Beamte, gegen die ein Strafverfahren lief, müssen häufig auch mit disziplinarischen Maßnahmen rechnen. Doch darf der Dienstherr einfach die Ermittlungsakte aus dem Strafverfahren einsehen? Ein aktueller Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 30.07.2025 (Az. 5 ARs 10/24) liefert hierzu wichtige Klarstellungen: Weder der Dienstherr noch der von ihm eingesetzte Ermittlungsführer in einem Disziplinarverfahren gelten als „Justizbehörde“ im Sinne von § 474 Abs. 1 StPO. Dies hat Konsequenzen für den Zugang zu Strafakten im Disziplinarverfahren und stärkt die Rechte betroffener Beamter.
Hintergrund des Falls
Ein Polizeibeamter des Landes B. (als Ausbilder an einer Polizeifachhochschule) sah sich einem Strafverfahren ausgesetzt. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen ihn wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Kindern ohne Körperkontakt. Am 3. Januar 2024 wurde das Verfahren mangels Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt und zur Prüfung einer Ordnungswidrigkeit an die Verwaltungsbehörde abgegeben. Gemäß Nr. 15 der MiStra (Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen) informierte die Staatsanwaltschaft die Hochschule des Beamten über die Verfahrenseinstellung. Zu diesem Zeitpunkt lief bereits seit September 2023 ein beamtenrechtliches Disziplinarverfahren gegen den Beamten wegen desselben Vorwurfs. Der mit der Untersuchung beauftragte Ermittlungsführer der Hochschule beantragte am 16. Januar 2024 Einsicht in die Strafakte. Die Staatsanwaltschaft gewährte die Akteneinsicht – allerdings nicht nach der allgemeinen Regel des § 474 Abs. 1 StPO, sondern ausdrücklich auf Grundlage von § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 StPO in Verbindung mit § 13 Abs. 2 und § 14 Abs. 1 Nr. 4 EGGVG.
Der Beamte (Beschwerdeführer) wehrte sich dagegen, dass seine Strafakten an die Dienstbehörde herausgegeben wurden. Er stellte beim Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 23 EGGVG. Das OLG Karlsruhe wies den Antrag jedoch als unbegründet ab. Nach Auffassung des OLG durfte die Staatsanwaltschaft dem Ermittlungsführer Einsicht geben, weil dieser – so das OLG – als „andere Justizbehörde“ im Sinne von § 474 Abs. 1 StPO anzusehen sei. Aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung dieser Rechtsfrage ließ das OLG die Rechtsbeschwerde zum BGH zu.
Gesetzliche Ausgangslage: Akteneinsicht nach § 474 StPO
- 474 StPO regelt, unter welchen Voraussetzungen Strafverfolgungsakten an andere Stellen herausgegeben oder ihnen Einblick gewährt werden darf. Das Gesetz unterscheidet dabei zwischen Justizbehörden und anderen Stellen:
- Gerichte, Staatsanwaltschaften und „andere Justizbehörden“ (§ 474 Abs. 1 StPO): Diese Stellen dürfen Akteneinsicht erhalten, wenn dies für Zwecke der Rechtspflege erforderlich ist. Die Anforderungen sind relativ gering, da unterstellt wird, dass diese Stellen im Interesse der Rechtspflege handeln. Sie bekommen Auskünfte oder Akten unter weniger strengen Voraussetzungen als andere Behörden oder Private. Diese Privilegierung soll den Datenaustausch zur effektiven Strafverfolgung erleichtern.
