Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung endet bei Absinken unter den Schwellenwert

12. Januar 2022 -

Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit Beschluss vom 31.08.2021 zum Aktenzeichen­ 4 TaBV 19/21 entschieden, dass die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung endet, wenn der Schwellenwert gemäß § 177 Abs. 1SGB IX unterschritten wird.

Durch das Absinken der Anzahl der schwerbehinderten Beschäftigten und diesen Gleichgestellten unter den Schwellenwert von fünf endet die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung.

Eine ausdrückliche Regelung für den Fall, dass die Zahl der schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten behinderten Beschäftigten im Betrieb oder der Dienststelle auf unter fünf sinkt, ist im Gesetz nicht enthalten.

Nach § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX werden in Betrieben und Dienststellen, in denen wenigstens fünf schwerbehinderte Menschen nicht nur vorübergehend beschäftigt sind, eine Vertrauensperson und wenigstens ein stellvertretendes Mitglied gewählt, das die Vertrauensperson im Falle der Verhinderung vertritt.

Das vorzeitige Erlöschen des Amtes ist in § 177 Abs. 7 SGB IX geregelt. Nach § 177 Abs. 7 S. 3 SGB IX erlischt das Amt vorzeitig, wenn die Vertrauensperson es niederlegt, aus dem Arbeits-, Dienst- oder Richterverhältnis ausscheidet oder die Wählbarkeit verliert.

In § 177 Abs. 7 SGB IX werden Umstände geregelt, die sich auf das Mandat der Vertrauensperson als solches beziehen und nicht auf das Gremium.

In der Literatur werden unterschiedliche Auffassungen veröffentlicht.

Einerseits wird vertreten, dass mit Absinken unter den Schwellenwert zugleich das Organ der Schwerbehindertenvertretung untergehe (Trenk-Hinterberger, in Lachwitz/Schellhorn/Welti, SGB IX, 3. Aufl. 2010, § 94 Rz 39).

Andererseits wird vertreten, dass das Absinken der Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten unter fünf zu keiner vorzeitigen Beendigung der Amtszeit führe (Esser/Isenhardt in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 177 SGB IX [Stand: 11.02.2021], Rn. 38; BeckOK SozR/Brose, 61. Ed. 1.6.2021, SGB IX § 177 Rn. 33, NPGWJ/Pahlen, 14. Aufl. 2020, SGB IX § 177 Rn. 4; zum Meinungsstand Mushoff in: Hauck/Noftz, SGB, 12/18, § 177 SGB IX, Rn. 68).

Für den Fall, dass die Zahl der Beschäftigten insgesamt voraussichtlich dauerhaft auf unter fünf Personen sinkt, hat das LAG Niedersachsen mit Beschluss vom 20.8.2008 – 15 TaBV 145/07 – entschieden, dass die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung ende.

Die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung endet bei Absinken der Anzahl der schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten Beschäftigten im Betrieb auf unter fünf. Die Grundsätze für das Ende der Amtszeit des Betriebsrats aus dem Betriebsverfassungsrecht sind auf die Schwerbehindertenvertretung zu übertragen.

Nach allgemeiner Auffassung endet das Amt des Betriebsrats, wenn die Zahl der in der Regel ständig beschäftigten wahlberechtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur vorübergehend die vorgeschriebene Mindestanzahl von fünf Arbeitnehmern unterschreitet und deshalb der Betrieb nicht mehr betriebsratsfähig ist (BAG vom 07.04.2004 – 7 ABR 41/03 – Rn 17, juris; LAG Schleswig-Holstein vom 27. März 2012 – 1 TaBV 12 b/11 – Rn. 26, juris; LAG Baden-Württemberg vom 21.07.1954 – II Sa 84/54; Fitting, § 21, Rn 31 sowie § 1, Rn 269; Hess-Schlochauer, § 21, Rn 21; GK-Kreutz, § 21, Rn 37; ErfK-Koch, § 21, Rn 4; GK-Franzen, § 1 Rn 102; Däubler/Kittner/Buschmann, § 21, Rn 29, Richardi/Thüsing, § 21, Rn 23).

Obwohl § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG seinem Wortlaut nach nur Regelungen über die Wahl von Betriebsräten beinhaltet, legt der Gesetzgeber damit zugleich die Mindestbeschäftigtenzahl eines Betriebes fest, ab der ein Betriebsrat bestehen kann. Die Betriebsratsfähigkeit ist nicht bloß eine Voraussetzung für die Wahl des Betriebsrats, sondern bestimmt gleichzeitig den Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes und die damit verbundenen Rechte und Pflichten. Sinkt die Zahl der wahlberechtigten Beschäftigten unter fünf, führt dies zur sofortigen Beendigung des Betriebsratsamtes. Bestätigt wird diese Auffassung mittelbar durch § 21 a BetrVG, denn bei einer Betriebsspaltung hat der Betriebsrat kein Übergangsmandat, wenn der aus der Betriebsspaltung hervorgegangene Betrieb nicht über die in § 1 BetrVG genannte Arbeitnehmerzahl verfügt.

