Die gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 31. Oktober 2023 zum Aktenzeichen 2 BvR 900/22 entschieden, dass § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO) mit dem Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und dem Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) unvereinbar und nichtig ist. Die angegriffenen, auf § 362 Nr. 5 StPO beruhenden Beschlüsse des Landgerichts Verden und des Oberlandesgerichts Celle werden aufgehoben; die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 94/2023 vom 31. Oktober 2023 ergibt sich:

Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, im Jahr 1981 eine Schülerin vergewaltigt und getötet zu haben. Das daraufhin gegen ihn geführte Strafverfahren endete 1983 mit einem Freispruch. Im Februar 2022 wurde es wegen neuer Beweismittel aufgrund des am 30. Dezember 2021 in Kraft getretenen § 362 Nr. 5 StPO wiederaufgenommen. Nach dieser Vorschrift darf ein Strafverfahren zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufgenommen werden, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nunmehr wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten verurteilt wird.

Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ist verfassungswidrig. Ihre Rechtsgrundlage, § 362 Nr. 5 StPO, verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot verbietet dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Es trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Zudem verletzt die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Freisprüche, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig waren, das Rückwirkungsverbot.

Die Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig, zur Frage der Abwägungsfestigkeit des grundrechtsgleichen Rechts des Art. 103 Abs. 3 GG mit 6 : 2 Stimmen gefallen. Richterin Langenfeld und Richter Müller haben hierzu ein Sondervotum erstellt.

Sachverhalt:

Nach § 362 Nr. 5 StPO, eingeführt im Dezember 2021 durch das „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“, darf ein Strafverfahren gegen einen rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufgenommen werden, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nunmehr wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten verurteilt wird.

Der Beschwerdeführer wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Stade vom 13. Mai 1983 vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes freigesprochen. Nach Einführung des § 362 Nr. 5 StPO stellte die zuständige Staatsanwaltschaft im Februar 2022 beim Landgericht Verden einen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens nach dieser Vorschrift und auf Erlass eines Haftbefehls. Das Landgericht erklärte den Wiederaufnahmeantrag mit Beschluss vom 25. Februar 2022 für zulässig und ordnete Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht Celle mit Beschluss vom 20. April 2022. Mit seiner unmittelbar gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts sowie mittelbar gegen § 362 Nr. 5 StPO gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 GG sowie aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Auf den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat der Senat den Vollzug des Haftbefehls des Landgerichts vom 25. Februar 2022 mit Beschluss vom 14. Juli 2022, wiederholt mit Beschluss vom 20. Dezember 2022, unter Auflagen ausgesetzt. Mit Beschluss vom 16. Juni 2023 wurde die einstweilige Anordnung ohne Auflagen verlängert.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.

§ 362 Nr. 5 StPO verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Dieses grundrechtsgleiche Recht verbietet dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Grundrechtsträgers aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Damit ist § 362 Nr. 5 StPO nicht vereinbar.

Art. 103 Abs. 3 GG gewährt einem Verurteilten oder Freigesprochenen ein subjektives grundrechtsgleiches Recht, das zunächst unmittelbar an die Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane gerichtet ist.

Der Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden darf (ne bis in idem), beschreibt das Prinzip des Strafklageverbrauchs, das Strafgerichte und Strafverfolgungsorgane als Verfahrenshindernis von Amts wegen in jedem Stadium des Strafverfahrens zu beachten haben. Soweit dieser Grundsatz eine erneute Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze betrifft, ist er durch Art. 103 Abs. 3 GG zum verfassungsrechtlichen Verbot erhoben worden. Dabei gestaltet Art. 103 Abs. 3 GG das zunächst abstrakte Prinzip des Strafklageverbrauchs als grundrechtsgleiches Recht aus. Er gewährt dem Einzelnen Schutz, den dieser als individuelle Rechtsposition geltend machen kann. Dieser Schutz kommt Verurteilten wie Freigesprochenen gleichermaßen zu und steht bereits der erneuten Strafverfolgung entgegen.

