Abschluss des Übereinkommens von Istanbul seitens der EU

06. Oktober 2021 -

Die Verträge verbieten es dem Rat nicht, vor dem Erlass des Beschlusses über den Abschluss des Übereinkommens von Istanbul durch die Union die „einstimmige Entscheidung“ der Mitgliedstaaten abzuwarten; der Rat darf das Verfahren zum Abschluss dieses Übereinkommens aber nicht dadurch ändern, dass er dessen Abschluss von der vorherigen Feststellung einer solchen „einstimmigen Entscheidung“ abhängig macht.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 176/2021 vom 06.10.2021 ergibt sich:

Der Gerichtshof präzisiert die geeignete materielle Rechtsgrundlage für den Erlass des Rechtsakts des Rates über den Abschluss des Teils des Übereinkommens von Istanbul, der Gegenstand der geplanten Übereinkunft ist; dieser Rechtsakt kann in zwei gesonderte Beschlüsse aufgespalten werden, wenn dafür eine objektive Notwendigkeit besteht.

Das Übereinkommen von Istanbul zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (angenommen am 7. April 2011 – im Folgenden: Übereinkommen von Istanbul) fällt zum Teil in die Zuständigkeit der Europäischen Union und zum Teil in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Es wird daher eine gemischte, sowohl von der Union als auch von den Mitgliedstaaten zu schließende Übereinkunft sein. In dem von der Kommission angenommenen Vorschlag für einen Beschluss über die Unterzeichnung des Übereinkommens im Namen der Union waren Art. 82 Abs. 2 und Art. 84 AEUV als materielle Rechtsgrundlage angegeben. Da dieser Vorschlag im Rat der Europäischen Union keine hinreichende Unterstützung erhielt, wurde beschlossen, die Unterzeichnung des Übereinkommens auf die Bereiche zu beschränken, die nach den Feststellungen des Rates in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen. Der Rat ersetzte daher die oben genannte materielle Rechtsgrundlage durch Art. 78 Abs. 2, Art. 82 Abs. 2 und Art. 83 Abs. 1 AEUV. Überdies wurde, um der besonderen Situation Irlands im Hinblick auf das Protokoll Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, das dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügt ist (im Folgenden: Protokoll Nr. 21) Rechnung zu tragen, die Entscheidung über die Unterzeichnung in zwei gesonderte Beschlüsse aufgespalten.
Diese beiden Beschlüsse betreffen die Unterzeichnung des Übereinkommens von Istanbul in Bezug auf Aspekte, die die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen betreffen (Beschluss (EU) 2017/865 des Rates vom 11. Mai 2017 über die Unterzeichnung – im Namen der Europäischen Union – des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt in Bezug auf Aspekte, die die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen betreffen – ABl. 2017, L 131, S. 11), sowie in Bezug auf Asyl und das Verbot der Zurückweisung (Beschluss (EU) 2017/866 des Rates vom 11. Mai 2017 über die Unterzeichnung – im Namen der Europäischen Union – des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt in Bezug auf Asyl und das Verbot der Zurückweisung – ABl. 2017, L 131, S. 13). Im Einklang mit diesen beiden Beschlüssen wurde das Übereinkommen von Istanbul am 13. Juni 2017 im Namen der Union unterzeichnet. Bisher hat der Rat jedoch keinen Beschluss über den Abschluss dieses Übereinkommens durch die Union erlassen, da er die Annahme eines solchen Beschlusses offenbar von einer vorherigen „einstimmigen Entscheidung“ aller Mitgliedstaaten abhängig macht, in den in ihre Zuständigkeit fallenden Bereichen an das Übereinkommen gebunden zu sein.

Am 9. Juli 2019 ersuchte das Europäische Parlament den Gerichtshof um ein Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV über den Abschluss des Übereinkommens von Istanbul durch die Union.

