Anforderung an Verwerfung der Berufung wegen Nichterscheinen des Angeklagten

07. August 2025 -

Wann gilt ein Angeklagter im Berufungsverfahren als „nicht erschienen“, obwohl er im Gerichtssaal anwesend ist? Dieser Frage widmet sich ein aktueller Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) vom 23.06.2025 (Az. 203 StRR 234/25). Die Entscheidung stellt klar, unter welchen Umständen ein Gericht die Berufung eines Angeklagten wegen Nichterscheinens verwerfen darf – und wann gerade nicht. Im Folgenden erläutern wir den Fall, die rechtlichen Hintergründe und die praktischen Konsequenzen für Angeklagte und ihre Verteidiger.

Der Fall: Anwesend, aber nicht auf der Anklagebank

Im zugrundeliegenden Fall hatte das Landgericht Ansbach eine Berufungshauptverhandlung durchzuführen. Der Angeklagte war vom Amtsgericht wegen Nachstellung, Beleidigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden und hatte hiergegen Berufung eingelegt. Zur Berufungsverhandlung vor dem Landgericht erschien der Angeklagte körperlich im Gerichtssaal, verhielt sich jedoch äußerst ungewöhnlich: Er weigerte sich hartnäckig, auf der Anklagebank Platz zu nehmen, störte die Verhandlung mit ständigen Monologen und lief im Saal umher, bis er sich schließlich im Zuschauerbereich niederließ. Zwar übergab er dem Gericht zwischendurch Unterlagen und antwortete auf Nachfragen widersprüchlich, aber er verweigerte im Kern jede geordnete Mitwirkung an der Verhandlung.

Das Landgericht war offenbar überfordert mit diesem Verhalten. Es betrachtete den Angeklagten aufgrund seines Auftretens kurzerhand als „rechtlich nicht erschienen“, obwohl er sich im Saal befand. Folglich verwarf das Gericht die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 StPO ohne inhaltliche Prüfung der Sache. Mit anderen Worten: Das Landgericht tat so, als wäre der Angeklagte gar nicht zum Termin erschienen, und ließ das amtsgerichtliche Urteil rechtskräftig werden. Dagegen legte der Angeklagte Revision ein – mit Erfolg.

Rechtlicher Hintergrund: Erscheinen vs. Nichterscheinen in der Berufung

Grundsätzlich gilt im Strafprozess der Anwesenheitsgrundsatz (§ 230 Abs. 1 StPO): Ohne den Angeklagten darf nicht verhandelt werden. Eine wichtige Ausnahme besteht jedoch im Berufungsverfahren: Erscheint der Angeklagte in der Berufungsverhandlung nicht, darf das Gericht seine Berufung ohne Sachverhandlung verwerfen (§ 329 Abs. 1 StPO). Diese Ausnahme soll verhindern, dass Angeklagte durch Fernbleiben die Entscheidung in der zweiten Instanz verzögern oder vereiteln. Allerdings sind die Hürden für ein solches Verwerfungsurteil hoch, da es den Angeklagten seiner zweitinstanzlichen Überprüfung faktisch beraubt. Die Vorschrift ist daher eng auszulegen.

Nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO darf die Berufung nur verworfen werden, wenn bei Beginn der Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch ein bevollmächtigter Verteidiger anwesend sind und das Fernbleiben nicht genügend entschuldigt ist. Seit 2015 regelt § 329 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StPO zudem, dass Gleiches gilt, wenn der Angeklagte zwar erscheint, sich aber vorsätzlich und schuldhaft in einen verhandlungsunfähigen Zustand versetzt (z.B. durch Alkohol- oder Drogenkonsum) und kein vertretungsbereiter Verteidiger anwesend ist. Wichtig: In diesem Spezialfall muss das Gericht einen Arzt als Sachverständigen anhören (§ 329 Abs. 1 Satz 3 StPO) und eindeutig feststellen, dass der Angeklagte sein Unvermögen, zu verhandeln, selbst verschuldet hat – nur dann darf die Berufung wegen solcher selbst herbeigeführter „Abwesenheit“ verworfen werden. Bleiben Zweifel an der Verhandlungsunfähigkeit oder an einem Verschulden, darf nicht verworfen werden.

Kurz gesagt stellt das Gesetz darauf ab, ob der Angeklagte zur rechten Zeit im Saal präsent und verhandlungsfähig ist oder nicht. Ist er unentschuldigt abwesend, kann die Berufung wegfallen. Erscheint er hingegen – sei es auch in ungewöhnlicher Weise – genießt er grundsätzlich den Anspruch, dass seine Berufung verhandelt wird.

Die Entscheidung des BayObLG: Physische Anwesenheit genügt

Das BayObLG hat im Beschluss vom 23.06.2025 nun unmissverständlich klargestellt, wann ein Angeklagter als „erschienen“ gilt: Entscheidend ist die körperliche Anwesenheit im Sitzungssaal und ein ausreichendes Zu-Erkennen-Geben gegenüber dem Gericht. Wenn der Angeklagte also persönlich im Gerichtssaal anwesend ist und das Gericht weiß, wer er ist, dann ist er im Sinne des Gesetzes erschienen. Unerheblich ist, wo er im Saal sitzt oder ob er aktiv an der Verhandlung mitwirkt. Selbst wenn er statt auf der Anklagebank im Publikum Platz nimmt oder sich – wie im entschiedenen Fall – querulatorisch verhält und jede Mitwirkung verweigert, liegt kein „Ausbleiben“ im Sinne von § 329 StPO vor.

