Betriebsratswahl: Weniger Kandidaten als Sitze – Keine Nachfrist zulässig

27. September 2025 -

In einem Gemeinschaftsbetrieb mit 367 Beschäftigten sollte außerhalb der regulären Wahlperiode eine Betriebsratswahl durchgeführt werden. Laut Betriebsverfassungsgesetz (§ 9 BetrVG) wären bei dieser Belegschaft neun Betriebsratsmitglieder zu wählen gewesen. Bis zum Ablauf der gesetzlichen Vorschlagsfrist von 2 Wochen (hier: bis 22. Dezember 2022) ging jedoch nur eine gültige Vorschlagsliste mit sechs Kandidat*innen ein. Es standen also weniger Wahlbewerber zur Verfügung, als Sitze zu besetzen waren.

Der eingesetzte Wahlvorstand beschloss daraufhin, eine Nachfrist von einer Woche zur Einreichung weiterer Wahlvorschläge zu setzen. Diese Ankündigung vom 23. Dezember 2022 begründete der Wahlvorstand damit, dass nicht die erforderlichen 9 Kandidaten erreicht wurden, und verwies auf § 9 Abs. 1 der Wahlordnung (WO). Gleichzeitig kündigte er an, sollte auch innerhalb der Nachfrist niemand zusätzlich kandidieren, werde ein „kleinerer Betriebsrat“ in der Größe der nächstniedrigeren Staffel des § 9 BetrVG gewählt. Bis zum Ablauf des 29. Dezember 2022 meldete sich jedoch keine weitere Person.

Die Wahl fand schließlich am 15. Februar 2023 mit den vorhandenen sechs Kandidat*innen statt. Alle sechs erhielten Stimmen und zogen in den Betriebsrat ein. Das Gremium blieb damit unterbesetzt (drei Sitze unbesetzt).

Anfechtung der Wahl durch den Arbeitgeber

Unmittelbar nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses fochten die beiden Arbeitgeberinnen des Gemeinschaftsbetriebs die Betriebsratswahl gemäß § 19 BetrVG an. Sie rügten mehrere vermeintliche Verfahrensfehler, unter anderem, dass die vom Wahlvorstand gesetzte Nachfrist zu kurz bemessen gewesen sei. Aus Sicht der Arbeitgeber war das Wahlverfahren fehlerhaft; das Arbeitsgericht (1. Instanz) gab ihnen Recht und erklärte die Wahl für unwirksam. Auch das Landesarbeitsgericht (2. Instanz) hielt die Wahl wegen dieses Mangels für unwirksam, sodass der Betriebsrat als Rechtsbeschwerdeführer den Fall vor das Bundesarbeitsgericht (BAG) brachte.

Entscheidung des BAG: Keine Pflicht zur Nachfrist bei zu wenigen Kandidaten

Der 7. Senat des BAG hat am 22. Mai 2025 (Az. 7 ABR 10/24) die Entscheidung des LAG aufgehoben. Das BAG stellte klar, dass ein Wahlvorstand nicht verpflichtet ist, eine Nachfrist anzukündigen oder abzuwarten, nur weil weniger Kandidaten als vorgesehene Sitze vorhanden sind. Eine Nachfrist ist laut Gesetz nur vorgesehen, wenn überhaupt keine gültige Vorschlagsliste fristgerecht eingereicht wurde. In § 9 Abs. 1 WO heißt es, dass der Wahlvorstand in dem Fall, dass bis zum Fristablauf kein Wahlvorschlag vorliegt, eine Nachfrist von einer Woche setzen muss. Dieser Fall lag hier jedoch nicht vor – es gab ja eine gültige Liste, wenngleich mit weniger Bewerbern als neun. Folglich lag kein Anwendungsfall des § 9 WO vor, und es bestand keine Pflicht zur Nachfristsetzung.

Das BAG verneinte auch das Vorliegen einer planwidrigen Gesetzeslücke. Einige Stimmen in der Literatur hatten argumentiert, man müsse § 9 WO analog anwenden, um in solchen Fällen (weniger Kandidaten als Sitze) doch eine Nachfrist zu ermöglichen oder gar zu erzwingen. Insbesondere wurde vertreten (vgl. Boemke, jurisPR-ArbR 38/2024), es sei sinnvoll, den Kandidatenkreis durch eine zweite Frist zu erweitern. Dem erteilte das BAG jedoch eine Absage: Es fehle an einer unbewussten Regelungslücke des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber habe bewusst keine Pflicht vorgesehen, bei zu wenigen Kandidaten „nachzufassen“. Anders ausgedrückt: Die Situation war vom Gesetzgeber bedacht – er hat keine Nachfrist vorgeschrieben, also dürfen Gerichte eine solche Pflicht nicht künstlich konstruieren. Allein der Umstand, dass eine Verlängerung der Frist nützlich sein könnte, reicht nicht, um per Analogie § 9 WO auszudehnen. Daher scheidet eine analoge Anwendung der Nachfristregel aus.

