Das Bundessozialgericht hat mit Beschluss vom 02.04.2025 zum Aktenzeichen 1 KR 7/24 B in einem von Fachanwalt für Sozialrecht Dr. jur. Jens Usebach LL.M. der kanzlei JURA.CC vertretenen Fall entschieden, dass eine vorherige Entscheidung des Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen aufgehoben wird.
Die Beteiligten streiten im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungklage darüber, ob der Kläger im Zeitraum vom 11.7.2019 bis 8.7.2020 Anspruch auf Versorgung mit regelmäßigen Lipid-Apherese-Behandlungen hatte.
Der 1957 geborene Kläger leidet ua unter einer koronaren Dreigefäßerkrankung mit dreifacher Myokardrevaskularisation, arterieller Hypertonie, arterieller Verschlusskrankheit mit Carotis-plaques, Hyperlipidämie, Lp(a)-Dyslipoproteinämie und insulinpflichtigem Diabetes mellitus. Die Apherese-Kommission der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen stellte die Indikation für die vertragsärztlich beantragte Apherese und befürwortete die Behandlung (Schreiben vom 9.7.2019 an den behandelnden Arzt des Klägers). Dagegen blieb der Kläger mit seinem Begehren auf Versorgung mit einer Lipid-Apherese im Zeitraum vom 11.7.2019 bis 8.7.2020 bei der Beklagten ohne Erfolg (Bescheid vom 5.7.2019; Widerspruchsbescheid vom 26.8.2019). Nach-dem das SG die Beklagte durch Beschluss vom 19.7.2019 (S 32 KR 4021/19 ER) zur vorläufigen Leistungserbringung verpflichtet hatte, erklärte sich die Beklagte mit Bescheid vom 7.8.2019 bereit, die Kosten der beantragten Apherese-Behandlung vorbehaltlich einer anderslautenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorläufig zu übernehmen. Der Kläger nahm die Leistung im verfahrensgegenständlichen Zeitraum aber nicht in Anspruch. Das SG hat die nach Ablauf dieses Zeitraums als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführte Klage abgewiesen (Urteil vom 7.9.2022). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Die Klage sei mangels Fortsetzungsfeststellungsinteresses unzulässig. Eine insoweit in Betracht kommende Wiederho-lungsgefahr setze voraus, dass die hinreichend bestimmte konkrete Gefahr bestehe, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergehe (Hinweis auf BSG vom 6.6.2023 – B 4 AS 131/22 B). Davon sei vorliegend nicht auszugehen, da für die Leistungsentscheidung die zum Entscheidungszeitpunkt jeweils bestehende gesundheitliche Situation, die anhand aktueller medizinischer Unterlagen zu beurteilen sei, maßgeblich sei. Die Indikationsstellung sei nach § 8 Abs 1 Anlage I Nr 1 der Methoden-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses jeweils auf ein Jahr zu befristen. Bei Fort-bestehen der Behandlungsindikation sei mit einer ergänzenden ärztlichen Beurteilung gemäß § 4 Anlage I Nr 1 der Methoden-Richtlinie eine erneute Beratung der Apherese-Kommission einzuleiten (Urteil vom 10.1.2024).
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Das LSG-Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet (dazu 1.). Die ausdrücklich erhobene Divergenzrüge ist dagegen unzulässig (Revisionszulassungsgrund nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG; dazu
Dies eröffnet dem Senat die Möglichkeit der Zurückverweisung der Sache an das LSG nach § 160a Abs 5 SGG, von der er Gebrauch macht.
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel gel-tend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der Kläger bezeich-net den geltend gemachten Verfahrensmangel der gebotenen Sachentscheidung über eine nach §§ 90, 92 SGG wirksam erhobene, zulässige Klage anstelle des ergangenen Prozessurteils noch hinreichend.
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels die ihn begründenden Tatsachen substantiiert dar-getan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht (stRspr; vgl BSG vom 18.8.2022 – B 1 KR 56/22 B – juris RdNr 7; BSG vom 3.3.2022 – B 9 V 37/21 B – juris RdNr 8; BSG vom 1.2.2017 – B 5 R 312/16 B – juris RdNr 12; BSG vom 29.9.1975 – 8 BU 64/75 – SozR 1500 § 160a Nr 14). Diese Begründungsanforderungen erfüllt die Beschwerde. Sie macht geltend, die Vorinstanzen hätten die Fortsetzungsfeststellungsklage nicht mangels berechtigten Interesses iS von § 131 Abs 1 Satz 2 SGG als unzulässig abweisen dürfen, sondern in der Sache entscheiden müssen. Der Kläger legt dar, dass aus seiner Sicht wegen der in den Folgejahren im Wesentli-chen gleichbleibenden Sachlage insbesondere eine Widerholungsgefahr bestehe. Er verweist insoweit auf in den Folgejahren gleichlautende Entscheidungen der Beklagten über seine jah-resbezogen geltend gemachten Leistungsansprüche.