Gegenüber dem Gesetzgeber entfaltet Art. 103 Abs. 3 GG keine andere Wirkung, wenn dieser die gesetzlichen Voraussetzungen für eine erneute Strafverfolgung durch die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens schafft. Das in Art. 103 Abs. 3 GG gegenüber den Strafverfolgungsorganen statuierte Verbot mehrfacher Strafverfolgung wäre praktisch wirkungslos, wenn die einfachgesetzliche Ausgestaltung als Wiederaufnahmeverfahren eine erneute Strafverfolgung und gegebenenfalls Verurteilung ermöglichen könnte.

Art. 103 Abs. 3 GG gewährt dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit. Indem Art. 103 Abs. 3 GG bestimmt, dass wegen derselben Tat keine erneute Bestrafung erfolgen darf, hat das Grundgesetz selbst für den Anwendungsbereich dieser Bestimmung, mithin für strafgerichtliche Urteile, bereits entschieden, dass dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit zukommt.

Diese Vorrangentscheidung ist absolut. Sie steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen. Zwar folgt dies noch nicht zwingend aus dem Wortlaut oder der Entstehungsgeschichte. Bei systematischer Betrachtung erscheint Art. 103 Abs. 3 GG jedoch abwägungsfest.

Art. 103 Abs. 3 GG stellt eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar, die ausschließlich für strafrechtliche Verfahren gilt. Als Sonderregelung mit eigenständigem Gehalt geht Art. 103 Abs. 3 GG in seinem Schutzgehalt über die allgemeinen Prinzipien hinaus, die ihrerseits bereits das Vertrauen in eine rechtskräftige Entscheidung schützen und eine übermäßige Beeinträchtigung der Interessen des Einzelnen verhindern. Dieser weiterreichende Vertrauensschutz beruht darauf, dass ihm unbedingter Vorrang gegenüber den grundsätzlich berechtigten Korrekturinteressen zukommt, die der Gesetzgeber ansonsten berücksichtigen könnte.

Art. 103 Abs. 3 GG korrespondiert in Bezug auf diese Unbedingtheit mit Art. 103 Abs. 2 GG, wonach es dem Strafgesetzgeber ausnahmslos verboten ist, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen. Ein gleichlaufendes Verständnis des Art. 103 Abs. 3 GG als abwägungsfestes Recht komplementiert diesen materiell-rechtlichen Schutz des Einzelnen im Bereich des Strafrechts auf der verfahrensrechtlichen Ebene.

Art. 103 Abs. 2 und 3 GG stehen den Freiheitsrechten nahe, die nicht nur innerhalb eines Strafverfahrens zu beachten sind, sondern den Grundrechtsträger bereits vor einem Strafverfahren schützen, ohne dass es zur Verwirklichung dieses Schutzes noch einer gesetzlichen Umsetzung bedürfte. Darin unterscheiden sich Art. 103 Abs. 2 und 3 GG von den Rechten, die – wie beispielsweise der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) – auf die Gewährleistung von Rechtsschutz gerichtet sind. Der für alle Verfahrensarten geltende Anspruch auf rechtliches Gehör bedarf einer verfahrensrechtlichen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber.

Auch Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG sprechen dafür, dass die Norm absolute Geltung beansprucht. Der Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG als Individualrecht besteht zunächst darin, den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen. Der Einzelne soll darauf vertrauen dürfen, dass er nach einem Urteil wegen des abgeurteilten Sachverhalts nicht nochmals belangt werden kann. Wäre dem Gesetzgeber vorbehalten, die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und staatlichem Strafanspruch anders zu treffen, könnte Art. 103 Abs. 3 GG selbst das Vertrauen des Angeklagten in den Bestand des in seiner Sache ergangenen Strafurteils und damit Rechtssicherheit für den Einzelnen nicht begründen.

Daneben dient die Rechtskraft einer Entscheidung auch dem Rechtsfrieden. Es besteht ein vom Einzelnen unabhängiges Bedürfnis der Gesellschaft an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage. Daher hat sich die moderne rechtsstaatliche Ordnung gegen die Erreichung des Ideals absoluter Wahrheit und für die in einem rechtsförmigen Verfahren festzustellende, stets nur relative Wahrheit entschieden. Auch das Strafrecht gebietet keine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“.

