Ein aktueller Beschluss des Anwaltsgerichtshofs Nordrhein-Westfalen (AGH NRW) zeigt, dass auch bei Einstellung eines anwaltsgerichtlichen Verfahrens wegen einer anderweitig verhängten Strafe eine Kostenauferlegung zu Lasten des betroffenen Anwalts möglich ist. Wurde ein Anwalt bereits strafrechtlich für ein Fehlverhalten bestraft, kann ein anschließendes berufsrechtliches Verfahren zwar ohne weitere Sanktion eingestellt werden – der Anwalt bleibt in einem solchen Fall aber unter Umständen auf seinen eigenen Verfahrenskosten sitzen. Im entschiedenen Fall beleidigte ein Rechtsanwalt während der Corona-Pandemie zwei Tankstellenmitarbeiterinnen als „Tussis“ und wurde dafür strafgerichtlich zu einer Geldstrafe von 3.000 € verurteilt. Dennoch wurde gegen ihn ein anwaltsgerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet, das schließlich unter Verzicht auf eine berufsrechtliche Ahndung eingestellt wurde. Der Clou: Trotz Einstellung des Verfahrens musste der Anwalt seine notwendigen Auslagen selbst tragen – der AGH befand die Kostenentscheidung zu seinen Lasten für rechtmäßig.
Sachverhalt: Beleidigung, Strafurteil und berufsrechtliches Verfahren
Im Dezember 2022 hatte das Amtsgericht Duisburg den betreffenden Rechtsanwalt wegen Beleidigung (§ 185 StGB) rechtskräftig zu 30 Tagessätzen à 100 € (insgesamt 3.000 €) verurteilt. Der Anwalt hatte in einer Tankstelle zwei Angestellte, die ihn auf die Maskenpflicht hinwiesen, als „Tussis“ beschimpft – ein Verstoß gegen das strafrechtliche Beleidigungsverbot und zugleich gegen das anwaltliche Sachlichkeitsgebot (§ 43a Abs. 3 S. 2 BRAO). Ungeachtet der bereits erfolgten Strafverurteilung leitete die Generalstaatsanwaltschaft bei dem zuständigen Anwaltsgericht Düsseldorf ein anwaltsgerichtliches Verfahren wegen desselben Vorfalls ein. In der Hauptverhandlung am 02.12.2024 stellte das Anwaltsgericht das Verfahren jedoch auf Grundlage von § 139 Abs. 3 Nr. 2 BRAO ein und sah von einer berufsrechtlichen Ahndung ab, weil der Anwalt für den gleichen Sachverhalt bereits strafrechtlich bestraft worden war. Diese Vorschrift ermöglicht es, ein Berufsverfahren einzustellen, wenn wegen der Tat anderweitig – etwa strafrechtlich – eine Sanktion verhängt wurde (§ 115b S. 1 Nr. 1 BRAO).
Trotz des Verzichts auf weitere berufsrechtliche Maßnahmen entschied das Anwaltsgericht Düsseldorf über die Verfahrenskosten zu Ungunsten des Anwalts: Die Gerichtskosten wurden der Rechtsanwaltskammer auferlegt, wohingegen der Anwalt seine notwendigen Auslagen (insbesondere die eigenen Anwaltskosten) selbst tragen musste. Diese Kostenentscheidung basierte auf § 197 Abs. 1 S. 3 BRAO, der es im Fall einer Einstellung nach § 139 Abs. 3 Nr. 2 BRAO erlaubt, dem Beschuldigten die Kosten ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn dies angemessen erscheint. Der Anwalt legte gegen die Kostenauferlegung sofortige Beschwerde zum AGH NRW ein, hatte damit aber keinen Erfolg – der AGH bestätigte mit Beschluss vom 05.09.2025 die Entscheidung des Anwaltsgerichts.
