Manche Anwaltskammern nehmen ihre berufsrechtliche Aufsicht sehr genau – mitunter zu genau. Jüngstes Beispiel ist eine Entscheidung des Anwaltsgerichtshofs (AGH) Berlin vom 17. Juli 2025 (Az. I AGH 11/23). In diesem Urteil hob der AGH eine missbilligende Belehrung (eine Art förmlicher Rüge) auf, die eine Rechtsanwaltskammer gegen einen Anwalt wegen eines verweigerten elektronischen Empfangsbekenntnisses ausgesprochen hatte. Hintergrund des Falls war die Nutzung des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) und die Frage, in welcher Form Anwältinnen und Anwälte den Erhalt elektronischer Schreiben bestätigen müssen. Der AGH Berlin stellte klar, dass die Kammer hier zu weit gegangen war. Im Folgenden werden die Kernaussagen des Urteils, die praktische Relevanz für die anwaltliche Tätigkeit sowie Empfehlungen zur Vermeidung ähnlicher Konflikte dargestellt.
Kernaussagen des Urteils
Fallgestaltung: Ein Rechtsanwalt hatte bei seiner Rechtsanwaltskammer beantragt, von der gesetzlichen Kanzleipflicht (Pflicht zum Vorhalten eines Kanzleisitzes) weiterhin befreit zu werden. Die Kammer verlangte daraufhin dreimal zusätzliche Auskünfte, um über den Antrag entscheiden zu können. Die letzten zwei Auskunftsschreiben wurden dem Anwalt über das beA mit der Bitte um elektronisches Empfangsbekenntnis (eEB) zugestellt. Nachdem der Anwalt das letzte Schreiben erhalten hatte, reagierte er schriftlich per Brief an die Kammer. In diesem Schreiben bezog er sich auf alle drei Anfragen und teilte mit, dass er seine Kanzlei inzwischen aufgegeben habe. Er leistete jedoch kein formelles eEB über das beA zu den beiden letzten Schreiben.
Reaktion der Kammer: Die Rechtsanwaltskammer wertete das Ausbleiben der förmlichen Empfangsbekenntnisse als Verstoß gegen die Berufspflichten. Unter Berufung auf § 14 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) erteilte sie dem Anwalt eine missbilligende Belehrung – im Kern eine Rüge wegen Pflichtverletzung. Nach Auffassung der Kammer hätte der Anwalt die elektronisch übersandten Schreiben über das beA jeweils durch Abgabe eines elektronischen Empfangsbekenntnisses bestätigen müssen. Der Anwalt zog dagegen vor Gericht – mit Erfolg: Der AGH Berlin gab dem Anwalt Recht und hob die Rüge auf.
Entscheidungsgründe des AGH: Der AGH bestätigte zunächst die rechtlichen Ausgangspunkte: Zum einen dürfen Rechtsanwaltskammern bei berufsrechtswidrigem Verhalten von Kammermitgliedern grundsätzlich Belehrungen und Rügen erteilen (vgl. § 73 Abs. 2 Nr. 1, 4 BRAO). Zum anderen müssen Anwältinnen und Anwälte gemäß § 14 Satz 1 BORA ordnungsgemäße Zustellungen unverzüglich mit Datum der Kenntnisnahme bestätigen (Empfangsbekenntnis). Diese Pflichten standen hier aber nicht isoliert, sondern im Kontext des elektronischen Rechtsverkehrs. Entscheidend war die Frage, in welcher Form das Empfangsbekenntnis abgegeben werden muss.
Der AGH Berlin stellte klar, dass sich die Form des Empfangsbekenntnisses nach der jeweils einschlägigen Verfahrensordnung richtet. Für Schriftstücke von Gerichten gilt § 173 Abs. 3 ZPO: Bei elektronischer Zustellung an Anwälte ist der Nachweis gegenüber dem Gericht durch ein elektronisches Empfangsbekenntnis zu führen. Dieser ZPO-Grundsatz griff hier aber nicht, weil die Rechtsanwaltskammer kein Gericht, sondern eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist. Stattdessen war – so der AGH – das Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) maßgeblich, da es sich bei Schreiben der Kammer an ihre Mitglieder um Verwaltungsakte bzw. amtliche Mitteilungen handelt.
