BFH-Beschluss: Kein Urteil bei offenem Befangenheitsantrag (VIII B 66/24 vom 29.07.2025)

15. August 2025 -

Im zugrunde liegenden Fall vor dem Hessischen Finanzgericht (FG) hatte die Klägerin einen Antrag auf Terminsverlegung gestellt, da sie aus wichtigen Gründen verhindert war und keine Vertretung durch einen anderen Anwalt hatte. Das FG lehnte diesen Vertagungsantrag jedoch ab und führte die mündliche Verhandlung ohne die Klägerin durch. Während der laufenden Verhandlung – konkret um 12:53 Uhr – reichte die Klägerin per besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) einen Ablehnungsantrag wegen Besorgnis der Befangenheit gegen die Vorsitzende Richterin ein. Sie begründete den Befangenheitsantrag damit, dass die Richterin den Verlegungsantrag trotz erheblicher Gründe abgelehnt habe und die Klägerin nicht anderweitig anwaltlich vertreten sei. Nur zwölf Minuten später, um 13:05 Uhr, verkündete die Richterin ein klageabweisendes Urteil, ohne vom zwischenzeitlich eingegangenen Befangenheitsantrag Kenntnis zu haben.

Die verfahrensrechtliche Streitfrage war nun, ob dieses Urteil rechtmäßig zustande gekommen ist oder ob ein Verfahrensfehler vorliegt, weil die Entscheidung erging, bevor über den Befangenheitsantrag entschieden wurde. Mit anderen Worten: Darf ein Gericht ein Urteil fällen, wenn ein gegen die entscheidende Richterin gerichteter Ablehnungsantrag noch unbeurteilt anhängig ist? Die Klägerin erhob Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesfinanzhof (BFH) und rügte einen Verfahrensmangel – nämlich die fehlerhafte Besetzung des Gerichts (sog. Besetzungsrüge). Der BFH hatte nun über diese Streitfrage zu entscheiden.

Kernaussagen des BFH-Beschlusses vom 29.07.2025 (VIII B 66/24)

Der Bundesfinanzhof hat der Nichtzulassungsbeschwerde stattgegeben und das Urteil des FG wegen eines schweren Verfahrensfehlers aufgehoben. Die zentrale Aussage des BFH lautet: Entscheidet ein abgelehnter Richter in der Sache, bevor über ein gegen ihn gerichtetes und nicht offensichtlich unzulässiges Ablehnungsgesuch entschieden worden ist, so ist das Gericht fehlerhaft besetzt und das Verfahren leidet an einem erheblichen Mangel. Ein solcher Fehler kann als Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO in Verbindung mit § 119 Nr. 1 FGO gerügt werden. Im konkreten Fall lag genau diese Konstellation vor, da die Richterin trotz des offenen Befangenheitsantrags das Urteil gesprochen hat.

Rechtlich stützt sich der BFH auf die Regelungen der Finanzgerichtsordnung (FGO) in Verbindung mit der Zivilprozessordnung (ZPO): Nach § 51 Abs. 1 FGO i.V.m. § 45 Abs. 1 ZPO darf über einen Befangenheitsantrag grundsätzlich ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters entschieden werden, bevor das Verfahren in der Sache fortgesetzt wird. Der abgelehnte Richter darf ab Eingang des Antrags nur noch unaufschiebbare Handlungen vornehmen (§ 47 Abs. 1 ZPO). Eine Sachentscheidung – etwa in Form eines Urteils – ist ausdrücklich ausgeschlossen, solange das Ablehnungsgesuch nicht erledigt ist. Eine mündliche Verhandlung hätte also nicht fortgeführt werden dürfen, nachdem um 12:53 Uhr der Befangenheitsantrag einging. Folgerichtig hätte die Richterin die Verhandlung unterbrechen und das Gesuch zunächst dem hierfür zuständigen Gericht zur Entscheidung vorlegen müssen.

Der BFH stellt klar, dass es unerheblich ist, ob die Richterin von dem Ablehnungsgesuch Kenntnis hatte oder ein Verschulden trifft. Maßgeblich ist allein, dass objektiv ein offener Befangenheitsantrag vorlag. In den Worten des BFH: „Unerheblich ist, dass das Gericht von dem Ablehnungsgesuch […] keine Kenntnis hatte. Der Mangel muss nur objektiv vorliegen; ein Verschulden des Gerichts wird nicht vorausgesetzt.“. Damit schützt der BFH die Rechte der Beteiligten strikt: Ein Verfahrensfehler liegt bereits dann vor, wenn objektiv ein nicht erledigter Ablehnungsantrag bestand und dennoch weiterverhandelt oder entschieden wurde – unabhängig von den Umständen, warum der Antrag der Richterin nicht bekannt war.

Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen darf trotz eines Ablehnungsgesuchs weiterverhandelt werden: Nämlich dann, wenn das Ablehnungsgesuch „offensichtlich unzulässig oder rechtsmissbräuchlich“ gestellt wurde. In solchen Fällen kann das Gericht ausnahmsweise den Befangenheitsantrag im Urteil selbst zurückweisen, auch unter Mitwirkung des abgelehnten Richters. Diese Ausnahme greift jedoch nur, wenn sofort erkennbar ist, dass der Antrag missbräuchlich oder unzulässig ist (beispielsweise reine Verschleppungsabsicht ohne jeden sachlichen Grund). Im vorliegenden Fall verneinte der BFH ein solches Missbrauchsverdacht ausdrücklich. Der Befangenheitsantrag der Klägerin war weder offensichtlich unzulässig noch rechtsmissbräuchlich, da sie konkrete Gründe (die umstrittene Ablehnung der Terminverlegung) vorgebracht hatte. Ob diese Ablehnungsgründe berechtigt waren oder nicht, hätte nur ein unvoreingenommener Richter anhand der Akten entscheiden können. Gerade weil die Klägerin dem Gericht vorwarf, die Terminverlegung zu Unrecht abgelehnt zu haben, konnte die abgelehnte Richterin nicht selbst darüber befinden, da dies eine Beurteilung ihres eigenen Verhaltens erfordert hätte.

Zusammengefasst bestätigen die Münchener BFH-Richter mit diesem Beschluss die strenge Linie der Rechtsprechung zum Recht auf den gesetzlichen und unparteiischen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). Liegt ein Befangenheitsantrag rechtzeitig vor, darf kein Urteil ergehen, es sei denn, der Antrag ist eindeutig missbräuchlich. Im konkreten Fall war der Antrag rechtzeitig – maßgeblich ist der elektronische Eingang auf dem Gerichtsserver um 12:53 Uhr – und nicht offensichtlich unbegründet. Daher war die Kammer zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung verfahrensfehlerhaft besetzt, was gemäß § 119 Nr. 1 FGO einen absoluten Revisionsgrund darstellt. Der BFH hat folglich das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen. Das FG muss nun im dritten Rechtsgang zunächst über den Befangenheitsantrag entscheiden, bevor es – abhängig vom Ausgang dieses Gesuchs – inhaltlich verhandeln darf.

Praktische Bedeutung für Steuerpflichtige, Berater und Gerichte

Für Steuerpflichtige (Kläger) zeigt dieser Beschluss deutlich, dass das Recht auf einen unparteiischen Richter konsequent geschützt wird. Sollte man den Eindruck gewinnen, das Finanzgericht begegne einem unfair oder voreingenommen – etwa weil wichtige Anträge wie eine Terminverlegung ohne nachvollziehbaren Grund abgelehnt werden – steht das Ablehnungsgesuch wegen Befangenheit als scharfes Schwert zur Verfügung. Die BFH-Entscheidung verdeutlicht, dass selbst in letzter Minute gestellte Befangenheitsanträge wirksam sein können. Im vorliegenden Fall hat der Antrag der Klägerin, eingereicht 12 Minuten vor Urteilsverkündung, dazu geführt, dass das Urteil kassiert und das Verfahren neu aufgerollt wurde. Für Betroffene bedeutet das: Es ist nie „zu spät“, einen Richter wegen Befangenheit abzulehnen, solange das Gericht noch kein rechtskräftiges Urteil gesprochen hat. Wichtig ist jedoch, dass ein solcher Antrag sachlich begründet wird und nicht bloß der Verzögerung dient.

Für Steuerberater und Rechtsanwälte liefert der Beschluss ebenfalls wertvolle Hinweise. Zum einen unterstreicht er die Bedeutung des elektronischen Rechtsverkehrs (beA): Ein Schriftsatz gilt rechtlich als eingereicht, sobald er auf dem Gerichtsserver eingegangen ist – unabhängig davon, wann das Gericht ihn zur Kenntnis nimmt. Dies ermöglicht es Anwälten, notfalls auch kurzfristig im laufenden Termin Schriftsätze elektronisch einzureichen, um die Rechte ihrer Mandanten zu wahren. Im konkreten Fall hat der Rechtsbeistand der Klägerin die technische Möglichkeit des beA effektiv genutzt. Allerdings sollten Anwälte Befangenheitsanträge mit Bedacht stellen: Der BFH macht deutlich, dass nur ernsthaft begründete Anträge schützenswert sind. Versuche, durch offensichtlich grundlose Ablehnungsgesuche lediglich Zeit zu schinden, können zurückgewiesen werden, ohne dass das Verfahren unterbrochen wird. Dennoch zeigt die Entscheidung, dass das Gericht im Zweifel eher zur Unterbrechung und ordnungsgemäßen Bescheidung des Antrags verpflichtet ist. Für die anwaltliche Praxis bedeutet dies, dass ein letzter Rettungsanker besteht, wenn man kurz vor einer drohenden Niederlage noch einen legitimen Anhaltspunkt für Befangenheit sieht – zum Beispiel bei überraschend negativen Verfahrensentscheidungen des Gerichts (wie der Ablehnung einer dringend benötigten Terminverschiebung).