Rechtlicher Rahmen: Keine doppelte Ahndung, aber Ausnahmen möglich
Der Fall bewegt sich im Spannungsfeld von § 115b BRAO (“Anderweitige Ahndung”) und § 197 BRAO (“Kostenpflicht des Mitglieds”). Grundsätzlich gilt: Hat ein Rechtsanwalt für ein bestimmtes Verhalten bereits eine Strafe oder Maßnahme von staatlicher Seite erhalten, ist von einer anwaltsgerichtlichen Ahndung abzusehen (§ 115b S. 1 Nr. 1 BRAO). Diese Regel soll eine doppelte Bestrafung desselben Verhaltens verhindern. Allerdings kennt § 115b BRAO auch eine wichtige Einschränkung: Satz 2 der Vorschrift bestimmt, dass von diesem Absehen ausnahmsweise abzuweichen ist, wenn dennoch eine anwaltsgerichtliche Maßnahme erforderlich ist, um den Anwalt zur Erfüllung seiner Berufspflichten anzuhalten. Mit anderen Worten: Trotz einer strafrechtlichen Sanktion darf die Anwaltsgerichtsbarkeit einschreiten, falls zusätzliche berufsrechtliche Konsequenzen nötig erscheinen, um künftiges Fehlverhalten des Anwalts zu verhindern.
Ob eine solche zusätzliche Maßnahme im Einzelfall erforderlich ist, muss das Anwaltsgericht beurteilen. Diese Beurteilung erfolgt typischerweise im Rahmen der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens (§§ 203 StPO, 131 BRAO). Die Hürde für die Verfahrenseröffnung im anwaltlichen Disziplinarrecht ist nicht nur ein hinreichender Tatverdacht hinsichtlich einer Berufspflichtverletzung, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, dass eine anwaltsgerichtliche Maßnahme bedarfsgerecht ist. Hier fließt § 115b BRAO in die Prognose ein: Ist wegen der Tat bereits eine Strafe verhängt worden, dürfte nur dann ein berufsrechtliches Einschreiten angezeigt sein, wenn besondere Umstände (etwa Wiederholungstäterschaft, Uneinsichtigkeit oder ein Vertrauensschaden) vorliegen, die eine zusätzliche berufsrechtliche Sanktion als notwendig erscheinen lassen.
Wird ein anwaltsgerichtliches Verfahren gemäß § 139 Abs. 3 Nr. 2 BRAO eingestellt, so regelt § 197 Abs. 1 S. 3 BRAO, dass das Gericht dem betroffenen Mitglied die entstandenen Verfahrenskosten auferlegen kann, wenn es dies für angemessen hält. Eine solche Kostenauferlegung ist keine Seltenheit oder “Strafaktion”, sondern vom Gesetzgeber gerade für den Fall einer Einstellung wegen anderweitiger Ahndung vorgesehen, sofern ein triftiger Grund vorliegt. Die Gesetzesmaterialien heben hervor, dass insbesondere Fälle erfasst werden sollen, in denen sich erst in der Hauptverhandlung klärt, ob § 115b BRAO greift. Genau dieser Fall lag hier vor.
Entscheidungsgründe des AGH: Angemessenheit der Kostenauferlegung
Der beschuldigte Anwalt argumentierte im Beschwerdeverfahren, die Kostenbelastung sei unangemessen. Seiner Ansicht nach hätte das Verfahren gar nicht eröffnet werden dürfen, da seine Strafverurteilung wegen der „Tussis“-Beleidigung von Anfang an bekannt war. Somit hätten bereits vor Eröffnung die Voraussetzungen des § 115b BRAO vorgelegen – ein anwaltsgerichtliches Vorgehen wäre überflüssig gewesen und ihm wären keine Auslagen entstanden. Die Auferlegung seiner notwendigen Auslagen empfinde er daher als unbillige Ausnahmeentscheidung.
