Anwaltszwang auch vor den Amtsgerichten?

30. Oktober 2025 -

Hintergrund: Streitwertgrenze und Anwaltszwang im Zivilprozess

Nach geltendem Zivilprozessrecht müssen Parteien vor den Landgerichten, Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof durch Anwält:innen vertreten werden (sogenannter Anwaltszwang). Vor den Amtsgerichten besteht dagegen bislang kein zwingender Vertretungszwang – dort können sich Bürgerinnen und Bürger in Zivilsachen bis zu einem Streitwert von 5.000 € selbst vertreten. Diese Wertgrenze von 5.000 € bestimmt, bis zu welchem Streitwert die Amtsgerichte erstinstanzlich zuständig sind (§ 23 Nr. 1 GVG) und markiert zugleich die Schwelle, ab der derzeit Anwaltszwang gilt (weil ab 5.000 € das Landgericht zuständig wird, wo § 78 ZPO die anwaltliche Vertretung vorschreibt).

Aktuell steht eine Reform im Raum, die die Zuständigkeitsgrenze der Amtsgerichte deutlich anheben will: Künftig sollen die Amtsgerichte erstinstanzlich Zivilsachen bis 10.000 € Streitwert verhandeln dürfen. Diese geplante Verdoppelung der Streitwertgrenze – sie wurde seit rund 30 Jahren nicht mehr angepasst – soll u.a. dazu dienen, die Amtsgerichte zu stärken und bürgernäher zu machen. Für Rechtssuchende würde das bedeuten, dass sie sich in Verfahren bis 10.000 € vor dem Amtsgericht ohne Anwaltszwang selbst vertreten könnten.

Position des Deutschen Anwaltvereins (DAV)

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) warnt vor den Folgen dieser Reform und fordert, trotz einer höheren Amtsgerichtszuständigkeit, den Anwaltszwang weiterhin ab einem Streitwert von 5.000 € beizubehalten. Konkret spricht sich der DAV dafür aus, § 78 ZPO dahingehend anzupassen, dass die Verpflichtung zur anwaltlichen Vertretung von der Gerichtszuständigkeit entkoppelt wird. Auf diese Weise soll erreicht werden, dass auch bei Amtsgerichtsprozessen mit Streitwerten über 5.000 € eine Anwältin oder ein Anwalt eingeschaltet sein muss. Anderenfalls, so die Befürchtung, werde den Parteien suggeriert, es handele sich um einfach gelagerte Verfahren, was Nachteile für Verbraucherinnen und Verbraucher mit sich bringen könne. Der DAV betont, hierbei gehe es nicht um Anwaltsinteressen, sondern um Verbraucherschutz und die Effizienz der Justiz, die ohne frühzeitige anwaltliche Beteiligung „auf dem Spiel“ stünden.

Verbraucherschutz und Waffengleichheit im Zivilprozess

Aus Sicht des DAV gefährdet ein Verzicht auf Anwält:innen in Verfahren über 5.000 € das Kräftegleichgewicht zwischen den Parteien. Juristische Laien könnten komplexe prozessuale Anforderungen und materielle Rechtsfragen leicht unterschätzen. DAV-Präsident Rechtsanwalt Stefan von Raumer warnt, ohne zwingende Vertretung ab diesem Streitwert werde den Beteiligten fälschlich vermittelt, es handle sich um unkomplizierte Sachverhalte. Dabei besteht gerade im Zivilprozess das Risiko, dass wichtige Aspekte übersehen oder Fristen versäumt werden, da das Gericht anders als in manchen anderen Verfahrensordnungen nicht von Amts wegen ermittelt, sondern nur über das verhandelt, was die Parteien vortragen. So kann etwa die Versäumung der Einrede der Verjährung den Anspruch kosten, ohne dass das Gericht darauf hinweisen darf.

Der DAV hebt hervor, dass die Waffengleichheit (Gleichstellung der Parteien) nicht nur gegenüber potenziell übermächtigen Gegnern („David gegen Goliath“-Situationen) relevant ist, sondern auch im Verhältnis zum Gericht. Ohne professionelle Unterstützung laufen unerfahrene Kläger:innen oder Beklagte Gefahr, ihrem Gegner – insbesondere wenn dieser anwaltlich vertreten ist – und der prozessualen Situation nicht auf Augenhöhe zu begegnen. In der Praxis überschätzen viele ihre rechtlichen Kenntnisse – was durch scheinbar leicht zugängliches Internetwissen (Stichwort Google oder ChatGPT) noch begünstigt wird – und bemerken gar nicht, wenn sie prozessual überfordert sind. Fehler oder Versäumnisse lassen sich oft später nicht mehr korrigieren, selbst nicht in der Berufungsinstanz und auch dann nicht, wenn dort doch noch ein Anwalt eingeschaltet wird.