Damit stellt Art. 103 Abs. 3 GG auch gegenüber dem das Wiederaufnahmerecht gestaltenden Gesetzgeber ein absolutes und abwägungsfestes Verbot dar.

Als abwägungsfestes Verbot ist das grundrechtsgleiche Recht des Art. 103 Abs. 3 GG in Abgrenzung zu den allgemeinen rechtsstaatlichen Garantien eng auszulegen. Art. 103 Abs. 3 GG umfasst nur eine eng umgrenzte Einzelausprägung des Vertrauensschutzes in rechtskräftige Entscheidungen. Er schützt den Einzelnen allein vor erneuter Strafverfolgung aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, wenn wegen derselben Tat bereits durch ein deutsches Gericht ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist.

Im Rahmen dieses begrenzten Schutzgehalts verbietet Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Wiederaufnahme von Strafverfahren zum Nachteil des Grundrechtsträgers nicht generell, jedenfalls aber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel.

Die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens kann etwa darauf gerichtet sein, ein mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarendes Urteil aufzuheben, ohne dass eine Änderung des materiellen Ergebnisses im Vordergrund steht. Ist dies der Fall, ist Art. 103 Abs. 3 GG nicht berührt. Das betrifft insbesondere die Wiederaufnahme von Strafverfahren gemäß § 362 Nr. 1–4 StPO. Die Möglichkeit, ein unter schwerwiegenden Mängeln gefundenes Urteil, das die Anforderungen an ein justizförmiges, rechtsgeleitetes Verfahren verfehlt, aufzuheben und das Verfahren zu wiederholen, sichert den Geltungsanspruch des Urteils und damit die rechtsstaatliche Autorität des Strafverfahrens ab. Die Aufhebung eines Freispruchs nach einem glaubwürdigen Geständnis verfolgt den Zweck, ein Verhalten zu verhindern, das die Autorität des rechtsstaatlichen Strafverfahrens infrage stellen würde.

Demgegenüber verbietet Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel, die vorrangig auf eine inhaltlich „richtigere“ Entscheidung zielt. Die Korrektur eines Strafurteils mit dem Ziel, eine inhaltlich „richtigere“ und damit materiell gerechtere Entscheidung herbeizuführen, lässt sich mit der von Art. 103 Abs. 3 GG getroffenen unbedingten Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit nicht vereinbaren.

Die Rechtssicherheit, die durch ein justizförmig zustande gekommenes Urteil geschaffen wurde, erstreckt sich darauf, dass sie nicht durch das Auftauchen neuer Tatsachen oder Beweismittel infrage gestellt wird. Der Rechtsstaat nimmt die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Entscheidung vielmehr um der Rechtssicherheit willen in Kauf. Neue Tatsachen oder Beweismittel ziehen die Rechtsförmigkeit und Rechtsstaatlichkeit des vorausgegangenen Strafverfahrens nicht in Zweifel und begründen daher auch keinen schwerwiegenden Mangel der ergangenen Entscheidung. Deshalb zielt die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel nicht darauf, den Geltungsanspruch der ergangenen Entscheidung zu stärken, sondern stellt diese, im Gegenteil, zur Disposition.

Art. 103 Abs. 3 GG hat auch nicht aufgrund einer gewandelten Verfassungswirklichkeit eine veränderte Bedeutung erhalten, in deren Folge dem Gesetzgeber die Gestaltung einer – womöglich eng umgrenzten – Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel offen stünde. Zwar sind das Straf- und das Strafprozessrecht fortwährend Änderungen unterworfen. Insbesondere die Zulassung der Verständigung hat dabei Einfluss auf die Wahrheitsfindungsfunktion des Strafprozesses erlangt. An den verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Strafverfahren vermögen diese oder auch andere Entwicklungen jedoch nichts zu ändern.

Erst recht nehmen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Gesetzgeber nicht deshalb ab, weil eine gefestigte demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland dazu geführt hätte, dass eine Abkehr oder Aufweichung der verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht mehr zu befürchten sind.

