Angeklagter muss trotz Corona im Strafverfahren erscheinen

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 16.11.2020 zum Aktenzeichen 2 BvQ 87/20 entschieden, dass ein Angeklagter im Strafverfahren erscheinen muss, auch wenn dieser Gefahren für sich durch den Corona-Virus befürchtet.

Die vom Antragsteller gerügte Verletzung seines Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist weder hinreichend plausibel vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, sowie die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren Beschuldigten erfordern grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege mit ihrem Ziel der Durchsetzung materieller Gerechtigkeit zu gewährleisten, umfasst regelmäßig auch die Pflicht, die Einleitung und Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen. Ist angesichts des Gesundheitszustandes des Beschuldigten ernsthaft zu befürchten, dass er bei Fortsetzung des Strafverfahrens sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, entsteht zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Grundrecht des Beschuldigten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein Spannungsverhältnis. Der Konflikt ist, sofern dies nicht eine Aufopferung des Lebens verlangt, nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen. Dabei können vor allem Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens, Art und Intensität der zu befürchtenden Schädigung sowie Möglichkeiten, dieser entgegenzuwirken, Beachtung erfordern.

Besteht die naheliegende, konkrete Gefahr, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, so verletzt ihn die Fortsetzung des Strafverfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Grundrechtsgefährdung ist in diesem Fall einer Grundrechtsverletzung gleich zu achten. Dabei kann allerdings nur eine hinreichend sichere Prognose über den Schadenseintritt die Einstellung des Verfahrens vor der Verfassung rechtfertigen. Einerseits verpflichtet die unterhalb der Wahrscheinlichkeitsgrenze liegende bloße Möglichkeit des Todes oder einer schweren gesundheitlichen Schädigung des Beschuldigten das Gericht nicht, von der Durchführung der Hauptverhandlung Abstand zu nehmen. Die Möglichkeit, dass der Beschuldigte den Belastungen einer Hauptverhandlung nicht gewachsen ist, lässt sich letztlich niemals ausschließen. Derartige Risiken sind innerhalb gewisser Grenzen unvermeidbar und müssen im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege hingenommen werden, denn die Verfassung gebietet keinen vollkommenen Schutz vor jeglicher mit einem Strafverfahren einhergehender Gesundheitsgefahr. Andererseits dürfen die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nicht überspannt werden.

In Anwendung dieses verfassungsrechtlichen Maßstabs müssen bei der Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist es in erster Linie Aufgabe der Strafgerichte, die für die Abwägung bedeutsamen tatsächlichen Feststellungen zu treffen. Das Bundesverfassungsgericht kann insofern nur prüfen, ob die Feststellungen und die ihnen zugrundeliegende Sachverhaltswürdigung auf willkürlichen Erwägungen beruhen oder ob die Strafgerichte die verfassungsrechtlichen Anforderungen verkannt haben, die sich aus der Bedeutung und Tragweite der Grundrechte für die Sachverhaltsermittlung ergeben. Soweit ein Gericht Maßnahmen ergreift, um einer zu befürchtenden Schädigung entgegenzuwirken, kommt dem Gericht bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.

Hiernach ist die angegriffene Entscheidung des Landgerichts auf Grundlage des Vorbringens des Antragstellers von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenngleich eine abschließende verfassungsrechtliche Beurteilung aufgrund der noch fehlenden Sachaufklärung durch das Beschwerdegericht nicht möglich ist.

Das sachverständig beratene Landgericht hat nachvollziehbar und in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dargelegt, dass derzeit kein akutes Krankheitsbild bei dem Antragsteller vorliegt, das die Annahme einer Verhandlungsunfähigkeit rechtfertigt. Die Erwägungen der Kammer zu den Ausführungen des Sachverständigen und zu dessen Qualifikation sind schlüssig und entsprechen den verfassungsrechtlichen Vorgaben. Soweit der Antragsteller sich hiergegen wendet, setzt er im Ergebnis nur seine Bewertung der Ausführungen und der fachlichen Qualifikation des Sachverständigen an die Stelle der Bewertung des Gerichts. Der Einwand, nur ein Lungenfacharzt oder ein Virologe könne eine belastbare Einschätzung angeben, stellt jedenfalls keine ausreichende Auseinandersetzung mit der Argumentation des Landgerichts dar und kann die die Entscheidung tragenden Gründe nicht verfassungsrechtlich tragfähig in Zweifel ziehen.