Das BayObLG betonte, dass die Berufung hier zu Unrecht verworfen wurde. Denn der Angeklagte war ja offensichtlich anwesend und hatte sich durch sein Auftreten dem Gericht gegenüber hinreichend als Angeklagter zu erkennen gegeben – das Landgericht hatte ihn ja sogar ermahnt und Unterlagen von ihm entgegengenommen. Damit war die Voraussetzung für ein Verwerfungsurteil (Nicht-Erscheinen) nicht erfüllt. Ein „Nichterscheinen“ darf nicht einfach fingiert werden, nur weil der Angeklagte schwierig ist. Die gesetzliche Ausnahme vom Anwesenheitsgrundsatz greift nicht, solange der Angeklagte physisch da ist und nicht ordnungsgemäß vertreten wird.

Vielmehr hätte das Landgericht anders reagieren müssen. Das BayObLG weist darauf hin, dass das bizarre Verhalten des Angeklagten eher Anlass gegeben hätte, seine Verhandlungsfähigkeit zu prüfen oder Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen. Konkret nennt das Gericht zwei Wege:

  • Verhandlungsfähigkeit anzweifeln: Bei erheblichen Zweifeln, ob der Angeklagte geistig in der Lage ist, an der Verhandlung teilzunehmen (etwa aufgrund einer psychischen Störung), muss das Gericht die Verhandlungsfähigkeit begutachten lassen. Ist der Angeklagte ohne eigenes Verschulden verhandlungsunfähig, darf die Berufung nicht nach § 329 StPO verworfen werden. In einem solchen Fall wäre die Verhandlung auszusetzen oder zu unterbrechen, bis der Angeklagte (ggf. mit medizinischer Hilfe) verhandlungsfähig ist. Nur wenn der Angeklagte sich absichtlich in diesen Zustand gebracht hat (siehe oben), käme eine Verwerfung in Betracht – und auch dann nur unter strengen Voraussetzungen (ärztliches Gutachten, klare Feststellungen).
  • Ordnungsmaßnahmen nach § 177 GVG: Handelt es sich „nur“ um ungebührliches Benehmen oder Störungen, kann der Vorsitzende gemäß § 177 Gerichtsverfassungsgesetz eingreifen. Er kann den Angeklagten verwarnen, Ordnungsgelder androhen oder ihn im Extremfall vorübergehend aus dem Saal entfernen lassen, falls dieser die Verhandlung massiv stört. Wichtig: Selbst wenn der Angeklagte wegen solchen Ordnungsmaßnahmen oder vorläufiger Entfernung zeitweise nicht im Saal ist, darf das Gericht die Berufung nicht einfach verwerfen. § 329 Abs. 2 Satz 2 StPO stellt klar, dass ein Verwerfungsurteil unzulässig ist, wenn der Angeklagte nur wegen Ordnungsverstoßes entfernt wurde. In solchen Fällen kann die Verhandlung ggf. in Abwesenheit fortgesetzt werden (§ 231b StPO), aber das Rechtsmittel an sich bleibt bestehen.

Das BayObLG hat dem Angeklagten im Ergebnis Recht gegeben. Es hob das Urteil des Landgerichts auf und verwies den Fall zurück. Die Leitsätze des BayObLG-Beschlusses lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • „Erscheinen“ heißt körperliche Präsenz: Ein Angeklagter gilt als erschienen, wenn er im Gerichtssaal anwesend ist und vom Gericht als Angeklagter erkannt wurde. Auch ein Sitzen im Zuschauerbereich macht ihn nicht „abwesend“. Er muss sich nicht aktiv beteiligen oder auf der Anklagebank sitzen, um als erschienen zu gelten.
  • Keine Verwerfung trotz Verweigerung der Mitwirkung: Selbst wenn der Angeklagte die Mitwirkung verweigert (z.B. schweigt, sich nicht hinsetzt, die Ladung anzweifelt oder wirre Beiträge liefert), ist er nicht per se „ausgeblieben“. Sein reines Erscheinen genügt für die erforderliche Präsenz. In solchen Fällen muss das Gericht andere Mittel nutzen statt die Berufung zu verwerfen (Ordnungsrufe, Unterbrechung, Entfernung nach GVG, etc.).
  • Sinn und Zweck von § 329 StPO: Die Vorschrift soll Missbrauch verhindern, also verhindern, dass ein Angeklagter durch Nichterscheinen die Berufungsverhandlung vereitelt oder verzögert. Ist der Angeklagte jedoch anwesend, greift diese Gefahr wesentlich weniger – deshalb muss § 329 StPO eng angewandt werden. Die Ausnahme (Verwerfungsurteil) darf nicht erweitert werden, um auch schwierige Angeklagte loszuwerden.