Schließlich macht der DAV deutlich, welche wirtschaftliche Bedeutung Streitwerte zwischen 5.000 € und 10.000 € für Privatpersonen haben. Beträge in dieser Größenordnung entsprechen schnell vier bis fünf Monatsgehältern eines durchschnittlichen Einkommens. Es handelt sich also um Summen, deren Verlust oder Fehlentscheide viele Bürger empfindlich treffen würden. Nach Auffassung des DAV trägt der Staat hier eine besondere Verantwortung, Bürgerinnen und Bürger vor den Folgen von Laienprozessen zu schützen. Die verpflichtende Einschaltung von Anwält:innen ab 5.000 € sei daher weiterhin notwendig, um Verbraucher nicht in vermeintlich „einfachen“ Verfahren ins offene Messer laufen zu lassen.

Effiziente Verfahren und Entlastung der Gerichte

Neben dem Verbraucherschutz führt der DAV auch justizpraktische Effizienzgründe ins Feld. Anwaltlich vertretene Verfahren verlaufen deutlich effizienter und rechtsförmiger als Verfahren mit „Naturalparteien“, also Beteiligten ohne Rechtsbeistand. Gut vorbereitete anwaltliche Schriftsätze und die Sachkunde der Prozessbevollmächtigten tragen dazu bei, dass Gerichte zügiger entscheiden können und seltener aufgrund prozessualer Fehler erneut verhandeln oder entscheiden müssen. Der DAV-Präsident weist darauf hin, dass auch Richter und Rechtspfleger „froh“ darüber seien, wenn sie es nicht ausschließlich mit unvertretenen Parteien zu tun haben. Dadurch werden gerichtliche Ressourcen geschont und Verzögerungen minimiert.

Die vom DAV geforderte Entkopplung von Gerichtszuweisung und Anwaltszwang liege somit im Interesse aller Beteiligten – nicht nur der Bürger, sondern auch der Justiz selbst. Würde man hingegen die Wertgrenze für den Anwaltszwang unreflektiert auf 10.000 € anheben, könnten viele Verfahren ohne nötige professionelle Begleitung geführt werden. Das könnte nicht nur die betroffenen Rechtssuchenden überfordern, sondern langfristig auch zu Mehrbelastungen der Gerichte führen, wenn sich unvertretene Parteien in komplexeren Fällen verzetteln oder verfahrene Prozesse nachträglich „geradegebogen“ werden müssten.

Der Deutsche Anwaltverein plädiert eindringlich dafür, die derzeitige Wertgrenze von 5.000 € für den Anwaltszwang beizubehalten – auch falls die Amtsgerichte künftig bis 10.000 € zuständig sein sollten. Zur Umsetzung dieser Forderung müsste der Gesetzgeber § 78 ZPO entsprechend ändern, damit die Vertretungspflicht unabhängig von der gerichtlichen Zuständigkeit bereits ab dem genannten Streitwert greift. Aus Sicht des DAV ist dies unerlässlich, um die Qualität und Fairness zivilgerichtlicher Verfahren sicherzustellen. Zusammenfassend nennt der DAV insbesondere folgende Gründe für sein Anliegen:

  • Schutz der Verbraucher und Wahrung der Waffengleichheit: Ohne Anwält:innen ab 5.000 € drohen Nachteile für unerfahrene Parteien – wichtige Ansprüche oder Einwendungen können übersehen werden, was die Rechtsposition von Bürgern schwächt.
  • Effizientere Verfahren und Entlastung der Justiz: Professionelle Vertretung ab der genannten Schwelle sorgt für strukturiertere Prozesse und schont die Ressourcen der Gerichte, da weniger prozessuale Fehler und Verzögerungen auftreten.
  • Bedeutende Streitwerte für Betroffene: Beträge zwischen 5.000 € und 10.000 € stellen für viele Menschen erhebliche Vermögenswerte dar (oft mehrere Monatsgehälter), bei denen der Staat eine Verantwortung hat, sie nicht ohne fachkundige Unterstützung vor Gericht streiten zu lassen.

Die Position des DAV läuft letztlich darauf hinaus, Verbraucherschutz und Rechtsdurchsetzung in der Praxis zu stärken. Ob der Gesetzgeber diesem Appell nachkommt und den Anwaltszwang auch vor den Amtsgerichten ab einem Streitwert von 5.000 € einführt, bleibt abzuwarten. Fest steht jedoch, dass nach Auffassung der Anwaltschaft die geplante Streitwertanhebung nicht zulasten der Rechtssuchenden gehen darf.