Dass die Sachverhaltswürdigung des Landgerichts willkürlich wäre oder die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Anforderungen missachtete, ist weder hinreichend substantiiert dargetan noch sonst erkennbar. Das Landgericht hat – dem Sachverständigen folgend – bei der Prüfung der Verhandlungsfähigkeit des Antragstellers auf das akute Krankheitsbild abgestellt und dargelegt, dass dessen Vorerkrankungen zu keiner Beeinträchtigung der Verhandlungsfähigkeit führten. Nachvollziehbar ist insbesondere der Hinweis darauf, dass bei einem Lungenfunktionstest keine Funktionseinschränkung festgestellt werden konnte, der nur leicht erhöhte Blutdruck medikamentös gut eingestellt sei und die Autoimmunerkrankung zu keiner Verhandlungsunfähigkeit führe.

Soweit das Landgericht ausgeführt hat, dass die Gefährdungslage durch die COVID-19-Pandemie keine andere Beurteilung der Sach- und Rechtslage gebiete, ist ebenfalls kein Verstoß gegen die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Maßstäbe zur Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit erkennbar. Sachverständig beraten, habe die Kammer nachvollziehbar und in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dargelegt, dass der Antragsteller kein im Vergleich zur Allgemeinheit höheres Risiko einer Ansteckung habe. Soweit die Kammer diese Einschätzung darauf stützt, dass es dem Antragsteller möglich sei, geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen, insbesondere ausreichend Schutz bietende Masken zu tragen, begegnet das keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, da die Kammer auch hier auf die Ergebnisse der Untersuchung durch den rechtsmedizinischen Sachverständigen verweist. Schlüssig ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis darauf, dass sich auch die Autoimmunerkrankung nicht auf das Ansteckungsrisiko auswirkt, da der Antragsteller sich keinen Therapien unterzogen hat, die zu einer Abwehrschwäche führten.

Die Kammer hat zudem bedacht, dass bei dem Antragsteller im Falle einer Infektion ein wesentlich erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf einer COVID-19-Erkrankung besteht, diesem Umstand aber für die Frage der Verhandlungsunfähigkeit in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise kein wesentliches Gewicht beigemessen. In Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stellt die Strafkammer im Ergebnis darauf ab, dass sich die Möglichkeit, dass ein Beschuldigter den Belastungen einer Hauptverhandlung nicht gewachsen ist, letztlich niemals ausschließen lässt, derartige Risiken innerhalb gewisser Grenzen unvermeidbar sind und im Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege hingenommen werden müssen. Das Landgericht wird dabei seiner Pflicht, zwischen dem Risiko einer Infektion mit potentiell gefährlichem Verlauf und dem Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung abzuwägen, insbesondere dadurch gerecht, dass es darauf abstellt, dass es – unter sachverständiger Beratung – geeignete Maßnahmen zur Minimierung der Ansteckungsgefahr getroffen hat. Es folgt damit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, nach der auch die Möglichkeiten, einer zu befürchtenden Gesundheitsschädigung entgegenzuwirken, in die gebotene Abwägung einbezogen werden können.

Soweit die Kammer auf die getroffenen Maßnahmen zum Schutz vor einer Ansteckung abstellt, unterliegt deren Beurteilung einer nur eingeschränkten Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht, denn auch diese Frage ist Ausfluss der bei der Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit vorzunehmenden Sachverhaltserfassung und -würdigung und betrifft die Schutzpflichtendimension des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Da staatlichen Stellen bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, gelten diese Grundsätze auch bei der Überprüfung von Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung mit dem neuartigen Coronavirus.

Eine sich an diesen Maßstäben orientierende Verletzung seines Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hat der Antragsteller nicht hinreichend substantiiert dargetan. Das gilt sowohl, soweit das Gericht das Ansteckungsrisiko im Gerichtsgebäude in den Blick nimmt, als auch, soweit sich das Gericht mit dem Risiko einer Ansteckung auf dem Weg zum Gerichtsort auseinandersetzt .

