Bei Inkassokosten muss Berufung vom Amtsgericht zugelassen werden

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 26. Mai 2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 1762/16 entschieden, dass die Nichtzulassung der Berufung bei ungeklärter Rechtslage in Bezug auf Inkassokosten verfassungswidrig ist.

Die Beschwerdeführerin schloss im Oktober 2013 mit der Beklagten des Ausgangsverfahrens einen Vertrag über winterdienstliche Gehwegreinigungen. Nachdem die Beklagte trotz Rechnungslegung und anschließenden Mahnungen jeweils unter Fristsetzung die vereinbarte Vergütung nicht bezahlte, beauftragte die Beschwerdeführerin einen Inkassodienstleister. Nach Zahlungsaufforderung durch diesen beglich die Beklagte die Hauptforderung, verweigerte jedoch die Zahlung hinsichtlich des geltend gemachten Verzugsschadens.

Mit Schriftsatz vom 26. Januar 2016 reichte die Beschwerdeführerin beim Amtsgericht Pankow/Weißensee Klage ein, mit der sie die Inkassokosten in Höhe von 147,56 Euro nebst weiterem Verzugsschaden geltend machte. Bereits mit Zustellung der Klage wies das Amtsgericht die Beschwerdeführerin mit gerichtlichem Schreiben vom 16. März 2016 darauf hin, dass Inkassokosten nicht, auch nicht in Höhe einer Anwaltsgebühr, erstattungsfähig seien. Hierzu nahm die Beschwerdeführerin Stellung und führte aus, dass die Erstattungsfähigkeit von Inkassokosten durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts (verweisend auf: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. September 2011 – 1 BvR 1012/11 -) anerkannt sei.

Mit Schreiben vom 30. März 2016 führte das Amtsgericht aus, dass die Inkassokosten der Beschwerdeführerin in keiner Höhe auf der allein in Betracht zu ziehenden Grundlage der §§ 280, 286, 249 BGB zustünden.

Daraufhin beantragte die Beschwerdeführerin, die zuständige Richterin gemäß § 42 ZPO wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass die richterlichen Hinweise die höchstrichterliche Rechtsprechung missachteten und willkürlich seien. Äußerst hilfsweise beantrage sie, die Berufung nach § 511 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zuzulassen. Das Ablehnungsgesuch wies das Amtsgericht mit Beschluss vom 22. April 2016 zurück.

Mit dem hier angefochtenen Versäumnisteil- und Schlussurteil vom 13. Juni 2016 gab das Amtsgericht der Beschwerdeführerin hinsichtlich des weiteren Verzugsschadens recht, wies die Klage hinsichtlich der geltend gemachten Inkassokosten jedoch ab. Die Inkassokosten stünden der Beschwerdeführerin in keiner Höhe auf der allein in Betracht zu ziehenden Grundlage der §§ 280, 286, 249 BGB zu. Möge die Auffassung der Erstattungsfähigkeit von Inkassokosten in der Literatur vorherrschen und in der Rechtsprechung auch vertreten werden, so könne das angerufene Amtsgericht ihr jedoch nicht folgen.

Die Berufung sei nicht zuzulassen gewesen, da die Voraussetzungen des § 511 Abs. 4 ZPO nicht gegeben seien. In Betracht zu ziehen sei allein eine Zulassung der Berufung unter dem Gesichtspunkt, dass es die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich mache, dass das Berufungsgericht über die hier entschiedene Frage entscheide. Diese Erforderlichkeit sei vorliegend nicht festzustellen. Es gebe keine einheitliche Rechtsprechung, die es zu sichern gäbe. Dies könne man schon ohne Mühen der vielfach zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 1012/11 entnehmen. Es stelle sich insoweit die Frage, inwieweit die Stimme des hiesigen Berufungsgerichts in Anbetracht der Vielstimmigkeit zur Beförderung einer Einstimmigkeit beitragen könne. Dies vermöge das Amtsgericht nicht zu sehen. Denn auch unter den Oberlandesgerichten herrsche eine Meinungsvielfalt. Bis auf diese Ebene werde es aber der vorliegende Rechtsstreit nie schaffen.