Mit seiner ersten Frage möchte das Parlament wissen, was die geeigneten Rechtsgrundlagen für den Rechtsakt des Rates über den Abschluss des Übereinkommens sind und ob sowohl der Rechtsakt über die Unterzeichnung des Übereinkommens als auch der Rechtsakt über dessen Abschluss in zwei gesonderte Beschlüsse aufgespalten werden müssen oder können. Mit seiner zweiten Frage möchte das Parlament wissen, ob die Verträge es dem Rat erlauben oder ihn zwingen, vor dem Abschluss des Übereinkommens von Istanbul im Namen der Union die „einstimmige Entscheidung“ der Mitgliedstaaten abzuwarten, in den in ihre Zuständigkeit fallenden Bereichen an das Übereinkommen gebunden zu sein.

In ihrem Gutachten beantwortet die Große Kammer des Gerichtshofs die Fragen des Parlaments wie folgt:

Erstens verbieten die Verträge – unter dem Vorbehalt, dass die in Art. 218 Abs. 2, 6 und 8 AEUV vorgesehenen Anforderungen jederzeit in vollem Umfang beachtet werden – es dem Rat nicht, im Einklang mit seiner Geschäftsordnung vor dem Erlass des Beschlusses über den Abschluss des Übereinkommens von Istanbul durch die Union die „einstimmige Entscheidung“ der Mitgliedstaaten abzuwarten. Sie verbieten es ihm hingegen, dem in diesem Artikel vorgesehenen Abschlussverfahren einen weiteren Schritt hinzuzufügen, indem der Erlass des Beschlusses über den Abschluss des Übereinkommens von der vorherigen Feststellung einer solchen „einstimmigen Entscheidung“ abhängig gemacht wird.

Zweitens besteht die geeignete materielle Rechtsgrundlage für den Erlass des Rechtsakts des Rates über den Abschluss des Teils des Übereinkommens von Istanbul, der Gegenstand der geplanten Übereinkunft ist, durch die Union aus Art. 78 Abs. 2, Art. 82 Abs. 2 sowie den Art. 84 und 336 AEUV.

Drittens rechtfertigen das Protokoll Nr. 21 und das Protokoll Nr. 22 über die Position Dänemarks, das dem EU-Vertrag und dem AEU-Vertrag beigefügt ist (im Folgenden: Protokoll Nr. 22) eine Aufspaltung des Rechtsakts über den Abschluss des Übereinkommens in zwei gesonderte Beschlüsse nur, soweit eine solche Aufteilung dem Umstand Rechnung tragen soll, dass sich Irland oder das Königreich Dänemark nicht an den Maßnahmen zum Abschluss der geplanten Übereinkunft, die in den Anwendungsbereich dieser Protokolle fallen, in ihrer Gesamtheit beteiligt.

Würdigung durch den Gerichtshof

Zur Zulässigkeit des Gutachtenantrags

Das Gutachtenverfahren soll Komplikationen verhindern, die entstehen könnten, wenn die Vereinbarkeit internationaler Übereinkünfte, die die Union verpflichten, mit den Verträgen vor Gericht bestritten würde. Angesichts dieser Zielsetzung stellt der Gerichtshof fest, dass der Gutachtenantrag zulässig ist, mit Ausnahme des zweiten Teils der ersten Frage, soweit es um die Aufspaltung des Rechtsakts über die Unterzeichnung in zwei Beschlüsse geht. Da das Übereinkommen von Istanbul von der Union über zwei Jahre vor der Einreichung des Gutachtenantrags unterzeichnet wurde, ließe sich der mit Art. 218 Abs. 11 AEUV verfolgte Präventionszweck nämlich nicht mehr erreichen. Überdies hätte das Parlament die Unterzeichnungsbeschlüsse mit einer Nichtigkeitsklage anfechten können.