Die Beschwerde ist auch begründet. Das LSG hätte die Klage nicht mit der gegebenen Begründung als unzulässig ansehen und deshalb die Berufung zurückweisen dürfen. Denn seine prozessrechtlichen Ausführungen tragen die Bestätigung des SG-Urteils nicht. Das Ergehen eines Prozessurteils anstatt des gebotenen Sachurteils ist ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG (stRspr; vgl nur BSG vom 18.8.2022 – B 1 KR 56/22 B – juris RdNr 8; BSG vom 19.5.2021 – B 14 AS 389/20 B – juris RdNr 6; BSG vom 27.10.1955 – 4 RJ 105/54 – BSGE 1, 283 = SozR Nr 1 zu § 158 SGG). So liegt der Fall hier. Das LSG-Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensmangel.
Die fehlende Sachentscheidung ergibt sich nicht bereits aus dem Tenor des LSG-Urteils, das die Berufung „zurückgewiesen“ hat. Um den Sinn der Urteilsformel zu ermitteln, sind die Entscheidungsgründe mit heranzuziehen (so bereits BSG vom 27.10.1955 – 4 RJ 105/54 – BSGE 1, 283, 285 = SozR Nr 1 zu § 158 SGG). Das SG hat die Klage als unbegründet abgewiesen und das Fortsetzungsfeststellungsinteresse als materielle Anspruchsvoraussetzung verneint. Das LSG hat dagegen diese Voraussetzung – insoweit zutreffend (vgl nur BSG vom 26.11.2020 – B 14 AS 47/18 R – BSGE 131, 106 = SozR 4-4200 § 44a Nr 3, RdNr 16 und 23) – als Zulässigkeitsvoraussetzung geprüft, jedoch sich der Begründung des SG in der Sache ange-schlossen und vertieft. Danach hat hier das LSG ein berechtigtes Interesse an der Feststellung verneint, deshalb die Fortsetzungsfeststellungsklage als unzulässig angesehen und damit nicht zur Sache entschieden.
Bei der Abweisung einer Klage als unzulässig wegen der Annahme, es fehle an einem Fortsetzungsfeststellungsinteresse, liegt ein Verfahrensfehler vor, wenn in der Entscheidung die an das Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu stellenden Anforderungen verkannt werden (vgl BSG vom 6.6.2023 – B 4 AS 131/22 B – juris RdNr 13; BVerwG vom 20.12.2017 – 6 B 14.17 – juris RdNr 12 zum berechtigten Interesse iS von § 43 Abs 1 VwGO; ferner BVerwG vom 18.1.2022 – 6 B 21.21 – juris RdNr 10 mwN). Dies ist hier der Fall. Das LSG hätte die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage nicht mit der gegebenen Begründung wegen fehlenden „berechtigten Interesses“ iS von § 131 Abs 1 Satz 3 SGG verneinen dürfen.
Ein „berechtigtes Interesse“ iS von § 131 Abs 1 Satz 3 SGG meint jedes nach der Sachlage vernünftigerweise gerechtfertigte Interesse, das rechtlicher, aber auch bloß wirtschaftlicher oder ideeller Art sein kann (vgl BSG vom 12.8.2010 – B 3 KR 3/10 B – juris RdNr 10 zu § 55 Abs 1 SGG). Davon geht das LSG im Ansatz auch aus. Wiederholungsgefahr ist anzunehmen, wenn die hin-reichend bestimmte (konkrete) Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten tat-sächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergeht (vgl BSG vom 16.5.2007 – B 7b AS 40/06 R – SozR 4-4200 § 22 Nr 4 RdNr 7 mwN).