Eine Ausweitung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums zur Regelung der Wiederaufnahme von Strafverfahren kann auch nicht auf die Belange von Opfern und deren Angehörigen gestützt werden. Zwar kann aus der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch gegen den Staat auf effektive Strafverfolgung folgen. Der Anspruch auf effektive Strafverfolgung verbürgt jedoch kein bestimmtes Ergebnis, sondern verpflichtet die Strafverfolgungsorgane grundsätzlich nur zu einem (effektiven) Tätigwerden. Die Gründe für eine Wiederaufnahme zulasten des Angeklagten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel wurzeln jedoch nicht in gravierenden Mängeln der Strafverfolgung an sich und insbesondere nicht in der Nichtverfolgung einer Straftat. Ein Freispruch steht vielmehr am Ende eines Strafverfahrens, das gerade nicht eingestellt, sondern rechtsförmig durchgeführt worden ist.

Insbesondere der Verweis auf die fortlaufende Verbesserung der Ermittlungsmethoden stellt die Rechtsstaatlichkeit früherer Strafverfolgung nicht infrage. Wird die Aufklärung ungelöster Fälle mithilfe früher nicht verfügbarer Erkenntnismittel möglich, bestätigt dies vielmehr die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit der früheren, wenn auch in der Sache unvollständigen Ergebnisse. Technischen Fortschritt unterstellt, kann eine spätere und daher mit moderneren Methoden durchgeführte Aufklärung die Chance besserer Erkenntnisse in sich tragen. Sie kann aber auch durch den Umstand belastet sein, dass nicht alle für das zuerst geführte Verfahren relevanten Beweismittel auch im zweiten Verfahren noch zur Verfügung stehen oder ebenso ertragreich sind, wie sie es im ersten Verfahren waren. Ein Strafprozess, der wegen des grundsätzlich stets möglichen Auftauchens neuer Tatsachen oder Beweismittel faktisch nie endete, würde für die Opfer beziehungsweise für ihre Hinterbliebenen eine erhebliche seelische Belastung darstellen, die das Bedürfnis an einer inhaltlich richtigen Aufklärung und Urteilsfindung immer weiter zurücktreten ließe, je mehr Zeit nach der Tat verstrichen wäre.

Die hier mittelbar angegriffene Norm des § 362 Nr. 5 StPO verstößt danach gegen das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG.

Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO betrifft das Strafrecht. Nicht nur der Tatbestand des Mordes nach § 211 StGB, sondern auch die darüber hinaus von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch sind allgemeine Strafgesetze im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG.

§ 362 Nr. 5 StPO stellt ferner auf ein rechtskräftiges Strafurteil eines deutschen Gerichts ab, worunter auch der Freispruch fällt. Die Norm ermöglicht mit der Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen eine erneute Strafverfolgung wegen derselben – bereits abgeurteilten – Tat.

Grund für die Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO sind neue Tatsachen oder Beweismittel. Zweck dieser Wiederaufnahme ist in erster Linie die inhaltliche Korrektur des Freispruchs. Bereits der Untertitel des Einführungsgesetzes – „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ – verweist auf diesen Zweck der Einführung des neuen Wiederaufnahmegrundes. Auch in der Gesetzesbegründung wird auf keinen anderen Zweck als die Korrektur des „unbefriedigenden“ beziehungsweise „schlechterdings unerträglichen“ Ergebnisses verwiesen, das bestünde, wenn eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel weiterhin ausgeschlossen wäre.

§ 362 Nr.5 StPO unterläuft somit die in Art. 103 Abs. 3 GG getroffene – abwägungsfeste – Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit.

Zudem verletzt die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten dieser Bestimmung durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG).

Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit „echter“ und solchen mit „unechter“ Rückwirkung. Eine Rechtsnorm entfaltet „echte“ Rückwirkung in Form einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung für vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll. Demgegenüber ist von einer „unechten“ Rückwirkung in Form einer tatbestandlichen Rückanknüpfung auszugehen, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet. Eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung) ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig.