Zur Praxis der „einstimmigen Entscheidung“

Zur Praxis, die „einstimmige Entscheidung“ der Mitgliedstaaten abzuwarten, an eine gemischte Übereinkunft gebunden zu sein, führt der Gerichtshof aus, dass die Verträge es dem Rat verbieten, die Einleitung des Verfahrens zum Abschluss eines Übereinkommens von der vorherigen Feststellung einer solchen „einstimmigen Entscheidung“ abhängig zu machen. Sofern diese Praxis eine solche Tragweite hätte, würde mit ihr nämlich ein hybrider Entscheidungsprozess eingeführt, so dass die Möglichkeit der Union, eine gemischte Übereinkunft zu schließen, völlig davon abhinge, ob jeder der Mitgliedstaaten in den Bereichen, die in ihre Zuständigkeit fallen, bereit ist, an eine solche Übereinkunft gebunden zu sein. Ein solcher hybrider Entscheidungsprozess ist aber mit Art. 218 Abs. 2, 6 und 8 AEUV unvereinbar, wonach der Rat mit qualifizierter Mehrheit über den Abschluss einer internationalen Übereinkunft entscheidet.

Innerhalb der Grenzen des in diesen Bestimmungen vorgesehenen Verfahrens steht es allerdings im politischen Ermessen des Rates, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang er dem Vorschlag für den Abschluss einer internationalen Übereinkunft nachkommt und welcher Zeitpunkt ihm für den Erlass eines solchen Beschlusses geeignet erscheint. Somit ist der Rat durch nichts daran gehindert, seine internen Aussprachen zu verlängern, um eine engere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Unionsorganen im Prozess des Abschlusses zu erreichen; dies kann damit verbunden sein, die „einstimmige Entscheidung“ der Mitgliedstaaten abzuwarten.

Von diesem politischen Ermessen wird jedoch grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit Gebrauch gemacht, so dass eine solche Mehrheit im Rat jederzeit und nach den in seiner Geschäftsordnung vorgesehenen Regeln die Beendigung der Aussprachen und den Erlass des Beschlusses über den Abschluss der internationalen Übereinkunft herbeiführen kann.

Zu den geeigneten Rechtsgrundlagen für den Abschluss des Übereinkommens von Istanbul

Im Rahmen der die Rechtsgrundlagen betreffenden Frage befasst sich der Gerichtshof zunächst mit Gegenstand und Umfang seiner Prüfung. Der Beschluss über den Abschluss des Übereinkommens von Istanbul muss vom Rat mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Parlaments erlassen werden, so dass es diesen Organen obliegt, in den Grenzen der gestellten Frage nähere Erläuterungen zu den Umrissen der „geplanten Übereinkunft“ im Sinne von Art. 218 Abs. 11 AEUV zu geben. Der Gerichtshof beschränkt daher seine Prüfung auf die Teile des Übereinkommens von Istanbul, die nach dem Wortlaut der Frage und dem Inhalt der Unterzeichnungsbeschlüsse Gegenstand des Rechtsakts über den Abschluss des Übereinkommens sein sollen. Dabei geht er von der Prämisse aus, dass dieser Rechtsakt diejenigen Bestimmungen des Übereinkommens von Istanbul betreffen wird, die einen Zusammenhang mit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, Asyl und dem Verbot der Zurückweisung sowie den Verpflichtungen der Organe und der öffentlichen Verwaltung der Union aufweisen, soweit diese Bestimmungen in die Zuständigkeit der Union fallen.

Erstens stellt der Gerichtshof hinsichtlich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen fest, dass angesichts von Zahl und Tragweite der Bestimmungen des Übereinkommens von Istanbul, die unter die der Union durch Art. 82 Abs. 2 (nach dieser Bestimmung kann die Union Mindestvorschriften u. a. über die Zulässigkeit von Beweismitteln in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten, die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren und die Rechte der Opfer von Straftaten erlassen) und Art. 84 AEUV (nach dieser Bestimmung kann die Union im Bereich der Kriminalprävention Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung des Vorgehens der Mitgliedstaaten treffen) verliehene Zuständigkeit fallen, davon auszugehen ist, dass diese Bestimmungen zu den Rechtsgrundlagen des Rechtsakts über den Abschluss des Übereinkommens gehören müssten. Dagegen sind die im Übereinkommen enthaltenen Verpflichtungen in dem von Art. 83 Abs. 1 AEUV (diese Bestimmung verleiht der Union u. a. im Bereich des Menschenhandels und der sexuellen Ausbeutung von Frauen und Kindern die Zuständigkeit für die Schaffung von Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen) erfassten Bereich für die Union von äußerst begrenzter Tragweite, so dass der Rechtsakt über den Abschluss des Übereinkommens nicht auf diese Bestimmung gestützt werden kann.