Dem LSG ist zwar zuzugeben, dass die Leistungsvoraussetzungen im jährlichen Abstand jeweils nach der zum Zeitpunkt der Entscheidung bestehenden gesundheitlichen Situation aufgrund aktueller medizinischer Unterlagen zu beurteilen sind. Es ist daher durchaus möglich, dass die medizinische Beurteilung der Indikation für eine Apherese-Behandlung in Folgejahren wegen einer Veränderung des Gesundheitszustands des Versicherten abweicht. Eine Wiederholungsgefahr besteht aber nicht nur dann, wenn sich die rechtliche Bewertung auf eine identische Tatsachengrundlage zu stützen hat. Es genügt vielmehr die nicht entfernt liegende Möglichkeit eines wiederholten Auftretens der Rechtsfrage zwischen den Beteiligten, etwa, wenn sich konkret abzeichnet, also die hinreichend bestimmte Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen oder rechtlichen Umständen ein gleichartiges Leistungsbegehren wieder auftreten kann (vgl zB BSG vom 25.10.2012 – B 9 SB 1/12 R – SozR 4-3250 § 145 Nr 4 RdNr 22; BSG vom 8.11.2011 – B 1 KR 19/10 R – BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, RdNr 9; BSG vom 18.5.2011 – B 3 KR 7/10 R – BSGE 108, 206 = SozR 4-2500 § 33 Nr 34, RdNr 22 mwN). Hierzu ist nicht erforderlich, dass die tatsächlichen Verhältnisse gänzlich gleichartig sind (vgl BSG vom 25.10.1989 – 7 RAr 148/88 – SozR 4100 § 91 Nr 5 S 13 f). Es reicht sogar aus, dass trotz veränderter Verhältnisse eine auf gleichlautenden Erwägungen beruhende Entscheidung zu erwarten ist (vgl BSG vom 14.7.2021 – B 6 KA 15/20 R – BSGE 132, 262 = SozR 4-5520 § 32 Nr 6, RdNr 17) oder sich die Wiederholungsgefahr sogar bereits verwirklicht hat, weil für Folgejahre entsprechende Entscheidungen ergangen sind (vgl BSG vom 15.11.1983 – 1 S 10/82 – BSGE 56, 45, 49 f = SozR 2100 § 70 Nr 1 S 6). Eine solche Auslegung gebietet auch Art 19 Abs 4 GG.
Wegen des Gebots effektiven Rechtsschutzes dürfen an die Wiederholungsgefahr in Fällen, in denen sich Verwaltungsentscheidungen typischerweise schnell erledigen, etwa weil eine Neubewertung der zugrunde liegenden Tatsachen – wie hier – im jährlichen Turnus zu erfolgen hat, keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Dies gilt erst recht dann, wenn es dabei um Leistungen geht, auf die – wie hier – das Sachleistungsprinzip Anwendung findet (§ 2 Abs 2 Satz 1, § 13 Abs 1 SGB V). Denn die Auffassung des LSG hätte zur Folge, dass ein Sachleistungsberechtigter seinen Sachleistungsanspruch immer nur mittelbar über einen Kostenerstattungsanspruch durch-setzen könnte. Einem Sachleistungsberechtigten muss aber prozessual die Möglichkeit verbleiben, seinen Sachleistungsanspruch auch im Falle der Erledigung im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage unmittelbar geltend zu machen, wenn die nicht bloß entfernt liegende Möglichkeit eines wiederholten Auftretens der Rechtsfrage zwischen ihm und seiner Krankenkasse besteht. Andernfalls wäre er bei Sachverhalten wie dem hier vorliegenden rechtsschutzlos gestellt bzw müsste er – um Rechtsschutz zu erlangen – zunächst selbst in Vorlage treten, verbunden mit erheblichen finanziellen Belastungen. Bisweilen dürfte dem Sachleistungsberechtigten aufgrund seiner beschränkten finanziellen Mittel und der erheblichen Kosten der begehrten Leistung nicht einmal dies möglich sein. Der danach noch eröffnete einstweilige Rechtsschutz lässt jedoch sein Kostenrisiko auch dann nicht entfallen, wenn die Krankenkasse zur Erbringung einer Leistung angewiesen wird (vgl BSG vom 13.12.2016 – B 1 KR 10/16 R – BSGE 122, 181 = SozR 4-2500 § 2 Nr 6, RdNr 9 f).
Das LSG hat diese Grundsätze in seiner Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt. Seine prozessrechtlichen Erwägungen tragen die Verneinung eines berechtigten Interesses daher nicht. Das LSG hat, abgesehen von der hier für die Verneinung eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses nicht tragenden jahresweisen Bewilligung der Lipid-Apherese als solcher, Gründe nicht konkret bezeichnet, die hier die Gefahr auszuschließen vermögen, dass ein unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen oder rechtlichen Umständen gleichartiges Leistungsbegehren nicht wieder auftreten kann. Soweit das LSG auf die Möglichkeit eines sich ändernden medizinischen Sachverhalts beim Kläger verweist, hätte es auf den Gesundheitszustand des Klägers näher eingehen und gegebenenfalls schon für die Prüfung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses medizinischen Sachverstand beiziehen müssen.
Das LSG wird bei seiner Entscheidung gegebenenfalls auch bereits zu beachten haben, dass die Wiederholungsgefahr sich schon aus ablehnenden Entscheidungen der Beklagten für Folgejahre ergeben kann, wofür es entsprechende Hinweise insbesondere in der Beschwerdebegründung gibt. Dem musste der Senat aber aus den vorgenannten Gründen nicht weiter nachgehen.