Auswirkungen für die Praxis: Tipps für Angeklagte und Verteidiger

Der Beschluss des BayObLG hat wichtige praktische Implikationen – sowohl für Angeklagte selbst als auch für Verteidiger:

1. Als Angeklagter: Stellen Sie sicher, dass Sie zu Ihrer Berufungsverhandlung persönlich erscheinen oder ordnungsgemäß vertreten sind. Bleiben Sie unentschuldigt fern, wird Ihre Berufung sehr wahrscheinlich ohne weitere Prüfung verworfen – das Urteil der Vorinstanz wäre dann rechtskräftig. Wenn Sie erscheinen, gilt Ihr Erscheinen, auch wenn Sie nicht reden oder auf der falschen Bank sitzen. Natürlich sollten Sie trotzdem versuchen, sich angemessen zu verhalten. Wer mutwillig die Teilnahme verweigert oder die Verhandlung stört, schadet in der Regel seiner eigenen Sache. Zwar schützt Sie die Rechtslage davor, dass Ihre Berufung allein wegen Ihres Auftauchens im Zuschauerraum verworfen wird. Aber das Gericht kann andere Maßnahmen treffen: Es könnte Sie aus dem Saal entfernen lassen und in Ihrer Abwesenheit weiterverhandeln oder Ihre Verhandlungsfähigkeit überprüfen lassen – beides ist kaum im Interesse des Angeklagten. Fazit: Erscheinen Sie unbedingt, aber vermeiden Sie ein Verhalten, das das Gericht zu Ordnungsmaßnahmen zwingt.

2. Als Verteidiger: Der Beschluss liefert wertvolle Argumentationshilfe in schwierigen Situationen. Wenn Ihr Mandant zwar im Saal ist, aber ausfällig wird oder die Mitwirkung verweigert, können Sie darauf dringen, dass das Gericht ihn als anwesend behandelt und nicht vorschnell von „Nichterscheinen“ spricht. Weisen Sie gegebenenfalls auf die BayObLG-Entscheidung hin, die klarstellt, dass die Anwesenheit im Saal genügt und ein Verwerfungsurteil unzulässig wäre, solange der Angeklagte physisch präsent ist. Zugleich sollten Sie – im Sinne Ihres Mandanten – bemüht sein, das Gericht zu beruhigen und konstruktiv an der Verhandlung mitzuwirken. Ist der Mandant möglicherweise psychisch beeinträchtigt, regen Sie an, die Verhandlungsfähigkeit gutachterlich klären zu lassen, statt zur Tagesordnung überzugehen oder gar die Berufung zu verwerfen. Denkbar ist auch, in Extremfällen eine Unterbrechung der Verhandlung zu beantragen, um deeskalierend einzuwirken. Wichtig ist, dass Sie keine Verwerfung „kampflos“ hinnehmen, wenn der Mandant faktisch anwesend ist. Die Rechtsmittelinstanzen – wie hier das BayObLG – haben gezeigt, dass sie einem solchen Vorgehen des Gerichts nicht folgen werden.

3. Für die Gerichte: Auch für Richter und Staatsanwälte bietet die Entscheidung Klarheit. Die Hemmschwelle für ein Verwerfungsurteil ist hoch. Ungewöhnliches oder störendes Verhalten des Angeklagten darf nicht dazu verleiten, kurzerhand die Abwesenheitsregeln anzuwenden. Stattdessen sind die in der StPO und GVG vorgesehenen Schritte zu gehen: Verwarnungen, Ausschluss unrühmlicher Personen (§ 177 GVG), Prüfen der Verhandlungsfähigkeit, ggf. Verhandlung in absentia nach ordnungsgemäßer Entfernung – aber keine sofortige Verwerfung der Berufung, solange der Angeklagte ursprünglich erschienen war. Dies dient nicht nur dem Schutz der Rechte des Angeklagten, sondern auch der Verfahrensfairness insgesamt.

Die Entscheidung des BayObLG vom 23.06.2025 (Az. 203 StRR 234/25) macht deutlich, dass „Erscheinen“ mehr bedeutet, als brav auf der Anklagebank zu sitzen. Solange der Angeklagte im Saal ist und als solcher erkannt wird, steht ihm grundsätzlich seine Berufungsverhandlung zu. Weder querulatorisches Verhalten noch passive Verweigerung rechtfertigen es, eine Berufung ohne Verhandlung zu verwerfen. Die Strafprozessordnung bietet andere Mittel, um mit schwierigen Verhandlungssituationen umzugehen. Für Beschuldigte bedeutet das einerseits Schutz vor vorschneller Rechtsmittelverwerfung – andererseits aber nicht die Freiheit, sich ohne Konsequenzen daneben zu benehmen. Für Verteidiger heißt es, die Rechte ihrer anwesenden Mandanten energisch zu verteidigen und notfalls auf diese höchstrichterliche Rechtsprechung zu pochen. Insgesamt stärkt der Beschluss die Verfahrensrechte von Angeklagten in der Berufungsinstanz und sorgt dafür, dass Sachentscheidungen nicht durch formale Kniffe umgangen werden.