Dass die Maßnahmen des Gerichts zur Verhinderung einer Ansteckung im Gerichtsgebäude offensichtlich unzulänglich sind, eine mit einer Ansteckung einhergehende Gesundheitsgefährdung zu verhindern, hat der Antragsteller weder hinreichend substantiiert dargelegt noch ist dies sonst ersichtlich.

Das Gericht hat ein Hygienekonzept entwickelt, das auf die Empfehlungen des Robert-Koch-Institutes und des damit beauftragten rechtsmedizinischen Sachverständigen zurückgeht. Die Kammer dringt auf die Einhaltung des Konzepts, insbesondere die Einhaltung der Maskenpflicht und des Abstandsgebots. Sie verweist weiter auf eine effiziente Lüftungsanlage, die einen Austausch der Raumluft mit Frischluft innerhalb von 30 Minuten gewährleistet und – nach den Ausführungen des Sachverständigen – ein manuelles Lüften ersetzen kann; unabhängig davon weist die Kammer auf die geplanten regelmäßigen Pausen zum Durchlüften hin. Zur Trennung der Verfahrensbeteiligten sind im Sitzungssaal Plexiglasscheiben aufgestellt, die die Kammer nachvollziehbar – dem Sachverständigen auch insoweit folgend – als weitere Maßnahme zum Infektionsschutz ansieht. Die Kammer belässt es bei der Abwägung auch nicht bei dem Hinweis, dass bislang kein Fall bekanntgeworden sei, in dem eine Infektion auf die Teilnahme an einer Hauptverhandlung am Landgericht zurückzuführen wäre, sondern kommt der Aufforderung des Sachverständigen zur Einhaltung besonderer Sorgfalt nach, indem es den Verfahrensbeteiligten Masken mit besonderem Schutzniveau zur Verfügung stellt. Auch hat die Kammer das Verfahren gegen den Antragsteller abgetrennt, um die Anzahl der Verfahrensbeteiligten erheblich zu reduzieren und auf diese Weise sicherzustellen, dass das Infektionsrisiko weiter verringert ist. Schließlich stellt die Kammer nachvollziehbar darauf ab, dass die Empfehlungen des Sachverständigen zur räumlichen Trennung der Verfahrensbeteiligten und der Zuschauer im Hygienekonzept umgesetzt sind.

Soweit der Antragsteller Vorbehalte gegen die Wirksamkeit der Lüftungsanlage, der Masken und der Plexiglasscheiben geltend macht, zielt seine Argumentation auf den Ausschluss eines jeden Risikos ab, der verfassungsrechtlich nicht geboten ist. Die Einwände des Antragstellers gegen diese tatsächlichen Wertungen des Gerichts können die die Entscheidung tragenden Gründe ohnehin nicht in verfassungsrechtlich tragfähiger Weise in Zweifel ziehen, da der Antragsteller im Ergebnis wiederum lediglich seine eigene Bewertung des verbleibenden Ansteckungsrisikos an die Stelle der Bewertung des Gerichts setzt.

Ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet der Hinweis der Kammer, dass es für sie nur entscheidend sei, dass es für den Antragsteller mögliche und zumutbare Wege gebe, den Gerichtsort zu erreichen, ohne sich einem unvertretbaren Ansteckungsrisiko auszusetzen. Soweit die Kammer dabei auf die Ausführungen des Sachverständigen verweist, sind diese schlüssig und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dass dem Antragsteller Fahrten zum Verhandlungsort unter Einhaltung der dargelegten Schutzvorkehrungen weder möglich noch zumutbar sind, hat der Antragsteller ebenso wenig hinreichend substantiiert dargelegt wie die Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit, dort kurzfristig Unterkunft zu finden. Soweit der Antragsteller auf das jedem Reisen immanente Risiko einer Ansteckung verweist, stellt er wiederum auf den Ausschluss eines jeden Ansteckungsrisikos ab, der verfassungsrechtlich nicht geboten ist.

Schließlich hat die Strafkammer die dynamische Entwicklung des Infektionsgeschehens bei der Abwägung nicht aus dem Blick verloren, indem sie ihre Pflicht zur Neubewertung der Situation bei einer Veränderung des Infektionsgeschehens herausgestellt hat.