Der AGH NRW folgte dieser Argumentation nicht. Er stellte zunächst klar, dass § 197 Abs. 1 S. 3 BRAO gerade auch bei Einstellungen nach § 115b BRAO zur Anwendung kommt und kein bloßer Ausnahmefall ist. Das Gericht kann in diesen Fällen dem Anwalt die Kosten auferlegen, sofern es die Kostenlast im Einzelfall für angemessen hält. Eine Kostenentscheidung zu Lasten des Anwalts ist also insbesondere dann gerechtfertigt, wenn es triftige Gründe dafür gibt – zum Beispiel, wenn die Durchführung der Hauptverhandlung zunächst berechtigt war und die Einstellung erst aufgrund von Erkenntnissen in der Verhandlung erfolgte. Entgegen der Ansicht des Anwalts war hier die Einstellung nach § 115b BRAO nicht „offensichtlich“ von vornherein geboten. Zwar schreibt § 115b S. 1 Nr. 1 BRAO vor, bei einer bereits erfolgten Bestrafung grundsätzlich von einer berufsrechtlichen Ahndung abzusehen. Doch § 115b S. 2 BRAO enthält ausdrücklich die erwähnte Ausnahme: Falls eine zusätzliche berufsgerichtliche Maßnahme erforderlich erscheint, darf diese auch zusätzlich verhängt werden. Ob eine solche zusätzliche Maßnahme im konkreten Fall nötig war, musste vom Anwaltsgericht geprüft werden – und zwar im Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung.
Wiederholtes Fehlverhalten als triftiger Grund
Der AGH betonte, dass es bei Eröffnung des Disziplinarverfahrens durchaus hinreichend wahrscheinlich war, dass hier eine ergänzende berufsrechtliche Sanktion erforderlich sein könnte. Der Anwalt war den Gerichten nämlich bereits einschlägig bekannt: Schon zuvor hatte er durch unsachliches Verhalten auf sich aufmerksam gemacht. Zu Recht, so der AGH, habe das Anwaltsgericht Düsseldorf bei seiner Prognose berücksichtigt, dass der Anwalt wiederholt gegen das Sachlichkeitsgebot verstoßen hatte. Konkret verwies der AGH auf ein Parallelverfahren: Im März 2025 – also kurz nach Eröffnung des hiesigen Verfahrens – war der Anwalt von derselben Kammer des Anwaltsgerichts in einem anderen Fall zu einem Verweis und einer Geldbuße von 250 € verurteilt worden, weil er eine Mandantin in einer E-Mail als „dreckige Lügnerin“ bezeichnet hatte. Zwar war dieses zweite Urteil zum Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung im August 2024 noch nicht rechtskräftig, dennoch durfte das Anwaltsgericht den dort festgestellten Sachverhalt indiziell heranziehen. Entscheidend war nämlich, dass sich aus dem Verhalten des Anwalts ein gewisses Persönlichkeitsbild ergab: Die Vorfälle ließen eine „gewisse Neigung zu unsachlichem Verhalten“ erkennen.
Nach ständiger Rechtsprechung kann gerade bei außerdienstlichen Verfehlungen (wie Beleidigungen im Privatbereich) eine zusätzliche berufsrechtliche Ahndung geboten sein, wenn das Fehlverhalten auf einer grundlegenden Haltung des Anwalts beruht und Zweifel an seiner charakterlichen Eignung oder seinem Pflichtverständnis weckt. Genau das war hier zunächst zu befürchten – der Anwalt zeigte sich als Wiederholungstäter in Sachen beleidigender Sprachgebrauch. Damit bestand aus Sicht der Kammer ein ausreichender Anlass, trotz der strafgerichtlichen Sanktion eine berufsrechtliche Pflichtenmahnung in Betracht zu ziehen. Die Eröffnung der Hauptverhandlung im berufsrechtlichen Verfahren war folglich nicht zu beanstanden, sondern sachlich gerechtfertigt.
Einstellung erst in der Hauptverhandlung – Kosten trägt der Anwalt
Erst im Laufe der Beweisaufnahme und Würdigung in der Hauptverhandlung ergaben sich entlastende Umstände, die das Anwaltsgericht dazu bewogen, von einer weiteren Sanktion abzusehen. Das Anwaltsgericht wertete die Eskalation in der Tankstelle als eine „pandemiebedingte menschliche Ausnahmesituation“, in der der Anwalt sich zu der Entgleisung hinreißen ließ. Diese Einschätzung – dass es sich also um einen einmaligen Ausrutscher unter besonderen Umständen handelte und nicht um einen Ausdruck der persönlichen Grundeinstellung des Anwalts – ergab sich erst durch die Hauptverhandlung.