Soweit § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme für Verfahren ermöglicht, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig abgeschlossen waren, liegt darin eine „echte“ Rückwirkung, die auch nicht ausnahmsweise zulässig ist.

Die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO erfasst auch Freisprüche, die bereits vor ihrem Inkrafttreten am 30. Dezember 2021 in Rechtskraft erwachsen sind. Eine andere Auslegung der ohne Übergangsbestimmungen erlassenen Norm kommt angesichts des deutlich erkennbaren Willens des Gesetzgebers nicht in Betracht. Gerade den streitgegenständlichen Fall und die vom Vater des Opfers mit initiierte Petition an den Deutschen Bundestag nimmt die Gesetzesbegründung ausdrücklich in Bezug.

Die Erstreckung auf Freisprüche, die bereits vor Inkrafttreten des § 362 Nr. 5 StPO rechtskräftig geworden sind, stellt eine „echte“ Rückwirkung im Sinne einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen dar. Im Strafverfahren enthält ein Freispruch den abschließenden Aussagegehalt, dass sich der Tatverdacht, der dem Strafverfahren zugrunde lag, nicht bestätigt hat. Der geregelte Lebenssachverhalt, an den eine gesetzliche Neuregelung der Wiederaufnahme Rechtsfolgen knüpft, ist das Verfahren, nicht der zugrundeliegende, den Verfahrensgegenstand prägende tatsächliche Sachverhalt. Erfolgt die Wiederaufnahme aufgrund einer Norm, die erst nachträglich in Kraft tritt, ändert sie die Rechtsfolgen eines Freispruchs. Den zuvor bestehenden Vorbehalten, die in den bisherigen Wiederaufnahmegründen zum Ausdruck kommen, fügt die Neuregelung einen weiteren Vorbehalt hinzu.

Die mit der Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO einhergehende „echte“ Rückwirkung ist verfassungsrechtlich nicht ausnahmsweise zulässig. Die Voraussetzungen der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten Ausnahmen liegen nicht vor. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der bisherigen Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz ne bis in idem erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Strafurteil an, und Art. 103 Abs. 3 GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang.

Die Unverjährbarkeit der von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte gebietet keine andere Bewertung. Gerade für unverjährbare Delikte kann erst ein Freispruch die weitere Strafverfolgung ausschließen. Er trifft, anders als das Institut der Verjährung, eine ausdrückliche staatliche Entscheidung darüber, dass die Voraussetzungen für die Bestrafung eines bestimmten Verhaltens nicht erfüllt sind, und knüpft hieran den Ausschluss erneuter Strafverfolgung. Daher entfaltet ein Freispruch eine noch stärkere Zäsurwirkung als der Eintritt der Verfolgungsverjährung.

Unerheblich ist, ob der Betroffene zum Zeitpunkt seines Freispruchs wusste, dass das Urteil materiell-rechtlich falsch war. In Fortsetzung des Grundsatzes in dubio pro reo schützen der Grundsatz ne bis in idem und Art. 103 Abs. 3 GG den Freigesprochenen gerade unabhängig von dessen materiell-rechtlicher Schuld.

Die vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 362 Nr. 5 StPO insgesamt beabsichtigte Verwirklichung des Prinzips der materialen Gerechtigkeit verdrängt die zentrale Bedeutung der Rechtssicherheit für den Rechtsstaat nicht. Der Freispruch eines möglicherweise Schuldigen und der Fortbestand dieses Freispruchs trotz abnehmender Zweifel an der Schuld des Freigesprochenen sind unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls nicht „unerträglich“, sondern vielmehr Folgen einer rechtsstaatlichen Strafrechtsordnung, in der der Zweifelsgrundsatz eine zentrale Rolle spielt.

Gemäß § 95 Abs. 3 BVerfGG ist § 362 Nr. 5 StPO für nichtig zu erklären. Die auf dieser Vorschrift beruhenden Beschlüsse des Oberlandesgerichts und des Landgerichts sind nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.

Abweichende Meinung des Richters Müller und der Richterin Langenfeld:

Der Auffassung der Senatsmehrheit, dass Art. 103 Abs. 3 GG einer Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten der betroffenen Person prinzipiell entgegensteht, können wir nicht folgen.

