BAG: Nachberatung per Telefonkonferenz weiterhin zulässig

20. September 2025 -

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einem aktuellen Beschluss (v. 09.09.2025 – 5 AZN 142/25) klargestellt, dass Gerichte auch nach der Einführung neuer Videokonferenz-Regelungen weiterhin per Telefonkonferenz über die Wiedereröffnung einer bereits geschlossenen mündlichen Verhandlung beraten dürfen. Voraussetzung ist, dass das Urteil zwar bereits intern beraten und beschlossen, aber noch nicht verkündet ist, und alle mitwirkenden Richter einer Telefonkonferenz zustimmen. Der Beschluss des 5. Senats vom 09.09.2025 behandelt damit einen wichtigen prozessualen Aspekt für die arbeitsgerichtliche Praxis – insbesondere den Umgang mit nachträglichen Schriftsätzen und die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts bei Nachberatung (erneuter Beratung nach Schluss der Verhandlung).

Hintergrund: Schriftsatz nach Schluss der mündlichen Verhandlung

In vielen Fällen kommt es vor, dass nach Schluss der mündlichen Verhandlung, aber vor Verkündung des Urteils noch Schriftsätze einer Partei bei Gericht eingehen. Nach ständiger Rechtsprechung – und entsprechend § 156 ZPO – muss das Gericht solche bis zur Urteilsverkündung eingehenden Schriftsätze zur Kenntnis nehmen und prüfen, ob die mündliche Verhandlung wiedereröffnet werden soll. Dies gilt selbst dann, wenn das Urteil bereits intern beraten und abstimmungsreif ist (§ 309 ZPO) – bis zur tatsächlichen Verkündung ist das Verfahren insoweit noch offen für neue entscheidungserhebliche Umstände.

Ob eine Wiedereröffnung der Verhandlung erfolgt, entscheidet das Gericht durch Beschluss. Wichtig ist hierbei, dass diese Entscheidung in richtiger Besetzung getroffen wird. Nach § 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG i.V.m. § 547 Nr. 1 ZPO stellt nämlich eine nicht ordnungsgemäße Gerichtsbesetzung einen absoluten Revisionsgrund dar (also einen so schwerwiegenden Verfahrensfehler, dass eine letztinstanzliche Entscheidung aufgehoben werden muss). Im vorliegenden Fall hatte das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln in einem Berufungsverfahren zwar das Urteil bereits gefällt, aber noch nicht verkündet. Nach Zugang eines neuen Schriftsatzes der Beklagten stellte sich die Frage der Wiedereröffnung. Das LAG entschied über die Wiedereröffnung – jedoch ohne einen der ehrenamtlichen Richter, der an der vorherigen mündlichen Verhandlung beteiligt gewesen war. Dieser befand sich zum Zeitpunkt der Beratung in einer Rehabilitation (Kur) und wurde nicht einbezogen. Die gegnerische Partei rügte daraufhin die fehlerhafte Besetzung des Gerichts.

Entscheidung des BAG: Vollständige Besetzung auch bei Nachberatung

Das BAG gab der Beschwerde statt und erklärte, dass das LAG bei der Beratung über die Wiedereröffnung nicht ordnungsgemäß besetzt war. Grundsätzlich müssen an der Entscheidung über die Wiedereröffnung alle Richter mitwirken, die an der vorangegangenen letzten mündlichen Verhandlung beteiligt waren. Dies umfasst ausdrücklich auch ehrenamtliche Richter (Laienrichter), wenn sie an der Verhandlung mitgewirkt haben. Eine Entscheidung darüber darf nicht allein durch den Vorsitzenden oder einen reduzierten Spruchkörper getroffen werden.

Im konkreten Fall hätte der im Januar 2025 abwesende ehrenamtliche Richter also in die Beratung einbezogen werden müssen. Der Umstand, dass er sich in einer dreiwöchigen Reha wegen einer Knieoperation befand, rechtfertigte es nicht, ohne ihn zu beraten. Das BAG betonte, dass nicht ersichtlich war, warum der Richter aufgrund der Reha nicht in der Lage gewesen wäre, an der Beratung teilzunehmen – zum Beispiel im Wege einer telefonischen Konferenz. Ebenso wenig gab es Anhaltspunkte, dass die übrigen Richter einem solchen Vorgehen nicht zugestimmt hätten.