Für die Gerichte – insbesondere die Finanzgerichte – hat der BFH-Beschluss Signalwirkung hinsichtlich der Verfahrensgestaltung: Die Gerichte müssen sicherstellen, dass sie eingehende elektronische Schriftsätze zeitnah wahrnehmen, gerade an Verhandlungstagen. Der Fall macht deutlich, dass selbst ein unbekannt gebliebener Schriftsatz rechtliche Folgen haben kann. Im Zweifel sollten Gerichte bei technischen Übermittlungen (beA) kurz vor Schluss eines Verhandlungstermins Vorsichtsmaßnahmen ergreifen (z.B. letzte Rückfrage bei der Geschäftsstelle, ob neue Eingänge vorliegen). Außerdem bestätigt der BFH den hohen Stellenwert des Rechts auf den gesetzlichen Richter. Gerichte sind gut beraten, Befangenheitsgesuche ernsthaft und zügig zu behandeln. Ein „einfaches Weitermachen“ in Unkenntnis oder Ignoranz eines Ablehnungsgesuchs kann – wie hier – zur Aufhebung des gesamten Verfahrens führen und somit Zeit- und Ressourcenaufwand erheblich erhöhen.

Bewertung und Fazit

Der BFH-Beschluss vom 29.07.2025 (VIII B 66/24) überzeugt in seiner konsequenten Anwendung des Rechts auf den unparteiischen Richter. Aus rechtsstaatlicher Sicht ist die Entscheidung zu begrüßen, da sie klarstellt, dass Formalien und technische Abläufe nicht den Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf ein faires Verfahren aushebeln dürfen. Selbst wenn eine Richterin keine Kenntnis von einem Befangenheitsantrag hatte, schützt dies das fehlerhafte Urteil nicht – das objektive Vorliegen des Antrags genügt, um einen Verfahrensverstoß anzunehmen. Diese strikte Haltung unterstreicht, dass das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Gerichte ein hohes Gut ist. Kein Beteiligter muss befürchten, dass ein Befangenheitsgesuch ins Leere geht, nur weil es spät eingereicht wurde oder organisatorisch nicht sofort auf dem Richtertisch landet.

Kritisch könnte allenfalls diskutiert werden, ob diese Rechtsprechung Missbrauchspotential bietet. In der Praxis besteht die Gefahr taktischer Befangenheitsanträge „in letzter Minute“, um eine unangenehme Entscheidung zu verzögern. Tatsächlich sind sogenannte “taktische Ablehnungsgesuche” in der Rechtspraxis bekannt und wurden bereits in der Literatur erörtert (vgl. z.B. Windau, NJW 2018, 3206). Der BFH trägt diesem Umstand jedoch Rechnung, indem er offensichtlich missbräuchliche Gesuche von der Schutzwirkung ausnimmt. Die Hürde, einen Antrag als offensichtlich unzulässig abzutun, liegt bewusst hoch – dies zeigt auch der vorliegende Fall, in dem ein inhaltlich nachvollziehbarer Grund (verweigerte Terminverlegung) genügte, um den Antrag ernst zu nehmen. Insgesamt dürfte die Zahl der Fälle, in denen solche letzten Minuten-Gesuche gestellt werden, gering bleiben. Schon wegen der berufsrechtlichen Sorgfalt werden Anwälte dieses Mittel nur einsetzen, wenn gewichtige Gründe vorliegen. Der BFH gibt mit seiner Entscheidung jedenfalls eine klare Marschrichtung vor: Lieber einmal mehr das Verfahren unterbrechen und einen Befangenheitsantrag prüfen (lassen), als das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit zu erschüttern.

Fazit: Steuerrechtliche Verfahren können sich bisweilen zuspitzen – etwa wenn Fristendruck besteht oder wichtige Beweisanträge abgelehnt werden. Der BFH-Beschluss VIII B 66/24 macht deutlich, dass Steuerpflichtige und ihre Berater im Ernstfall auf das Instrument des Befangenheitsantrags zurückgreifen können, um ihr Recht auf ein faires Verfahren zu wahren. Die Entscheidung stärkt das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Gerichte und mahnt zugleich zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Ablehnungsgesuchen. Für die Praxis bedeutet dies: Ein Befangenheitsantrag in letzter Minute ist kein „Wunderknopf“, aber in begründeten Ausnahmefällen ein legitimes Mittel, um die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens sicherzustellen. Die Gerichte wiederum sind angehalten, solchen Anträgen die gebotene Beachtung zu schenken – selbst wenn sie übers Wochenende per beA ins Postfach flattern. Denn letztlich trägt diese strikte Linie des BFH zur Wahrung der Verfahrensfairness und damit zur Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen bei.