Beschwerdeverfahren ohne Abhilfeverfahren ist verfassungsgemäß

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen hat mit Beschluss vom 12.05.2020 zum Aktenzeichen 24/20.VB-2 entschieden, dass eine Beschwerdeentscheidung durch das Oberlandesgericht über eine sofortige Beschwerde gegen einen Beschluss des Landgerichts ohne vorheriges Abhilfeverfahren beim Landgericht nicht gegen die Verfassung verstößt.

Ausgangspunkt ist ein zivilrechtliches Verfahren vor dem Landgericht Köln, in dem Klage gegen die Beschwerdeführerin auf Räumung und Herausgabe der von ihr bewohnten Wohnung, Entziehung des dinglichen Wohnrechts und Zahlung er-hoben worden ist. Im Termin zur mündlichen Verhandlung stellte die Beschwerde-führerin einen Beweisantrag, nach dem eine nicht präsente Zeugin vernommen werden sollte. Die Einzelrichterin wies ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung u.a. darauf hin, dass dieses Beweisangebot verspätet sein könne.  Die Beschwerdeführerin lehnte die Einzelrichterin im Terminwegen der Besorgnis der Befangenheit ab und begründete dies u.a. damit, dass der ergangene Hinweis der abgelehnten Richterin unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sei.

3Mit Beschluss vom 26.November 2019 wies das Landgericht Köln das Ablehnungsgesuch als unbegründet zurück.

Gegen den Beschluss des Landgerichts legte die Beschwerdeführerin sofortige Beschwerde ein.

Mit Verfügung vom 2.Januar 2020 legte das Landgericht die sofortige Beschwerde dem Oberlandesgericht Köln vor. Eine vorherige Nichtabhilfeentscheidung sei im Hinblick auf die Befangenheitsgesuche gegen die zur Nichtabhilfe berufenen Richter und Richterinnen entfallen.

4Mit Schriftsatz vom 10.Januar 2020 beantragte die Beschwerdeführerin, die sofortige Beschwerde zwecks Durchführung des Abhilfeverfahrens an das Landgericht zurückzugeben. Dass das Abhilfeverfahren wegen des Ablehnungsgesuchs entfalle, sei rechtsirrig. Nach dem Gesetz sei zunächst durch die geschäftsplanmäßigen Vertreter und Vertreterinnen über den Befangenheitsantrag gegen die abgelehnten Richter und Richterinnen zu entscheiden. Sodann sei die Abhilfeentscheidung zu treffen. Erst dann sei die Sache –im Falle der Nichtabhilfe dem Beschwerdegericht vorzulegen. Anderenfalls verliere die Beschwerdeführerin eine Instanz, was den gesetzgeberischen Willen konterkariere, der ausdrücklich darauf gerichtet sei, dem Beschwerdeführer durch das Abhilfeverfahren die Instanz zu erhalten. Im Übrigen sehe §572 Abs.1 Satz1 ZPO auch nach seinem Wortlaut zwingend eine Entscheidung über die Abhilfe vor.

Die angegriffene Entscheidung nicht gegen die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 GG.