Nur in Ausnahmefällen darf eine Nachberatung ohne einen ursprünglich beteiligten Richter stattfinden, etwa wenn dieser dauerhaft oder auf unabsehbare Zeit verhindert ist. Ein bloß vorübergehendes Fehlen (z.B. ein zeitlich begrenzter Reha-Aufenthalt) reicht nicht aus, um auf seine Mitwirkung zu verzichten. Das LAG hätte – so das BAG – entweder eine Zuschaltung des erkrankten Richters per Telefon- oder Videokonferenz versuchen oder die Verkündung des Urteils verschieben müssen, bis der Richter wieder verfügbar war. Da es dies unterließ, war die Entscheidung über die Wiedereröffnung fehlerhaft besetzt und das Berufungsurteil wurde insoweit aufgehoben.

Telefon- vs. Videokonferenz: neue gesetzliche Regelungen 2024

Ein zentraler Aspekt des Beschlusses betrifft die Art und Weise der Nachberatung (also wie die Richter kommunizieren können, um über die Wiedereröffnung zu entscheiden). Bereits vor 2024 war durch die Rechtsprechung anerkannt, dass eine solche Nachberatung – wenn eine erneute physische Zusammenkunft der Richter schwierig ist – im Wege einer Telefonkonferenz stattfinden kann. Voraussetzungen sind, dass alle Richter damit einverstanden sind und technisch gewährleistet ist, dass jeder Teilnehmer alle anderen gleichzeitig hören und mit ihnen sprechen kann. Zudem muss jederzeit die Möglichkeit bestehen, das Telefonat abzubrechen und die Beratung mündlich in Anwesenheit aller fortzusetzen, falls erforderlich. Diese Praxis hat das BAG schon in früheren Entscheidungen gebilligt (vgl. z.B. BAG v. 14.04.2015 – 1 AZR 223/14; BAG v. 31.07.2018 – 3 AZN 320/18).

Zum 19. Juli 2024 trat jedoch das Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in Kraft (BGBl. I 2024 Nr. 237). Dadurch wurde § 193 Abs. 1 GVG neu gefasst und in § 9 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 ArbGG eine Spezialregelung für die Arbeitsgerichtsbarkeit geschaffen. Nunmehr ist gesetzlich erlaubt, dass Gerichte Beratungen und Abstimmungen der Richter ganz oder teilweise per Bild- und Tonübertragung (Videokonferenz) durchführen – allerdings nur mit Einverständnis aller Richter und nur dann, wenn es sich nicht um die erstmalige gemeinsame Beratung mit ehrenamtlichen Richtern nach einer mündlichen Verhandlung handelt. Mit anderen Worten: Die erste Beratung nach einer Verhandlung mit Schöffen oder ehrenamtlichen Richtern (also typischerweise direkt im Anschluss an die mündliche Verhandlung, in der das Urteil beraten wird) muss weiterhin in physischer Präsenz erfolgen. Für weitere Beratungen danach, insbesondere Nachberatungen (etwa über eine Wiedereröffnung), darf nun aber auch Videokonferenztechnik eingesetzt werden.

Fraglich war, ob durch diese Neuregelung die bisherige Möglichkeit der reinen Telefonkonferenz wegfällt – insbesondere, da das Gesetz nun explizit die Videoübertragung erwähnt. In der Literatur wurde teils die Auffassung vertreten, dass Telefonkonferenzen nicht mehr zulässig seien, da nun die Videokonferenz als modernes Mittel vorgesehen ist (so etwa eine Stimme in BeckOK ArbR, § 9 ArbGG Rn. 3, Stand Juni 2025, die vom BAG zitiert wird). Das BAG stellt jedoch klar, dass sich an der Zulässigkeit von Nachberatungen per Telefon nichts geändert hat. Die neuen Vorschriften ermöglichen lediglich zusätzlich den Einsatz von Videotechnik. Sie sollen die Kommunikation flexibilisieren, nicht aber die bisher anerkannte Telefonkonferenz verdrängen. Die Gesetzesmaterialien bestätigen dies ausdrücklich: In der Begründung des Gesetzes wird – unter Verweis auf die BAG-Rechtsprechung – hervorgehoben, dass Telefonkonferenzen bei Nachberatungen “nach der Rechtsprechung heute schon […] anerkannt” sind und Nachberatungen daher auch per Bild- und Tonübertragung ermöglicht werden sollen. Der Gesetzgeber wollte also Videokonferenzen als weitere Option eröffnen. Die zuvor etablierte Möglichkeit der Beratung per Telefonkonferenz bleibt weiterhin bestehen und sollte durch die Neuregelung gerade nicht abgeschafft werden.