Zweitens enthält das Übereinkommen von Istanbul zwar nur drei Artikel zum Asyl und zum Verbot der Zurückweisung, doch sie bilden ein eigenes Kapitel, das weder nebensächlich noch von äußerst begrenzter Tragweite ist, so dass Art. 78 Abs. 2 AEUV (diese Bestimmung betrifft die Zuständigkeiten der Union im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz) zur materiellen Rechtsgrundlage des Rechtsakts über den Abschluss des Übereinkommens gehören müsste.

Drittens müsste die Union hinsichtlich ihrer öffentlichen Verwaltung die vollständige Einhaltung der im Übereinkommen vorgesehenen, unter Art. 336 AEUV (er betrifft das Statut der Beamten der Union und die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Union) fallenden Verpflichtungen gewährleisten, so dass auch diese Bestimmung zu den Rechtsgrundlagen gehören müsste.

Zur Aufspaltung des Rechtsakts über den Abschluss des Übereinkommens von Istanbul in zwei gesonderte Beschlüsse

Die Frage nach der Aufspaltung des Rechtsakts über den Abschluss des Übereinkommens in zwei Beschlüsse steht aufgrund der als Rechtsgrundlagen für dessen Abschluss ermittelten Bestimmungen des Dritten Teils von Titel V des AEU-Vertrags im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit des Protokolls Nr. 21 in Bezug auf Irland. Grundsätzlich beteiligt sich Irland nicht an der Annahme von Maßnahmen durch den Rat, die unter diesen Teil fallen, es sei denn, Irland teilt mit, dass es sich daran beteiligen möchte. Auf der Grundlage dieses Protokolls möchte Irland sich nicht am Abschluss des Asyl und das Verbot der Zurückweisung betreffenden Teils des Übereinkommens von Istanbul durch die Union beteiligen, wohl aber am Abschluss seiner übrigen Teile.

Eine selektive Beteiligung an einer vom Protokoll Nr. 21 erfassten Maßnahme ist aber ausgeschlossen. Desgleichen lässt das Protokoll es nicht zu, den Rechtsakt über den Abschluss der geplanten Übereinkunft in zwei Beschlüsse aufzuspalten, um es Irland zu ermöglichen, sich am Erlass eines von ihnen, nicht aber am Erlass des anderen zu beteiligen, obwohl jeder dieser Beschlüsse Maßnahmen betreffen würde, die unter den Dritten Teil von Titel V des AEU-Vertrags fallen.

Wenn feststeht, dass für den Rechtsakt über den Abschluss einer internationalen Übereinkunft verschiedene Rechtsgrundlagen gelten, kann allerdings eine objektive Notwendigkeit zur Aufspaltung dieses Rechtsakts in mehrere Beschlüsse bestehen. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn mit einer solchen Aufspaltung dem Umstand Rechnung getragen werden soll, dass sich Irland oder das Königreich Dänemark nicht an den geplanten Maßnahmen für den Abschluss einer internationalen Übereinkunft, die in den Anwendungsbereich des Protokolls Nr. 21 oder des Protokolls Nr. 22 fallen, beteiligt, während andere geplante Maßnahmen für den Abschluss der Übereinkunft nicht in dessen Anwendungsbereich fallen. Im vorliegenden Fall befindet sich unter den Bestandteilen der materiellen Rechtsgrundlage des Rechtsakts über den Abschluss der geplanten Übereinkunft Art. 336 AEUV, der nicht in den Anwendungsbereich der Protokolle Nr. 21 und Nr. 22 fällt, so dass eine objektive Notwendigkeit zur Aufspaltung des Rechtsakts über den Abschluss des Übereinkommens von Istanbul bestehen kann.