Nach § 5 Abs. 4 VwZG durfte die Kammer dem Anwalt ihre Schreiben elektronisch gegen Empfangsbekenntnis zustellen. Diese Vorschrift erlaubt Behörden die elektronische Zustellung, verlangt aber ein EB als Nachweis des Zugangs. Wichtig ist: Das VwZG schreibt keine bestimmte Form für die Rücksendung des Empfangsbekenntnisses vor. In § 5 Abs. 7 Satz 1 VwZG heißt es lediglich, zum Nachweis der Zustellung genüge ein Empfangsbekenntnis mit Datum und Unterschrift, das postalisch oder elektronisch an die Behörde zurückgesandt wird. Es war also nicht zwingend, dass der Anwalt das EB in derselben elektronischen Form über das beA abgibt – ein auf Papier unterzeichnetes EB per Post wäre ebenso zulässig gewesen.
Schlussfolgerung des Gerichts: Vor diesem Hintergrund erkannte der AGH, dass der Anwalt den Zugang der Schreiben der Kammer im Grunde schon bestätigt hatte – nur eben nicht über das beA-Formular, sondern durch sein eigenes Schreiben. In dem Antwortschreiben des Anwalts lag konkludent sein Empfangswille für alle drei Kammer-Schreiben, da er ausdrücklich auf die gesamte Korrespondenz Bezug nahm. Normalerweise soll der Empfangswille zwar durch das formal korrekte Empfangsbekenntnis dokumentiert werden. Fehlt dieses jedoch, der Empfangswille ergibt sich aber eindeutig aus dem sonstigen Verhalten des Anwalts, darf keine Rüge ausgesprochen werden. Genau das war hier der Fall: Der Anwalt hatte mit seinem Brief implizit bestätigt, die Schreiben erhalten zu haben.
Die Kammer hatte dem Anwalt vorgeworfen, gar kein Empfangsbekenntnis erteilt zu haben – was nach Ansicht des Gerichts offensichtlich unzutreffend war. Allenfalls hätte man dem Anwalt vorwerfen können, das EB nicht „unverzüglich“ (also nicht sofort, vgl. § 121 BGB) nach dem vorletzten Schreiben übersandt zu haben. Doch genau diese Verzögerung hatte die Kammer nicht gerügt. Da der Anwalt letztlich den Zugang aller Schreiben anerkannt hatte, fehlte es an einer echten Pflichtverletzung. Folglich hob der AGH Berlin die missbilligende Belehrung der Kammer auf.
Relevanz für die anwaltliche Praxis
Das Urteil des AGH Berlin ist für die Praxis der Anwältinnen und Anwälte aus mehreren Gründen bedeutsam. Erstens zeigt es, dass auch im Zeitalter des elektronischen Rechtsverkehrs die bewährten Zustellungsgrundsätze gelten. Eine elektronische Übermittlung allein ersetzt nicht den notwendigen Empfangswillen des Adressaten. So hat erst kürzlich auch der Bundesgerichtshof klargestellt, dass bei elektronischer Zustellung durch Behörden ein Empfangsbekenntnis unverzichtbar bleibt. Ohne Empfangsbekenntnis oder einen sonst erkennbaren Annahmewillen ist die Zustellung nicht wirksam – selbst wenn die Nachricht technisch im beA eingeht. Dieses Prinzip schützt Anwälte davor, dass ihnen durch rein technischen Versand wichtige Fristen oder Pflichten auferlegt werden, ohne dass sie den Erhalt willentlich bestätigt haben.
Zweitens unterstreicht der Fall die Unterschiede zwischen Zustellungen durch Gerichte und durch andere Stellen (Behörden, Kammern, Kollegen). Anwälte sind zwar stets gut beraten, eingehende Schriftstücke umgehend zu bearbeiten und zu bestätigen. Doch das “Wie” der Bestätigung hängt vom Absender ab: Kommt ein Schreiben vom Gericht, schreibt die Zivilprozessordnung ein elektronisches EB vor; kommt es von der Rechtsanwaltskammer oder einer Behörde, gilt das Verwaltungszustellungsrecht, das andere Formen zulässt. In der Praxis ist dieser Unterschied vielen nicht bewusst. Das beA vermittelt äußerlich ein einheitliches Bild – man erhält elektronische Post – doch rechtlich kann der Hintergrund verschieden sein. Die Entscheidung des AGH Berlin sensibilisiert dafür, dass Anwälte genau hinschauen, wer ihnen etwas über beA zustellt und nach welcher Rechtsgrundlage dies erfolgt.