Der Gewährleistungsinhalt des Art. 103 Abs. 3 GG ist für eine Abwägung mit entgegenstehenden Verfassungsgütern und in der Folge für eine Ergänzung der bestehenden Wiederaufnahmegründe grundsätzlich offen.

Wäre Art. 103 Abs. 3 GG uneingeschränkt abwägungsfest, wäre für jegliche Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen von vornherein kein Raum. Auch die Senatsmehrheit sieht die bestehenden Möglichkeiten einer Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen gemäß § 362 Nr. 1-4 StPO als verfassungsrechtlich unbedenklich an.

Nach unserer Überzeugung steht es dem Gesetzgeber offen, unter Beachtung der sich aus Art. 103 Abs. 3 GG ergebenden engen verfassungsrechtlichen Grenzen, die bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Betroffenen zu ergänzen. Es handelt sich bei der Vorschrift um ein vorbehaltlos gewährleistetes grundrechtsgleiches Recht. Als solches unterliegt es verfassungsimmanenten Schranken.

Der Rückgriff der Senatsmehrheit auf die Systematik des Art. 103 Abs. 3 GG zur Begründung der Abwägungsfestigkeit der Bestimmung überzeugt nicht.

Art. 103 Abs. 3 GG stellt, wie der Senat zutreffend festhält, eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vertrauensschutzes dar, die ausschließlich für das strafrechtliche Verfahren gilt. Die Behauptung, diesem besonderen Vertrauensschutz komme unbedingter Vorrang gegenüber etwaigen Korrekturinteressen des Gesetzgebers zu, setzt indes voraus, dass der Verfassungsgeber eine solche absolute Vorrangentscheidung der Rechtssicherheit vor dem ebenfalls verfassungsrechtlich verbürgten Prinzip der materialen Gerechtigkeit tatsächlich getroffen hat. Dies ist nicht der Fall. Vielmehr hat der Verfassungsgeber die im einfachen Recht vorgefundenen Wiederaufnahmetatbestände unangetastet gelassen. Es ist nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Gesetzgeber angesichts dessen daran gehindert sein sollte, weitere Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem vorzusehen, wenn sie den allgemeinen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Zulässigkeit solcher Beschränkungen genügen und sich als zulässige Konkretisierungen immanenter Schranken des Art. 103 Abs. 3 GG darstellen. Die von der Senatsmehrheit angeführten Unterschiede zwischen den bestehenden Wiederaufnahmegründen in § 362 Nr. 1-4 StPO und der streitgegenständlichen Norm des § 362 Nr. 5 StPO sind nicht geeignet, eine derart kategoriale Differenzierung in Hinblick auf die Abwägungsfestigkeit zu tragen.

Aus unserer Sicht bestätigen die bestehenden Regelungen, dass eine Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen strafgerichtlichen Verfahrens zuungunsten des Betroffenen in Betracht kommen kann, wenn das Gewicht der Wiederaufnahmegründe und das dahinterstehende Anliegen einer materiell schuldangemessenen Sanktionierung als Ausdruck einer effektiven Strafrechtspflege den grundsätzlichen Bestand rechtskräftiger Entscheidungen ausnahmsweise überwiegt. Für die in § 362 Nr. 1-4 StPO normierten Tatbestände ist der Verfassungsgeber von einem solchen Überwiegen unstreitig ausgegangen. Dies dokumentiert, dass es verfassungsrechtlich unbedenkliche Fälle gibt, in denen der in Art. 103 Abs. 3 GG normierte Vorrang der Rechtssicherheit zurücktritt.

Die überkommenen Wiederaufnahmegründe des § 362 Nr. 1-3 StPO sehen eine Wiederaufnahme bei schweren Verfahrensmängeln vor. Sie ermöglichen eine Korrektur einer qualifiziert defizitären Beweisführung. Im Fall des § 362 Nr. 5 StPO geht es ebenfalls um die Korrektur eines Freispruches, der aufgrund von Beweismitteldefiziten in der ursprünglichen Hauptverhandlung, die allerdings erst im Nachhinein offenbar geworden sind, zustande gekommen ist.