- Andere öffentliche Stellen (§ 474 Abs. 2 StPO): Behörden, die nicht zur Justiz gehören, erhalten Auskünfte oder Akteneinsicht nur für Zwecke außerhalb der Strafrechtspflege (justizfremde Zwecke) – etwa zur Gefahrenabwehr, für Disziplinarverfahren oder andere Verwaltungsaufgaben. Hier gelten strengere Voraussetzungen. Insbesondere muss ein gesetzliches Auskunftsrecht oder Akteneinsichtsrecht bestehen (z. B. nach bereichsspezifischen Gesetzen oder nach §§ 13, 14 EGGVG), und die Herausgabe muss im Einzelfall erforderlich und verhältnismäßig sein. Die Staatsanwaltschaft darf solche Datenübermittlungen also nur vornehmen, wenn z. B. das Disziplinargesetz oder die EGGVG dies erlaubt und die Interessen der Beteiligten (insbesondere Persönlichkeitsrechte des Betroffenen) gewahrt bleiben.
Hinweis: § 474 Abs. 3 StPO enthält weitere Detailvoraussetzungen speziell für die Gewährung von Akteneinsicht (im Gegensatz zur bloßen Auskunftserteilung) an nicht-justizielle Stellen. U.a. ist sicherzustellen, dass der Datenschutz gewahrt bleibt und etwaige Schutzrechte Dritter berücksichtigt werden. Im Ergebnis verlangen Abs. 2 und 3 zusammen eine sorgfältige Verhältnismäßigkeitsprüfung, bevor Strafakten für disziplinarische Zwecke freigegeben werden.
Entscheidung des BGH vom 30.07.2025
Der V. Strafsenat des BGH hat den OLG-Beschluss aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Im Kern stellte der BGH klar, dass weder der Dienstherr (die Behörde als Dienstvorgesetzter) noch der von ihm eingesetzte Ermittlungsführer in einem Disziplinarverfahren als „andere Justizbehörde“ im Sinne des § 474 Abs. 1 StPO anzusehen sind. Damit durfte die Staatsanwaltschaft den Aktenzugang nicht einfach nach Abs. 1 gewähren, sondern musste (und hat hier auch) auf Abs. 2 zurückgreifen. Hier die wichtigsten Gründe der Entscheidung:
- Begriff „Justizbehörde“ – enge, funktionale Auslegung: Der BGH hat den Begriff wie im Kontext des § 23 EGGVG funktional verstanden. Entscheidend ist nicht, welche Behörde formal beteiligt ist, sondern welche Aufgabe sie wahrnimmt. Justizbehörden in diesem Sinne sind nur solche Stellen, die im konkreten Fall hoheitliche Aufgaben der Rechtspflege ausüben (z. B. Gerichte, Staatsanwaltschaften, Amtsgerichte in Betreuungssachen etc.). Das reine Organisationsmerkmal (z. B. Zugehörigkeit zu einem Ministerium der Justiz) genügt nicht.
- Disziplinarverfahren gehören nicht zur Strafrechtspflege: Die Durchführung eines Disziplinarverfahrens ist keine Aufgabe der Strafverfolgung oder Strafrechtspflege, sondern ein eigenständiges Verwaltungs- und Dienstrechtliches Verfahren. Der BGH betont, dass die Aufklärung eines Dienstvergehens nicht der Aufklärung einer Straftat und Schuldfeststellung dient, sondern der Überprüfung der dienstlichen Pflichtenverletzung. Es handelt sich „nicht um ein Straf-, sondern um ein besonderes Verwaltungsverfahren“. Disziplinarrecht ist Teil des Beamtenrechts und zielt darauf ab, die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung der Verwaltung sicherzustellen – gegebenenfalls durch Maßregeln gegenüber dem Beamten (Verweis, Gehaltskürzung, Entfernung aus dem Dienst etc.). Diese „Disziplinarstrafe“ ist keine Kriminalstrafe, sondern dient der Aufrechterhaltung der Integrität und Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes, nicht der Sühne einer Straftat.