Entscheidend hob das BAG hervor, dass eine Betriebsratswahl nicht daran scheitert, wenn sich weniger Kandidaten finden als eigentlich Sitze zu vergeben sind. Weder das Betriebsverfassungsgesetz noch die Wahlordnung verlangen eine Mindestanzahl von Bewerbern proportional zur Sitzanzahl – maßgeblich ist nur, dass überhaupt mindestens eine gültige Vorschlagsliste vorliegt. Liegt mindestens ein gültiger Wahlvorschlag vor, muss die Wahl durchgeführt werden; sie darf nicht abgesagt oder unbegrenzt verschoben werden, nur weil nicht genügend Kandidaten antreten. Dies entspricht dem Grundgedanken des § 1 Abs. 1 BetrVG, wonach in jedem Betrieb mit ausreichend wahlberechtigten und wählbaren Beschäftigten ein Betriebsrat gewählt werden soll.

Verstoß des Wahlvorstands und Auswirkung auf das Wahlergebnis

Interessanterweise stellte das BAG fest, dass der Wahlvorstand im vorliegenden Fall durch die eigenmächtige Nachfristsetzung gegen das Wahlverfahren verstoßen hat. Die Frist zur Einreichung von Wahlvorschlägen (nach § 6 Abs. 1 Satz 2 WO) beträgt fix zwei Wochen ab Erlass des Wahlausschreibens und steht nicht zur Disposition des Wahlvorstands. Eine Verlängerung dieser Frist durch den Wahlvorstand ist unzulässig. Mit anderen Worten: Der Wahlvorstand hatte keine Befugnis, die Einreichungsfrist über den 22. Dezember 2022 hinaus zu verlängern, und hätte die Nachfrist rechtlich gar nicht setzen dürfen.

Allerdings führte dieser Fehler im konkreten Fall nicht zur Aufhebung der Wahl, weil er ohne Einfluss auf das Wahlergebnis blieb. Innerhalb der gesetzten Nachfrist ist keine weitere Bewerbung eingegangen; es blieb bei den ursprünglichen sechs Kandidaten. Damit hat sich die Zusammensetzung der gewählten Personen gegenüber dem Szenario ohne Nachfrist nicht verändert. Das BAG betonte, dass eine Wahlanfechtung nach § 19 BetrVG ins Leere geht, wenn der Verstoß das Wahlergebnis nicht ändern oder beeinflussen konnte. Genau das war hier der Fall: Ob mit oder ohne die unzulässige Nachfrist – am Ende wurden dieselben sechs Personen in den Betriebsrat gewählt. Folglich hob das BAG zwar den Beschluss der Vorinstanz auf, aber nicht wegen der Nachfristproblematik, sondern weil diese alleine die Wahl nicht unwirksam machte.

Hinweis: Hätte der Wahlvorstand durch die unzulässige Fristverlängerung tatsächlich zusätzliche Wahlvorschläge erhalten und wären dadurch weitere Kandidaten zur Wahl zugelassen worden, läge die Sache anders. In diesem hypothetischen Fall hätte der Verfahrensfehler das Wahlergebnis beeinflussen können, da Personen ins Rennen gegangen wären, die ohne Nachfrist nicht kandidiert hätten. Eine Wahlanfechtung wäre dann voraussichtlich erfolgversprechend gewesen, da das Ergebnis unmittelbar auf dem Verstoß beruhte. Diese Konstellation war hier jedoch nicht gegeben.

„Kleinerer Betriebsrat“ bei unzureichender Kandidatenzahl

Der Fall wirft eine praxisrelevante Frage auf: Wie verfährt man, wenn weniger Kandidaten antreten als es Sitze gemäß § 9 BetrVG gibt? Das BAG hatte bereits in einer früheren Entscheidung (BAG, Beschluss vom 24. April 2024 – 7 ABR 26/23) grundsätzliche Leitlinien formuliert. Danach gilt: Fehlen Kandidaten, um alle gesetzlichen Sitze zu besetzen, kann der Betriebsrat dennoch ordnungsgemäß gewählt und konstituiert werden – gegebenenfalls mit geringerer Mitgliederzahl als im BetrVG vorgesehen. Ein solcher „unterbesetzter“ oder verkleinerter Betriebsrat ist weder nichtig noch unwirksam.