Der Grundsatz ist auf das Schwerbehindertenrecht zu übertragen. Dies ergibt sich aus der Auslegung.

Der Wortlaut von § 1 BetrVG und von § 177 SGB IX spricht nicht gegen eine Übertragung des Grundsatzes. Wie das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt hat, sprechen die unterschiedlichen Formulierungen in den Gesetzen nicht dagegen. § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX und § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG regeln beide, ab welchem Schwellenwert das Gremium gewählt werden kann.

Aus der Formulierung, dass die Anzahl der schwerbehinderten Menschen, die „nicht nur vorübergehend“ beschäftigt sind, kann jedoch nicht gefolgert werden, dass der Gesetzgeber auch für den Fall des Absinkens nur auf den Zeitpunkt der Wahl abstellen wollte. Hierfür bestehen keine Anhaltspunkte im Wortlaut. Das Merkmal „nicht nur vorübergehend“ regelt die Frage, welche schwerbehinderten Beschäftigten und diesen Gleichgestellten für den Schwellenwert zählen. Es regelt hingegen nicht, ob für die Frage des weiteren Bestands nur „punktuell“ auf den Zeitpunkt der Wahl abzustellen wäre.

Der Vergleich mit dem Wortlaut von § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG, der auf die Anzahl der „in der Regel“ beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abstellt, spricht nicht gegen eine Übertragung des Grundsatzes aus dem Betriebsverfassungsrecht auf das Schwerbehindertenrecht. Denn auch im Betriebsverfassungsrecht findet sich eine ausdrückliche Regelung zunächst nur für die Wahl des Betriebsrates. Das Merkmal der Regelmäßigkeit bestimmt, wie das Merkmal der Dauerhaftigkeit in § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX, diejenigen Beschäftigten, die auf den Schwellenwert anzurechnen sind.

Entgegen der Auffassung der Schwerbehindertenvertretung kann aus den unterschiedlichen Formulierungen „nicht nur vorübergehend“ und „in der Regel“ nicht geschlossen werden, dass gemäß § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX nur auf den Zeitpunkt der Wahl abzustellen ist. Anknüpfungspunkt beider Vorschriften ist die Anzahl der Wählenden. „Vorübergehend“ bedeutet nur „zeitweilig, nur eine gewisse Zeit dauernd“ (vgl. www.duden.de). Nach § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist die dauernde Beschäftigung von wenigstens fünf schwerbehinderten Menschen oder Gleichgestellten Voraussetzung für die Wahl der Schwerbehindertenvertretung (NPGWJ/Pahlen, SGB IX § 177 Rn. 3). Dies entspricht dem oben genannten Grundsatz des Betriebsverfassungsrechts. Der Zeitpunkt der Wahl wird mit der Formulierung aber nicht in den Fokus gerückt.

Die Kenntnis des Gesetzgebers von den Grundsätzen zu § 1 BetrVG spricht weder dafür, dass diese auf das Schwerbehindertenrecht übertragen werden sollten, noch dagegen. Auch wenn die Formulierung „in der Regel“ künftige Entwicklungen der Belegschaft stärker berücksichtigt, gilt im Umkehrschluss nicht, dass, wenn eine starre Anzahl von Wählern Voraussetzung für die Wahl ist, die Anzahl anschließend keine Rolle mehr spielt.

Die Systematik der Interessenvertretungen von Beschäftigten und die Systematik des Gesetzes sprechen nach Auffassung der Kammer für die Übertragung des Grundsatzes des Absinkens unter den Schwellenwertes des Betriebsrates auf die Schwerbehindertenvertretung. Anderenfalls würde in Fällen des Absinkens unter den jeweiligen Schwellenwert die Amtszeit des Betriebsrats enden und die der Schwerbehindertenvertretung nicht. Im Hinblick auf die Beteiligungsrechte beider Gremien ist ein Gleichlauf geboten.

Der Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung sind Interessenvertretungen bestimmter Beschäftigter. Auch wenn die Aufgaben sich in gewissen Punkten unterscheiden, so sind beide Vertretungen strukturell vergleichbar. Das Schwerbehindertenvertretungsrecht stellt für die Bildung der einzelnen Vertretungsorgane, wie das Betriebsverfassungsrecht, auf den Betriebsbegriff ab. Auch weitere grundsätzliche Entscheidungen des Gesetzgebers laufen parallel, etwa die Dauer der regelmäßigen Amtszeit. Auch der dreistufige Aufbau der Vertretung unter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ist im Grundsatz analog geregelt.