- Kein gesetzlicher Gleichstellungsakt mit Strafverfolgung: Anders als etwa im Ordnungswidrigkeitenrecht (Bußgeldverfahren) fehlt im Disziplinarrecht eine Vorschrift, die die Behörde den Strafverfolgern gleichstellt. Beispiel: Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten bestimmt § 46 Abs. 2 OWiG, dass die Verwaltungsbehörde die Stellung der Staatsanwaltschaft einnimmt und entsprechende Befugnisse hat. Daher werden Bußgeldbehörden funktional als Justizbehörden tätig, wenn sie eine Ordnungswidrigkeit verfolgen. Im Gesetzgebungsverfahren zu § 474 StPO wurde explizit erwähnt, dass auch für solche Fälle Akteneinsicht gewährt werden soll. Für Disziplinarbehörden gibt es keine vergleichbare Regelung. Sie handeln nicht „anstelle“ von Strafverfolgungsorganen, sondern in einem eigenen Regelungsbereich (Dienstrecht). Deshalb können sie nicht einfach in § 474 Abs. 1 StPO hineingelesen werden.
- Systematik und Zweck von § 474 StPO: Der BGH führte auch systematische Argumente an. § 474 Abs. 1 StPO ist als Privilegierungsklausel für die Strafrechtspflege gedacht – er ermöglicht einen schnellen, unkomplizierten Datenaustausch innerhalb der Justiz (Gerichte, Staatsanwaltschaften etc.), wo ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht. Demgegenüber müssen justizfremde Stellen ihr Informationsinteresse gesondert rechtfertigen. Es besteht kein schutzwürdiges Bedürfnis, Disziplinarbehörden über den Wortlaut hinaus als „Justizbehörde“ zu behandeln, denn ihnen steht ja der Weg des § 474 Abs. 2 StPO offen. Die strengeren Voraussetzungen dort tragen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den Grundrechten des Betroffenen Rechnung. Würde man Disziplinarstellen fälschlich zu Justizbehörden erklären, würde man diese Schutzmechanismen unterlaufen.
Folglich hat das OLG Karlsruhe die Rechtslage falsch beurteilt, als es meinte, der Dienstherr bzw. Ermittlungsführer könne als „andere Justizbehörde“ gelten. Der BGH korrigierte dies und stellte den Leitsatz auf: „Weder der Dienstherr des Beamten, der ein beamtenrechtliches Disziplinarverfahren führt, noch ein von ihm eingesetzter Ermittlungsführer ist eine andere Justizbehörde im Sinne des § 474 Abs. 1 StPO.“
Allerdings entschied der BGH nicht abschließend selbst über die Rechtmäßigkeit der Akteneinsicht, sondern verwies die Sache zurück an das OLG. Warum? – Das OLG hatte bisher nur nach § 474 Abs. 1 StPO geprüft. Nun muss es prüfen, ob die Voraussetzungen des § 474 Abs. 2, Abs. 3 StPO tatsächlich erfüllt waren. Insbesondere wird zu klären sein, ob ein Auskunfts- bzw. Akteneinsichtsrecht nach den einschlägigen Vorschriften (hier wohl nach § 13 Abs. 2 und § 14 EGGVG, ggf. i.V.m. Landesdisziplinarrecht) bestand und ob die Herausgabe der Ermittlungsakte im konkreten Fall verhältnismäßig war. Der BGH wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer zu Recht gerügt hatte, es sei bislang nicht dargelegt, dass die strengen Voraussetzungen des § 474 Abs. 3 StPO (für Akteneinsicht) eingehalten wurden. Diese Prüfungen muss nun das OLG nachholen.
(Zum Zeitpunkt des BGH-Beschlusses war das disziplinarrechtliche Verfahren also noch nicht endgültig entschieden. Der BGH hat aber die maßgebliche Rechtsfrage geklärt und den weiteren Weg vorgezeichnet.)
Konsequenzen und Rechtstipps für Beamte
Für Beamtinnen und Beamte, die in ein Strafverfahren verwickelt waren oder sind, zeigt dieses Urteil wichtige Aspekte auf:
- Disziplinarverfahren läuft separat weiter: Auch wenn ein Strafverfahren eingestellt wird, kann ein paralleles Disziplinarverfahren weitergehen oder neu eingeleitet werden. Ein Freispruch oder eine Einstellung im Strafrecht bedeutet nicht automatisch das Ende aller dienstrechtlichen Konsequenzen. Dienstvorgesetzte prüfen eigenständig, ob ein Dienstvergehen vorliegt (ggf. nach anderen Maßstäben).