Drittens hat das Urteil Signalwirkung für die Anwaltskammern selbst. Es erinnert die Kammern daran, bei der digitalen Aufsicht maßvoll und rechtssicher vorzugehen. Eine Kammer darf zwar auf die Einhaltung der Berufspflichten dringen, sollte aber nicht vorschnell zu disziplinarischen Maßnahmen greifen, wenn kein echtes Fehlverhalten vorliegt. Im Berliner Fall hatte die Kammer die neue elektronische Zustellung wohl etwas übereifrig als Druckmittel genutzt – und wurde vom AGH in die Schranken gewiesen. Dieser Balanceakt ist auch für andere Kammern relevant: Die Digitalisierung entbindet nicht von rechtsstaatlichen Grundsätzen, wie es der BGH prägnant formulierte. Für die Praxis bedeutet das, dass Kammern ihre Mitglieder zwar an die Pflichten (z.B. aus § 14 BORA) erinnern dürfen, aber immer prüfen müssen, ob tatsächlich ein berufsrechtlicher Verstoß vorliegt, bevor eine Rüge erteilt wird.
Schließlich passt das Urteil in eine aktuelle Diskussion über den elektronischen Rechtsverkehr. Im Raum steht der Vorschlag, eine Zustellungsfiktion einzuführen – also elektronische Nachrichten automatisch als zugestellt gelten zu lassen, wenn der Empfänger nicht innerhalb einer bestimmten Frist reagiert. Anwaltliche Organisationen wie der Deutsche Anwaltverein (DAV) stehen solchen Plänen kritisch gegenüber. Sie argumentieren, dass eine automatische Zustellungswirkung ohne bestätigten Empfangswillen zu Unsicherheiten und Nachteilen in der Praxis führt. Das AGH-Urteil stützt indirekt diese Haltung: Es betont die Bedeutung eines tatsächlichen Empfangsbekenntnisses bzw. -willens und lehnt es ab, Anwälten allein wegen formaler Nichtmitwirkung (hier: Nicht-Abgabe des eEB) einen Strick zu drehen, solange kein echtes Sich-Entziehen vorliegt. Für die anwaltliche Praxis ist dies eine begrüßenswerte Bestätigung, dass Fairness vor Formalismus geht.
Empfehlungen für Rechtsanwälte
Wie können Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ähnliche Konflikte vermeiden? Aus dem Urteil und der geltenden Rechtslage lassen sich einige praktische Tipps ableiten:
- Zustellungen aufmerksam prüfen: Wenn Sie Post über das beA erhalten, schauen Sie genau hin, von wem sie stammt. Handelt es sich um ein gerichtliches Schreiben, behördliche Post (z.B. von der Kammer) oder vielleicht um ein Schreiben eines Kollegen? Davon hängt ab, welche Mitwirkungspflichten Sie haben. Bei Zweifeln lohnt ein kurzer Blick in die entsprechenden Verfahrensvorschriften.
- Empfangsbekenntnisse unverzüglich erteilen: Ist das Schreiben ordnungsgemäß zugestellt worden, müssen Sie laut § 14 BORA das Empfangsbekenntnis ohne schuldhaftes Zögern mit Datum versehen abgeben. Im beA-System bedeutet dies in der Regel, auf die Schaltfläche für das eEB zu klicken und es qualifiziert elektronisch zu signieren. Zögern Sie nicht – fehlende oder verspätete Empfangsbekenntnisse können nicht nur Ihre eigene Rechtsposition (z.B. Fristenlauf) gefährden, sondern auch berufsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
- Alternative Bestätigungswege nutzen: Sollte es im Einzelfall nicht möglich oder nicht zumutbar sein, das EB über das beA abzugeben (etwa wegen technischer Probleme oder weil der Zustellungsauftrag unklar ist), stellen Sie sicher, dass Sie den Empfang auf anderem Wege bestätigen. Das kann ein formloses Schreiben oder Fax an den Absender sein, in dem Sie den Erhalt des Dokuments mit Datum bestätigen. Wichtig ist, dass der Absender erkennt: Das Dokument ist bei Ihnen angekommen und Sie sind empfangsbereit. Wie das AGH-Urteil zeigt, kann ein solches Schreiben im Zweifel die Funktion eines Empfangsbekenntnisses erfüllen. Bewahren Sie eine Kopie dieser Bestätigung gut auf.