Die Parallelität zwischen Betriebsverfassungsrecht und Schwerbehindertenvertretungsrecht wird durch den Verweis in § 177 Abs. 8 SGB IX auf § 21a BetrVG besonders deutlich. Danach bleibt ein Betriebsrat bei einer Betriebsspaltung (nur) im Amt und führt die Geschäfte für die ihm bislang zugeordneten Betriebsteile weiter, soweit sie die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 S. 1 BetrVG erfüllen und nicht in einen Betrieb eingegliedert werden, in dem ein Betriebsrat besteht (Übergangsmandat). Der Gesetzgeber geht also auch für das Schwerbehindertenvertretungsrecht davon aus, dass ein Übergangsmandat nur dann besteht, wenn im verbleibenden Betriebsteil der Schwellenwert aus § 177 Abs. 1 S. 1 SGB IX überschritten ist. Daraus folgt die Bestätigung der Annahme, dass der Gesetzgeber gerade nicht davon ausgeht, dass ein nachträgliches Absinken unter den Schwellenwert für den Bestand der Schwerbehindertenvertretung irrelevant sei. Vielmehr zeigt dieser Verweis, dass der Gesetzgeber den Schwellenwert weiter verstanden wissen und damit nicht nur die Wahl, sondern auch den Fortbestand an die Überschreitung des Schwellenwertes knüpfen will.

Der Schwerbehindertenvertretung ist zuzustimmen, dass die Betriebsspaltung ein außergewöhnliches Ereignis ist. Dies verdeutlicht jedoch sowohl für das Betriebsverfassungsrecht als auch für das Schwerbehindertenrecht, dass die Gremien einer Organisationsbasis bedürfen. Änderungen der Organisationsstruktur können sich auf den Bestand des Gremiums auswirken. Beispielsweise knüpft die Zuständigkeit eines Betriebsrates an die Identität des Betriebs an, für den er gewählt worden ist (Reichold in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, § 21a BetrVG, Rn. 1).

Zudem verdeutlichen auch die Formulierungen in § 177 Abs. 7 S. 3 und S. 4 SGB IX den Gleichlauf von Schwerbehindertenvertretung und Betriebsrat. In Satz 4 ist ausdrücklich geregelt, dass im Falle der in Satz 3 genannten Erlöschensgründe das stellvertretende Mitglied mit der höchsten Stimmenzahl für den Rest der Amtszeit nachrückt. Satz 3 ist strukturell mit § 24 BetrVG vergleichbar. § 24 BetrVG regelt, wann die Mitgliedschaft des einzelnen im Betriebsrat erlischt.

Soweit die Schwerbehindertenvertretung darauf verweist, dass eine Regelung gemäß § 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG nicht in das Schwerbehindertenvertretungsrecht übertragen wurde, spricht dieser Umstand nicht gegen die Übertragung des Grundsatzes bei Absinken unter den Schwellenwert.

§ 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG regelt die Betriebsratswahl, wenn mit Ablauf von 24 Monaten, vom Tage der Wahl an gerechnet, die Zahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um die Hälfte, mindestens aber um fünfzig, gestiegen oder gesunken ist.

Die Festlegung der Amtsdauer auf vier Jahre macht es notwendig, wesentliche Veränderungen in der Belegschaftsstärke nicht erst bei der nächsten turnusmäßigen Wahl zu berücksichtigen. Vielmehr soll – auch zur besseren Legitimation des Betriebsrates – wenigstens einmal während der Wahlperiode, jedoch nicht vor Ablauf von 24 Monaten, bei einer Belegschaftsveränderung um die Hälfte, mindestens aber um 50, neu gewählt werden können (Reichold in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 9. Aufl. 2020, § 13 BetrVG, Rn. 8). Diese Reglung bedingt die Zahl der Betriebsratsmitglieder gemäß § 9 BetrVG. Eine § 9 BetrVG entsprechende Regelung fehlt im Schwerbehindertenvertretungsrecht. Daher bedurfte es einer Regelung entsprechend § 9 BetrVG nicht.

Der Sinn und Zweck von § 177 SGB IX und § 1 Abs. 1 BetrVG spricht ebenfalls für die Übertragung des Grundsatzes zum Ende der Amtszeit bei Absinken unter den Schwellenwert.

Der Gesetzgeber hat einen Schwellenwert eingeführt und damit bewusst die Entscheidung getroffen, dass nicht jeder Betrieb mitbestimmt sein soll, sondern nur solche, bei denen eine gewisse Mindestgröße bzw. eine Mindestanzahl an schwerbehinderten Beschäftigten und diesen Gleichgestellten gegeben ist. Dies soll nicht zuletzt die Zersplitterung der Vertretungsorgane verhindern und stellt eine Bagatellgrenze dar. Damit diese gesetzgeberische Entscheidung Wirkung entfalten kann, scheint es geboten, den Schwellenwert nicht nur für die Wahl der Schwerbehindertenvertretung, sondern auch als Voraussetzung für den Bestand einer gewählten Vertretung anzusehen.

Dass die kollektivrechtlichen Beteiligungsrechte auch beim Absinken der Beschäftigtenzahl unter die Grenze der Organfähigkeit des Betriebs weiterhin sinnvoll ausgeübt werden könnten, unterscheidet die Betriebsverfassung und die Schwerbehindertenverfassung nicht (vgl. LAG Niedersachsen vom 20.08.2008 – 15 TaBV 145/07).