Die von der Beschwerdeführerin gegen dieses Urteil erhobene Gehörsrüge nach § 321a ZPO wies das Amtsgericht mit dem ebenfalls angefochtenen Beschluss vom 15. Juli 2016 zurück.

Die Beschwerdeführerin hat am 19. August 2016 Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie rügt eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.

Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, dass sich die Nichtanwendung von § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze und Kriterien als objektive Willkür darstelle, da die Zulassung der Berufung zwingend erforderlich gewesen sei.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

Das angegriffene Versäumnisteil- und Schlussurteil vom 13. Juni 2016 verstößt gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür. Das Amtsgericht hat den Zugang zur Berufungsinstanz durch eine aus Sachgründen nicht zu rechtfertigende Handhabung von § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alternative 3 ZPO unzumutbar eingeschränkt.

Für den Zivilprozess ergibt sich aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG ein Recht auf effektiven Rechtsschutz, das bei der Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind, zu berücksichtigen ist. Sieht die betreffende Prozessordnung ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 69, 381 <385>; 74, 228 <234>; 77, 275 <284>; 104, 220 <231 f.>; 125, 104 <136 f.>; BVerfGK 5, 189 <193>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juli 2017 – 2 BvR 2157/15 -, Rn. 13). Aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen und den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränkend ist eine Entscheidung insbesondere dann, wenn das Gericht ohne Auseinandersetzung mit der Sach- und Rechtslage eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder deren Inhalt bei Auslegung und Anwendung in krasser Weise missdeutet (vgl. BVerfGE 87, 273 <278 f.>; 89, 1 <13 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juli 2017, a.a.O.).

Letzteres ist vorliegend der Fall. Nach § 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Alt. 3 ZPO lässt das Gericht des ersten Rechtszugs die Berufung gegen ein die Partei mit nicht mehr als 600 Euro beschwerendes Urteil zu, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Damit soll ausweislich der Gesetzesmaterialien vermieden werden, dass im Zuständigkeitsbereich eines Berufungsgerichts schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen, wobei es darauf ankommt, welche Bedeutung die angefochtene Entscheidung im Ganzen hat. Von solchen Unterschieden ist bei der Abweichung der Entscheidung eines höherrangigen Gerichts in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage insbesondere dann auszugehen, wenn die Rechtsfrage von allgemeiner Bedeutung ist, weil sie in einer Mehrzahl von Fällen auftreten kann (vgl. BTDrucks 14, 4722, S. 93 <104>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 4. Juli 2017, a.a.O., Rn. 17 m.w.N.).

Gemessen daran hätte das Amtsgericht die Berufung zulassen müssen, nachdem es die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Inkassokosten für grundsätzlich nicht erstattungsfähig angesehen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat in der von der Beschwerdeführerin mehrfach zitierten Entscheidung vom 7. September 2011 hierzu bereits ausgeführt:

„Diese Rechtslage hat das Amtsgericht verkannt. Die Kosten eines Inkassobüros können – wenngleich im Einzelnen manches umstritten ist (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juni 2005 – VIII ZR 299/04 -, NJW 2005, S. 2991 <2994> m.w.N.) – nach vielfacher höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung und herrschender Meinung in der Literatur, unbeschadet bestimmter Einschränkungen, grundsätzlich als Verzugsschaden geltend gemacht werden (vgl. etwa BGH, Urteil vom 24. Mai 1967 – VIII ZR 278/64 -, juris; OLG München, Urteil vom 29. No-vember 1974 – 19 U 3081/74 -, NJW 1975, S. 832; OLG Karlsruhe, Urteil vom 11. Juni 1986 – 6 U 234/85 -, NJW-RR 1987, S. 15; OLG Frankfurt, Urteil vom 14. November 1989 – 11 U 14/89 -, NJW-RR 1990, S. 729; OLG Dresden, Urteil vom 4. April 1995 – 13 U 1515/93 -, NJW-RR 1996, S.1471; OLG Oldenburg, Urteil vom 24. April 2006 – 11 U 8/06 -, JurBüro 2006, S. 481; Unberath, in: Bamberger/Roth, BeckOK zum BGB, Stand: 1. Februar 2009, § 286 Rn. 74; Ernst, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 286 Rn. 157 m.w.N.). Nach herrschender Meinung anerkannte Einschränkungen sind etwa, dass die Höhe der geltend gemachten Kosten die alternativ bei Beauftragung eines Rechtsanwalts entstehenden Kosten nicht übersteigen dürfen und dass der Schuldner zum Zeitpunkt der Beauftragung nicht bereits von vornherein erkennbar zahlungsunwillig gewesen ist (vgl. Unberath, a.a.O., m.w.N.; Ernst, a.a.O., m.w.N.). Ersteres hat die Beschwerdeführerin in ihrem Klageantrag beachtet, zu letzterem hat sie in ihrem Sachvortrag schlüssig Stellung genommen. Trotz Hinweis auf entsprechende höchst- und obergerichtliche Rechtsprechung seitens der Beschwerdeführerin hat das Amtsgericht, ohne sich in seinem Urteil erkennbar mit dieser auseinanderzusetzen, hiervon wesentlich abweichend entschieden, indem es die Bemühungen der Inkassounternehmen grundsätzlich als nicht zweckgerecht und damit regelmäßig als gegen die Schadensminderungspflicht verstoßend angesehen hat.

Diese – vorliegend auch entscheidungserhebliche – Rechtsfrage betrifft eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten. Die Beauftragung von Inkassounternehmen zur Forderungseinziehung ist gängige Praxis und führt in Einzelfällen, wie bereits die oben zitierten Fundstellen zeigen, immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten. Da das Amtsgericht mit seinen Entscheidungsgründen zu erkennen gegeben hat, grundsätzlich anders entscheiden zu wollen, besteht insofern auch eine Wiederholungsgefahr“ (Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. September 2011 – 1 BvR 1012/11 -, Rn. 16 f.).

Nichts Anderes gilt im vorliegenden Fall. Die Beschwerdeführerin hat bereits im zivilgerichtlichen Verfahren auf die oben genannte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hingewiesen und vorgetragen, dass die geltend gemachten Inkassokosten vorliegend weder die alternativ bei Beauftragung eines Rechtsanwalts anfallenden Kosten überstiegen noch die Beklagte im Zeitpunkt der Beauftragung bereits von vornherein zahlungsunwillig gewesen sei. Zudem hat die Beschwerdeführerin auf eine aktuelle Entscheidung des Bundesgerichtshofs verwiesen, wonach die vorgerichtliche Beauftragung eines Rechtsdienstleisters regelmäßig selbst in einfach gelagerten Fällen erforderlich und zweckmäßig sei (vgl. BGH, Urteil vom 17. September 2015 – IX ZR 280/14 -, juris, Rn. 9). Schließlich hat die Beschwerdeführerin noch auf ein Urteil des Landgerichts Berlin als zuständiges Berufungsgericht Bezug genommen, das die Ersatzfähigkeit von Inkassokosten ebenfalls grundsätzlich bejaht hat (vgl. LG Berlin, Urteil vom 7. April 2015 – 57 S 107/14 -, juris). Dass das erkennende Gericht die Berufung angesichts dessen trotzdem nicht zugelassen hat, erweist sich als willkürlich. Dabei wiegt besonders schwer, dass das Amtsgericht seine Entscheidung in Kenntnis der oben zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts getroffen und sich gleichwohl bewusst darüber hinweggesetzt hat. Nicht zuletzt der Hinweis des Gerichts, dass der vorliegende Rechtsstreit es nie auf die Ebene der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte „schaffen“ werde, verstärkt den Eindruck, dass die Entscheidung von sachfremden Erwägungen getragen ist.