In der genannten Entscheidung von 2024 hat das BAG ausgeführt, dass man bei zu wenigen Bewerbern auf die nächstniedrigere Staffel des § 9 BetrVG zurückgreifen soll, und zwar so lange, bis die Anzahl der Kandidaten ausreicht, um eine Betriebsratsgröße mit ungerader Mitgliederzahl vollständig zu besetzen. Hintergrund ist, dass die vom Gesetz vorgesehene Größe des Betriebsrats (immer eine ungerade Zahl) eine funktionsfähige Beschlussfassung sicherstellen soll. In der Praxis bedeutet das zum Beispiel:

  • Im obigen Fall (367 Beschäftigte, eigentlich 9 Sitze, aber nur 6 Kandidaten) müsste man schrittweise auf die nächstniedrigeren Staffelgrößen zurückgehen: Von 9 auf 7, von 7 auf 5. Fünf ist die erste ungerade Zahl, die nicht mehr über der Kandidatenanzahl liegt (6 Kandidaten ≥ 5 Sitze). Es wäre folglich zulässig, einen Betriebsrat mit 5 Mitgliedern zu wählen. Die übrigen Kandidaten auf der Liste könnten als Ersatzmitglieder fungieren.
  • In dem vom BAG im April 2024 entschiedenen Fall (ca. 170 Beschäftigte, eigentlich 7 Sitze, nur 3 Kandidaten) ging man analog vor: 7 vorgesehene Sitze → nächstniedriger 5 → nächstniedriger 3. Mit drei Bewerberinnen konnten die drei Sitze vollständig besetzt werden. Das Ergebnis war ein Betriebsrat mit 3 Mitgliedern, der – obwohl deutlich kleiner als § 9 BetrVG für diese Betriebsgröße vorsieht – voll handlungsfähig und legitim war.

Wichtig ist, dass diese Reduzierung der Gremiengröße kein Verstoß gegen § 9 BetrVG darstellt. Zwar ist die in § 9 BetrVG festgelegte Mitgliederzahl grundsätzlich zwingend und nicht durch Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag veränderbar. Aber eine Ausnahme gilt, wenn nicht genügend wählbare oder kandidierende Beschäftigte zur Verfügung stehen. Der Gesetzgeber hat diesen Fall schlicht nicht strikt geregelt, doch aus dem Sinn und Zweck des BetrVG folgt, dass man dann mit den vorhandenen Kandidaten dennoch einen Betriebsrat bilden soll, anstatt mangels „Vollbesetzung“ ganz auf einen Betriebsrat zu verzichten. Das BAG bestätigt ausdrücklich, dass ein in kleinerer Anzahl gewählter Betriebsrat rechtswirksam zustande kommt. Die Wahl ist weder nichtig noch anfechtbar, nur weil das Gremium die Sollstärke nach § 9 BetrVG nicht erreicht.