Dies gilt erst recht mit Blick auf § 362 Nr. 4 StPO. Im Fall des nachträglichen glaubwürdigen Geständnisses (§ 362 Nr. 4 StPO) ist die Beweislage zulasten des Freigesprochenen verändert mit der Folge, dass eine Wiederaufnahme möglich wird. Nicht anders verhält es sich bei § 362 Nr. 5 StPO, der voraussetzt, dass neue Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe für eine Verurteilung bilden.

Abgesehen davon, dass mit der Auffassung der Senatsmehrheit Zufälligkeiten einer vorkonstitutionellen Rechtslage verfassungsrechtlich versteinert würden, sind mit dieser Sicht schwerlich auflösbare Wertungswidersprüche verbunden. Insbesondere ist es kaum zu erklären, aus welchem Grunde ein Freigesprochener, der in einem Wirtschaftsstrafverfahren von einer gefälschten Urkunde profitiert hatte (die er noch nicht einmal selbst gefälscht haben muss), sich einer erneuten Anklage stellen muss, dagegen aber nicht jemand, der in einem Verfahren wegen Mordes durch ein molekulargenetisches Gutachten der Täterschaft überführt wird. Ebenso dürfte kaum vermittelbar sein, warum in einem Fall, in dem nach einem Freispruch ein Täter, der Kriegsverbrechen gesteht, erneut angeklagt werden kann, während sein ebenfalls freigesprochener Komplize, der nicht geständig ist, trotz des Auftauchens neuer erdrückender Beweise straflos bleibt.

Auch Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG erfordern – anders, als die Senatsmehrheit meint – nicht seine Abwägungsfestigkeit. Der Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG als Individualrecht besteht darin, den staatlichen Strafanspruch um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen. Daneben dient Art. 103 Abs. 3 GG auch der Sicherung des Rechtsfriedens. Diese Grund-
entscheidung wird durch eine Beschränkung des Art. 103 Abs. 3 GG, die im Ausnahmefall dem Strafanspruch des Staates zur Herstellung materialer Gerechtigkeit den Vorrang einräumt, indes nicht aufgehoben. Der Gesetzgeber darf berücksichtigen, dass der Rechtsfrieden auch Schaden erleiden kann, wenn im Falle schwerster Straftaten im Sinne von § 362 Nr. 5 StPO ein Betroffener trotz erdrückender Beweise straflos bleibt. Der Notwendigkeit möglichst lückenloser Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in solchen Fällen hat der Gesetzgeber durch die Anordnung der Unverjährbarkeit dieser Straftaten Rechnung getragen. Es erschließt sich nicht, dass die Berücksichtigung der dem zugrundeliegenden Wertung bei der Frage der Wiederaufnahme von vornherein ausgeschlossen sein soll.

Der Strafklageverbrauch nach Art. 103 Abs. 3 GG steht demgemäß einer weiteren Einschränkung durch eine Ergänzung der Wiederaufnahmegründe durch § 362 Nr. 5 StPO nicht grundsätzlich entgegen. Die Gefahr eines „Dammbruchs“ besteht angesichts der Begrenzung auf schwerste, unverjährbare Straftaten und der sonstigen engen tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm nicht. Die Ermöglichung der Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO dient der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches bei wenigen besonders schweren Straftaten. Das dahinterstehende Ziel ist die Stabilisierung und Sicherung des Rechtsfriedens und die Durchsetzung von Normen zum Schutz höchstrangiger subjektiver Rechtsgüter und von fundamentalen völkerrechtlichen Interessen.

Ob die konkrete Ausgestaltung der streitgegenständlichen Norm des § 362 Nr. 5 StPO in jeder Hinsicht verhältnismäßig im engeren Sinne und hinreichend bestimmt ist, bedürfte näherer Prüfung.

Unabhängig von bestehenden Zweifeln an der Vereinbarkeit der konkreten Ausgestaltung der streitgegenständlichen Norm mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheit liegt ein Verstoß gegen das Verbot der echten Rückwirkung aus Art. 103 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG vor.