- Strafakten sind nicht schutzlos ausgeliefert: Die Ermittlungsakten aus dem Strafverfahren dürfen nicht ohne Weiteres an den Dienstherrn herausgegeben werden. Nach der BGH-Entscheidung ist klar: Ihre Behörde kann nicht einfach unter Berufung auf „Rechtspflege“ vollen Aktenzugang verlangen. Vielmehr muss ein gesetzlicher Übermittlungsgrund vorliegen und es gelten Datenschutz- und Verhältnismäßigkeitsprüfungen. Für Sie als betroffene Person bedeutet das einen gewissen Schutz: Ihre personenbezogenen Daten aus dem Strafverfahren werden nur weitergegeben, wenn es für ein legitimes dienstliches Interesse unerlässlich ist und rechtlich abgesichert werden kann.
- Akteneinsicht via § 474 Abs. 2 StPO – strengere Bedingungen: Sollte Ihre Dienstbehörde Einsicht in Strafakten beantragen, wird dies über § 474 Abs. 2 StPO abgewickelt. In der Praxis stützen sich Dienstherren dabei oft auf Vorschriften wie § 49 BeamtStG oder entsprechende Landesdisziplinargesetze, die eine Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden vorsehen. Dennoch muss die Staatsanwaltschaft genau prüfen, welche Informationen wirklich erforderlich sind und ob Schutzinteressen (z. B. von Zeugen oder Opfern in der Akte) einer Weitergabe entgegenstehen. Es kann also sein, dass nicht die gesamte Akte übermittelt wird, sondern nur Auszüge oder bestimmte Daten, wenn dies genügt, um das dienstrechtliche Verfahren zu führen.
- Rechtsbehelf bei Streit über Aktenzugang: Wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihre Rechte verletzt werden – etwa weil Akten ohne ausreichende Grundlage weitergegeben wurden – steht der Rechtsweg offen. Der betroffene Beamte im vorliegenden Fall hat den Antrag nach § 23 EGGVG gestellt, sodass ein Gericht (hier das OLG) die Verfügung der Staatsanwaltschaft nachprüft. Dieses gerichtliche Überprüfungsverfahren bietet die Möglichkeit, Fehlentscheidungen zu korrigieren. Zwar hat das OLG im ersten Anlauf gegen den Beamten entschieden, doch dank der vom BGH zugelassenen Rechtsbeschwerde konnte die Rechtsfrage höchstrichterlich geklärt werden. Tipp: In vergleichbaren Situationen sollten Beamte unbedingt rechtlichen Rat suchen und prüfen lassen, ob ein EGGVG-Antrag oder andere Rechtsmittel in Betracht kommen, um ihre Datenschutzrechte zu wahren.
- Bedeutung der Entscheidung: Aus Beamten-Sicht stärkt der BGH-Beschluss den Datenschutz und die Verfahrensrechte im Disziplinarverfahren. Er sorgt für klare Regeln: Die Weitergabe von Informationen aus einem Strafverfahren an den Dienstherrn unterliegt gerichtlicher Kontrolle und darf nur unter strikten Voraussetzungen erfolgen. Dienstherrn und Personalstellen wiederum sind angehalten, bei disziplinarischen Ermittlungen den Umweg über § 474 Abs. 2 StPO zu nehmen und die nötige Sorgfalt bei der Antragstellung walten zu lassen. Langfristig dürfte das Urteil zu einer bewussteren Handhabung von Strafakten in Disziplinarangelegenheiten führen – im Spannungsfeld zwischen dienstlichem Aufklärungsinteresse und den Persönlichkeitsrechten des Beamten.