Praktische Tipps für Wahlvorstände und Betriebsräte

  • Keine Nachfrist bei vorhandener Liste: Als Wahlvorstand sollten Sie keine zusätzliche Nachfrist für Wahlvorschläge ansetzen, wenn bis zum Ende der regulären Frist mindestens ein gültiger Wahlvorschlag eingegangen ist – auch wenn die Anzahl der Bewerber geringer ist als die Zahl der zu wählenden Betriebsratsmitglieder. Die Wahlordnung sieht eine Verlängerung ausschließlich bei fehlenden Vorschlägen vor. Eine freiwillige Verlängerung ist unzulässig und kann das Wahlverfahren gefährden.
  • Wahl mit den vorhandenen Kandidaten durchführen: Führen Sie die Betriebsratswahl pünktlich nach Ablauf der regulären Frist mit den kandidierenden Personen durch, die rechtzeitig vorgeschlagen wurden. Auch bei weniger Kandidaten ist die Wahl durchzuführen – der Betriebsrat wird dann ggf. nicht die volle Größe erreichen. Wichtig: Dokumentieren Sie im Wahlausschreiben und den Unterlagen transparent, welche Sitzzahl laut BetrVG vorgesehen war und wie viele Kandidaten letztlich zur Wahl standen.
  • Betriebsratsgröße an Kandidatenzahl anpassen: Sollte die Zahl der Bewerberinnen nicht ausreichen, um alle Sitze zu besetzen, ermitteln Sie die angemessene Betriebsratsgröße nach dem „nächstniedrigere Staffel“-Prinzip. Reduzieren Sie die Sitzzahl schrittweise auf die nächstkleinere ungerade Zahl, bis Sie eine Größe erreichen, die vollständig mit den vorliegenden Kandidaten besetzt werden kann. Beispielsweise bei ursprünglich 9 Sitzen und 6 Kandidaten: Reduktion auf 7 (noch immer zu wenig Kandidaten), dann auf 5 Sitze*, die mit 6 Kandidaten besetzbar sind (1 Ersatzmitglied verbleibt). Ein solcher verkleinert gewählter Betriebsrat ist gültig und arbeitsfähig.
  • Kein Wahlabbruch wegen Kandidatenmangel: Brechen Sie den Wahlprozess nicht ab und verschieben Sie ihn nicht unbestimmt, solange irgendein gültiger Vorschlag vorliegt. Ein Betriebsrat kommt notfalls auch in kleinerer Stärke zustande, was allemal besser ist, als gar kein Gremium zu haben. Die Rechtsprechung schützt die Arbeit auch eines unterbesetzten Betriebsrats – z.B. durch § 23 Abs. 3 BetrVG, der gegenüber Auflösungsanträgen schützt. Sie müssen nicht „auf Teufel komm raus“ zusätzliche Kandidaten finden, um die Sollgröße zu erfüllen. Es besteht keine Verpflichtung, Beschäftigte zu drängen, zu kandidieren, nur um die Sitzanzahl vollzubekommen.
  • Achtung bei Fristverstößen: Überschreiten Sie nie die gesetzlich fixen Fristen der Wahlordnung. Sollte – wie im geschilderten Fall – doch eine Nachfrist irrtümlich festgelegt worden sein, achten Sie genau auf deren Auswirkungen. Wenn keine neuen Vorschläge eingehen, hat der Fehler zumindest keine Ergebnisrelevanz. Tauchen jedoch verspätete Kandidaten auf, müssen Sie mit einer erfolgreichen Wahlanfechtung rechnen. In einer solchen Situation wäre es ratsam, vor der Wahl rechtlichen Rat einzuholen, ob die Wahl ggf. noch gestoppt oder korrigiert werden kann, um eine Anfechtung zu vermeiden.

Der Beschluss des BAG vom 22. Mai 2025 schafft Klarheit für Wahlvorstände und Betriebsräte: Auch mit weniger Kandidaten als vorgesehen lässt sich ein gültiger Betriebsrat wählen – eine Nachfrist zur Kandidatensuche ist weder erforderlich noch zulässig. Entscheidend ist, dass überhaupt Kandidatinnen zur Verfügung stehen. Die gesetzliche Frist für Wahlvorschläge ist strikt einzuhalten* und darf nicht eigenmächtig verlängert werden. Ein „Unterlauf“ der vorgeschriebenen Größe des Betriebsrats ist hinnehmbar und rechtlich unbedenklich, solange er darauf beruht, dass objektiv nicht mehr Bewerber zur Verfügung standen.

Für die Praxis bedeutet dies: Wahlvorstände können sich auf die Durchführung der Wahl mit den vorhandenen Kandidaten konzentrieren, ohne komplizierte Fristverlängerungen oder Unsicherheiten über die Gremiengröße. Kommt es zu einem kleineren Betriebsrat, ist dieses Gremium dennoch voll legitimiert und im Rahmen der betrieblichen Mitbestimmung handlungsfähig. Eine Anfechtung der Wahl allein wegen zu weniger Kandidaten oder einer unterbliebenen Nachfrist hat nach dieser höchstrichterlichen Klarstellung keine Aussicht auf Erfolg. Bleiben Sie also im Zweifel lieber strikt im Rahmen der vorgeschriebenen Verfahrensregeln – und vertrauen Sie darauf, dass jede formgerecht zustande gekommene Betriebsratswahl, auch mit wenigen Mitgliedern, vom Gesetz gedeckt ist. Auf diese Weise stellen Sie sicher, dass die Interessen der Belegschaft durch einen wirksamen Betriebsrat vertreten werden – selbst wenn dieser kleiner ausfällt als ursprünglich gedacht.