- Unwirksame Zustellung? Kommunikation ist Pflicht!: Sollte Ihnen eine Zustellung nicht ordnungsgemäß erscheinen (z.B. falscher Adressat, unzustellungsbevollmächtigt, unvollständige Unterlagen), dürfen Sie gem. § 14 BORA die Mitwirkung zwar verweigern, sind dann aber verpflichtet, den Absender unverzüglich über die Gründe zu informieren. Teilen Sie also sofort mit, warum Sie das Empfangsbekenntnis (vorerst) nicht abgeben können. Dieses proaktive Handeln schützt Sie davor, dass man Ihnen ein stillschweigendes Untertauchen vorwirft. Außerdem kann so der Absender nachbessern und eine korrekte Zustellung vornehmen.
- beA-Postfach regelmäßig kontrollieren: Der beste Tipp nutzt nichts, wenn man das elektronische Postfach nicht im Blick hat. Stellen Sie sicher, dass Sie Ihr beA täglich oder zumindest in kurzen Abständen kontrollieren – dies ist ohnehin berufliche Pflicht (Stichwort passive Nutzungspflicht). Nur so bemerken Sie Zustellungen sofort und können rechtzeitig reagieren, sei es durch Bearbeitung der Sache oder durch Abgabe des Empfangsbekenntnisses. Automatisieren Sie, wo möglich, Benachrichtigungen oder vertreten Sie sich bei Abwesenheit, damit nichts liegen bleibt.
- Im Zweifel: lieber einmal klicken als später streiten: Selbst wenn Sie die Rechtslage auf Ihrer Seite wähnen – etwa weil die Kammer „kein Gericht“ ist und Sie meinen, kein eEB schulden zu müssen – überlegen Sie, ob es sich lohnt, auf der formalen Frage zu beharren. Ein rechtswirksam erteiltes Empfangsbekenntnis schafft Klarheit. Die Verweigerung hingegen provoziert eventuell unnötige Auseinandersetzungen mit der Kammer, wie der besprochene Fall zeigt. In vielen Situationen dürfte es pragmatischer sein, kurz das EB zu erteilen (oder anderweitig den Zugang zu bestätigen) und sich dann der Sache zu widmen, anstatt einen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen.
- Rechtsmittel kennen: Falls Sie doch einmal eine Missbilligung oder Rüge von Ihrer Kammer erhalten, ist das kein Rechtsuntergang: Sie können diese vor dem zuständigen Anwaltsgerichtshof überprüfen lassen. Die Erfolgsaussichten hängen vom Einzelfall ab – im hier diskutierten Fall bekam der Anwalt vollumfänglich Recht. Entscheidend ist, darzulegen, dass Sie Ihrer Pflicht im Grunde nachgekommen sind bzw. kein schuldhaftes Fehlverhalten vorliegt. Dokumentieren Sie daher stets Ihre Korrespondenz und Empfangsbestätigungen. So können Sie im Ernstfall belegen, was Sie unternommen haben.
Das Urteil des AGH Berlin vom 17.07.2025 gibt wichtige Orientierung im Spannungsfeld zwischen digitalem Rechtsverkehr und traditionellen Verfahrensgrundsätzen. Für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte bedeutet es: Neue Technik ändert nicht alles. Wer über das beA Dokumente erhält, muss sich zwar an die elektronischen Abläufe gewöhnen, doch die grundlegende Pflicht, Zustellungen bewusst entgegenzunehmen und zu quittieren, bleibt bestehen. Zugleich macht die Entscheidung deutlich, dass Berufsaufsicht mit Augenmaß erfolgen muss – eine förmliche Rüge ist fehl am Platze, wenn der Anwalt erkennbar nicht pflichtwidrig handelt.
Für die anwaltliche Praxis gilt daher: Sorgfalt vor Schnellschuss. Es empfiehlt sich, Empfangsbekenntnisse zügig (und in der geforderten Form) abzugeben und bei Unklarheiten den Dialog zu suchen, statt Fakten zu ignorieren. So lassen sich unnötige Konflikte mit Gerichten oder Kammern vermeiden und Mandanten wie Anwälte behalten Rechtssicherheit. Die Entscheidung aus Berlin unterstreicht letztlich ein Prinzip, das auch im digitalen Zeitalter Gültigkeit hat: Rechtsstaatlichkeit braucht mehr als nur einen Mausklick. Oder einfacher gesagt – lieber eine Empfangsbestätigung zu viel, als eine zu wenig.