbeitsverhältnis gilt. Arbeitnehmer dürfen Missstände beim Namen nennen und auch pointiert anprangern, ohne gleich Repressalien befürchten zu müssen – vorausgesetzt, ihre Kritik basiert auf wahren Tatsachen oder berechtigten Werturteilen. Arbeitgeber wiederum sind gut beraten, berechtigte Kritik auszuhalten und zum Anlass für Verbesserungen zu nehmen, statt reflexhaft mit Abmahnungen zu reagieren. Dieses Gleichgewicht zwischen Loyalitätspflicht und Meinungsfreiheit gewährleistet eine offene und faire Diskussion im Betrieb, von der letztlich beide Seiten profitieren.