Damit war jedoch rückblickend klar, dass die Durchführung der Verhandlung anfangs gerechtfertigt war: Ohne Hauptverhandlung hätten die entlastenden Aspekte nicht festgestellt werden können. Folglich, so der AGH, war es angemessen, dem Anwalt zumindest seine eigenen Auslagen aufzuerlegen. Die Kostenentscheidung wurde gerade mit diesem Ablauf begründet: Weil die Eröffnung der Verhandlung sich ex post als zulässig und verständlich erwies und der Einstellungsgrund erst spät zutage trat, erscheint es billig, den Anwalt nicht gänzlich von den Kosten zu verschonen. Zwar musste der Anwalt keine Gerichtskosten tragen (diese wurden der Kammer auferlegt), aber seine Verteidigerhonorare und sonstigen notwendigen Auslagen blieben bei ihm – eine Konsequenz seines eigenen Verhaltens, das die berufsrechtliche Untersuchung überhaupt erforderlich gemacht hatte.
Praxishinweise
Der Beschluss des AGH Nordrhein-Westfalen verdeutlicht, dass Anwälte bei berufsrechtlichen Verfahren im Lichte von § 115b BRAO nicht vorschnell auf Kostenfreiheit vertrauen dürfen, nur weil bereits eine staatliche Strafe verhängt wurde. Für die Praxis bedeutet dies:
- Wiederholte Pflichtverstöße erhöhen das Risiko einer zusätzlichen berufsrechtlichen Maßnahme trotz bereits erfolgter Bestrafung. Anwältinnen und Anwälte, die bereits einschlägig aufgefallen sind, können nicht darauf bauen, dass ein neues Verfahren automatisch ohne Sanktion (und ohne Kosten) eingestellt wird. Im Gegenteil – vorheriges Fehlverhalten kann ein triftiger Grund sein, ein Verfahren zu eröffnen und den Ausgang im Hauptverfahren abzuwarten.
- Kostenentscheidungen nach Verfahrenseinstellungen sind Ermessensentscheidungen nach Billigkeitsgesichtspunkten. Wird das Verfahren letztlich eingestellt, weil eine weitere Ahndung nach § 115b BRAO nicht erforderlich war, trägt in vielen Fällen die Anwaltschaft die Gerichtskosten. Der betroffene Anwalt muss aber damit rechnen, zumindest seine notwendigen Auslagen selbst tragen zu müssen, wenn die Verfahrenseinleitung ursprünglich gerechtfertigt war. Die Kostenauferlegung ist dann keine Bestrafung, sondern spiegelt wider, dass das Verfahren nur wegen seines (wiederholten) Fehlverhaltens nötig wurde.
- Verteidigungsstrategie: Ein beschuldigter Anwalt sollte frühzeitig darauf hinwirken, dass § 115b BRAO berücksichtigt wird. Ist die Sachlage eindeutig von der anderweitigen Ahndung geprägt, kann ggf. schon im Ermittlungsverfahren oder mit Stellungnahme zur Anschuldigungsschrift darauf gedrungen werden, das Verfahren gar nicht erst zu eröffnen. Lässt sich die Erforderlichkeit einer berufsrechtlichen Maßnahme jedoch nicht ausräumen – etwa aufgrund weiterer Pflichtverletzungen – muss der Anwalt wissen, dass er im Falle der (dann späten) Einstellung die Kosten seines Rechtsbeistands selbst tragen wird.
Abschließend hält der AGH NRW fest, dass die hier vorgenommene Kostenauferlegung weder willkürlich noch ungewöhnlich war, sondern dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung entspricht. War die Hauptverhandlung zu Recht eröffnet und führt erst ihr Verlauf zur Einstellung des Verfahrens, liegt ein “triftiger Grund” vor, dem Anwalt seine eigenen Auslagen aufzuerlegen. Das Urteil schärft somit das Bewusstsein dafür, dass berufsrechtliche Verfahren – selbst wenn sie ohne Sanktion enden – finanzielle Folgen für den betroffenen Anwalt nach sich ziehen können, sofern das Vorgehen der Gerichte nachvollziehbar und angemessen war. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sollten daher ihr berufliches Verhalten auch außerhalb des Kernmandats im Griff haben, um gar nicht erst in eine solche Lage zu geraten.