Konsequenzen für die arbeitsgerichtliche Praxis

Für die Praxis – insbesondere für Rechtsanwälte in Arbeitsrechtsstreitigkeiten – ergeben sich aus diesem Beschluss mehrere wichtige Punkte:

  • Beachtung nachträglicher Schriftsätze: Bis zur Urteilsverkündung müssen Gerichte jede neue Eingabe einer Partei beachten und prüfen, ob eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung geboten ist. Anwältinnen und Anwälte sollten daher wissen, dass auch spät eingereichte Schriftsätze nicht ignoriert werden dürfen. Umgekehrt kann ein solcher Schriftsatz (z.B. mit neuen erheblichen Argumenten oder Beweismitteln) ein wirkungsvoller prozessualer Schachzug sein, um ggf. doch noch eine weitere Verhandlung zu erzwingen.
  • Entscheidung nur in voller Besetzung: Über die Wiedereröffnung entscheidet immer der volle Spruchkörper der letzten Verhandlung, nicht etwa der Vorsitzende alleine. Waren an der Verhandlung ehrenamtliche Richter beteiligt, müssen auch sie an der Nachberatung mitwirken. Anwälte sollten im Blick behalten, ob das Gericht diese Vorgaben einhält – eine Abweichung (z.B. fehlende Beteiligung eines Richters) begründet eine Besetzungsrüge und kann im Rechtsmittelverfahren zum Erfolg führen.
  • Telefon- und Videokonferenz zulässig: Die Beratung über eine Wiedereröffnung darf – sofern eine persönliche Zusammenkunft der Richter nicht möglich oder praktikabel ist – per Telefonkonferenz erfolgen. Seit 2024 ist alternativ auch die Videokonferenz gesetzlich erlaubt. Wichtig ist in beiden Fällen, dass alle Richter damit einverstanden sind und technisch alle gleichzeitig kommunizieren können. Für die gerichtliche Praxis bedeutet dies Flexibilität: Richter können etwa aus dem Homeoffice, von einer Dienstreise oder – wie im entschiedenen Fall – sogar aus der Reha an der Beratung teilnehmen, ohne dass ein Verfahrensfehler entsteht, solange alle Beteiligten zustimmen und die Kommunikation lückenlos ist.
  • Temporäre Verhinderung vs. dauerhafter Ausfall: Ist ein Richter vorübergehend abwesend (etwa krankgeschrieben oder in Reha), darf die Nachberatung nicht ohne ihn stattfinden, sofern absehbar ist, dass er prinzipiell teilnehmen könnte. Das Gericht sollte dann alternative Wege nutzen (Telefon/Video) oder notfalls die Entscheidung zeitlich verschieben, bis der Richter verfügbar ist. Nur wenn ein Richter dauerhaft oder auf unbestimmte Zeit ausfällt, dürfen die übrigen ohne ihn entscheiden (z.B. bei Ausscheiden aus dem Dienst oder längerfristiger Verhinderung). Diese Unterscheidung ist für die Praxis wichtig, um Verfahrensfehler zu vermeiden.
  • Rechtsmittel überprüfen: Im Falle einer unterlegenen Partei lohnt sich ein genauer Blick auf das Verfahren. Wurde ein nachträglicher Schriftsatz möglicherweise nicht beachtet oder die Entscheidung über dessen Berücksichtigung in falscher Besetzung getroffen, kann dies ein Ansatzpunkt für eine Nichtzulassungsbeschwerde oder Revision sein. Ein solcher Besetzungsfehler führt aufgrund des absoluten Revisionsgrundes nach § 547 Nr. 1 ZPO regelmäßig zur Aufhebung des Urteils – unabhängig davon, ob der Fehler den Ausgang des Verfahrens materiell beeinflusst hat.

Das BAG betont mit seinem Beschluss die Wichtigkeit der formellen Verfahrensabläufe im Arbeitsgerichtsprozess. Trotz neuer technischer Möglichkeiten (Videokonferenz) bleibt die bewährte Telefonkonferenz ein zulässiges Mittel, um alle Richter – auch ehrenamtliche – in eine notwendige Nachberatung einzubeziehen. Für die anwaltliche Praxis bedeutet dies zum einen, die Chancen eines späten Schriftsatzes zu kennen, und zum anderen, bei möglichen Verfahrensfehlern konsequent die Besetzung des Gerichts zu rügen. Der Beschluss sorgt damit für Rechtssicherheit: Weder moderne Technik noch organisatorische Hürden dürfen dazu führen, dass am Ende ohne den vollständigen Spruchkörper entschieden wird – und er liefert klare Leitlinien, wie Gerichte in solchen Situationen vorgehen sollten.