Das Oberlandesgericht hat die Gewährleistung des gesetzlichen Richters zu-nächst nicht deshalb verletzt, weil es ohne vorherige Durchführung des Nichtabhilfeverfahrens über die sofortige Beschwerde in der Sache entschieden hat. Der Senat hat diesbezüglich die Ansicht vertreten, er sei, soweit eine Abhilfeentscheidung ohne hinreichenden Grund unterblieben sei, zwar berechtigt, nicht aber verpflichtet, vor der eigenen Entscheidung eine Abhilfeentscheidung des Landgerichts herbeizuführen. Der Sinn des Abhilfeverfahrens bestehe darin, dem Ausgangsgericht aus Gründen der Prozessökonomie Gelegenheit zur Selbstkorrektur zu geben; die ordnungsgemäße Durchführung des Abhilfeverfahrens sei aber nicht Verfahrensvoraussetzung für das Beschwerdeverfahren oder für die Beschwerdeentscheidung selbst. Im vorliegenden Verfahren der Senat schon deshalb keine Veranlassung für die Rückgabe der Akten an das Landgericht, weil keine inhaltlichen Gesichtspunkte erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebracht worden seien. Diese Auslegung der in § 572 ZPO enthaltenen Regelungen über das Abhilfe-bzw. Beschwerdeverfahren lässt  –ungeachtet ihrer Richtigkeit – weder auf eine objektiv willkürliche Anwendung der Norm noch auf eine grundlegende Verkennung der Bedeutung und Tragweite der Gewährleistung des gesetzlichen Richters schließen. Zwar ist die Durchführung des Abhilfeverfahrens nach §572 Abs. 1 ZPO grundsätzlich für alle Fälle der sofortigen Beschwerde vorgesehen. Die obergerichtliche Rechtsprechung geht unter Hinweis auf Sinn und Zweck des Abhilfeverfahrens Vereinfachungs- und Beschleunigungseffekt sowie Entlastung des Beschwerdegerichts – gleichwohl davon aus, dass ein fehlerhaftes oder fehlendes Abhilfeverfahren der Beschwerdeentscheidung nicht entgegensteht (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 7.Juli 2006 –19 W 23/06, MDR 2006, 1251 = juris, Rn.17; vgl. ferner OLG Stuttgart, Beschluss vom 27.August 2002 –14 W 3/02, MDR 2003, 110 = juris, Rn.6; OLG München, Beschluss vom 12.September 2003 –21 W 2186/03, MDR 2004, 291 = juris, Rn.1; KG Berlin, Beschluss vom 20.September 2007 –2 W 158/07,JurBüro 2008, 149 =juris, Rn.5; OLG Frank-furt a.M., Beschluss vom 21.April 2008 –20 W 394/07, JurBüro 2008, 422 = juris, Rn. 4). Diese Ansicht wird von weiten Teilen der Literatur geteilt (vgl. Ball, in: Mu-sielak/Voit, ZPO, 17.Auflage2020, §572 Rn. 9a; Gehrlein, MDR 2003, 547, 552; Heßler, in: Zöller, ZPO, 33.Auflage2020, § 572 Rn.4; Hunke, in: Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle, ZPO, 78. Auflage2020, §572 Rn.10; Koch, in: Saenger, ZPO, 8.Auflage2019, §572 Rn. 7; Lipp, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5.Auflage2016, § 572 Rn.16; Lohmann, in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 11.Auflage2019, §572 Rn. 6; Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, 40.Auflage2019, §572 Rn.11), wenngleich dagegen vereinzelt im Hinblick auf die zwingende Ausgestaltung des Beschwerdeverfahrens auch Bedenken geäußert werden (Wulf, in: Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 36. Edition, Stand: 1.März 2020, §572 Rn.3). Auch die von der Beschwerdeführerin zitierte Gesetzesbegründung gibt nichts für den eindeutigen Willen des Gesetzgebers her, dass vor Ergehen des Beschwerdebeschlusses zwingend eine Nichtabhilfeentscheidung vorliegen muss. Dort heißt es, die Abhilfebefugnis diene der Selbstkontrolle des

Gerichts und erhalte dem Betroffenen die Instanz, was insbesondere in den Fällen der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sachgerecht sei. Sie verkürze das Verfahren und entlaste das Beschwerdegericht, weil es mit der Korrektur von Fehlern, die das Ausgangsgericht selbst erkenne, oder mit der Nachholung des rechtlichen Gehörs von vornherein nicht befasst werde (vgl. BT-Drs. 14/4722, S.114). Damit begründet der Gesetzgeber die Einführung des Abhilfeverfahrens im Jahr 2002 im Wesentlichen mit prozessökonomischen Erwägungen. Allein aus dem Verweis, die Abhilfebefugnis erhalte dem Betroffenen die Instanz, lässt sich insoweit nichts Gegenteiliges herleiten.

Die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene Frage zur Entscheidungsbefugnis des Beschwerdegerichts bei fehlendem oder fehlerhaftem Abhilfeverfahren ist da-nach nicht klärungsbedürftig. Zwar fehlt es bislang insoweit an einer ausdrücklichen Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu §572 ZPO. Allerdings hat der Bundesgerichtshof die Frage im Zusammenhang mit der vergleichbaren Regelung des §68 Abs. 1 FamFG bereits im Sinne des Oberlandesgerichts beantwortet (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17.Juni 2010 –V ZB 13/10, juris, Rn.11, und vom 15.Februar 2017 –XII ZB 462/16, NJW-RR 2017, 707= juris, Rn.12 f.). Den zitierten Entscheidungen lässt sich entnehmen, dass die Geltung der dort getroffenen Aussagen nicht auf Beschwerdeverfahren nach §68 FamFG beschränkt ist. So wird insbesondere nicht mit prozessualen Besonderheiten dieser speziellen Norm argumentiert; außerdem werden in der Entscheidung aus dem Jahr 2010, auf die der spätere Beschluss Bezug nimmt, ausdrücklich mehrere obergerichtliche Entscheidungen zu §572 ZPO sowie eine diesbezügliche Kommentarstelle zitiert. Auch sonst bestehen zwischen den Beschwerdeverfahren nach § 572 ZPO und §68 FamFG keine prozessualen Unterschiede, die einer Übertragung dieser Rechtsprechung entgegenstehen; insbesondere ist das Abhilfeverfahren auch nach der Regelung des §68 Abs.1 FamFG grundsätzlich in allen Fällen vorgesehen. Im Übrigen dürfte die Klärungsbedürftigkeit der Frage selbst bei Fehlen einer höchstrichterlichen Entscheidung jedenfalls nicht auf der Hand liegen, weil die vom Oberlandesgericht vertretene Auffassung der insoweit einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung sowie der ganz überwiegenden Auffassung in der Literatur entspricht und letztlich nur vereinzelt abweichende Ansichten vertreten werden (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 8.Februar 2010 –II ZR 156/09, NJW-RR 2010, 978= juris, Rn.3, unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 25.Februar 2009 –1 BvR 3598/08, BVerfGK 15, 127= juris Rn.14)