Digitales Einwurf-Einschreiben: Kein Anscheinsbeweis mehr – was Arbeitgeber und Arbeitnehmer wissen sollten

17. Oktober 2025 -

Wo früher bei Einwurf-Einschreiben noch mit Aufklebern und Papierbelegen gearbeitet wurde, setzt die Deutsche Post heute auf Scanner-Technik. Diese Modernisierung erleichtert zwar die Zustellung, erbringt aber keinen Beweis des ersten Anscheins (Anscheinsbeweis) für den Zugang mehr. Das hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamburg mit Urteil vom 14.07.2025 (Az. 4 SLa 26/24) entschieden. Für die Praxis in der Arbeitswelt bedeutet dies: Arbeitgeber müssen beim Versand wichtiger Schriftstücke (wie z.B. Kündigungen, Abmahnungen oder Einladungen zum betrieblichen Eingliederungsmanagement) vorsichtiger sein. Arbeitnehmer hingegen sollten wissen, dass ein bestrittenes Schreiben, welches per modernem Einwurf-Einschreiben verschickt wurde, nicht ohne Weiteres als zugegangen gilt.

Hintergrund: Einwurf-Einschreiben und Anscheinsbeweis

Ein Einwurf-Einschreiben ist eine Form des Einschreibens, bei dem der Postzusteller den Brief in den Hausbriefkasten des Empfängers einwirft. Im Unterschied zum Übergabe-Einschreiben (bei dem der Empfänger oder ein Empfangsberechtigter unterschreiben muss), erhält der Absender beim Einwurf-Einschreiben keine Unterschrift des Empfängers, sondern lediglich einen Einlieferungsbeleg und den Vermerk, dass die Sendung zugestellt wurde. In der Vergangenheit wurde dennoch oft ein Anscheinsbeweis für den Zugang angenommen, sofern die Post ein bestimmtes Verfahren einhielt.

Was bedeutet „Beweis des ersten Anscheins“? Es handelt sich um einen Anscheinsbeweis, wenn ein typischer Geschehensablauf vorliegt, der nach allgemeiner Lebenserfahrung auf einen bestimmten Erfolg hindeutet. Im Kontext von Einschreiben heißt das: Wenn üblicherweise ein bestimmtes Post-Verfahren zuverlässig dazu führt, dass ein Brief im Briefkasten landet, darf man – solange nichts Gegenteiliges bekannt ist – annehmen, dass auch im konkreten Fall der Brief angekommen ist. Dieser Anscheinsbeweis kann aber erschüttert werden, wenn im Einzelfall Zweifel am Ablauf bestehen oder wenn das Verfahren nicht mehr als „typisch zuverlässig“ betrachtet wird.

Früher nutzte die Post beim Einwurf-Einschreiben ein Peel-off-Label-Verfahren. Dabei klebte der Zusteller unmittelbar vor dem Einwurf einen abziehbaren Barcode-Aufkleber der Sendung auf einen Auslieferungsbeleg und bestätigte darauf mit Datum und Unterschrift, dass er den Brief eingeworfen hat. Gerichte – darunter der Bundesgerichtshof (BGH) – sahen hierin einen typischen Ablauf: Bei Vorlage des Einlieferungsbelegs und einer Kopie des vom Zusteller unterzeichneten Auslieferungsbelegs wurde zugunsten des Absenders vermutet, dass der Brief tatsächlich im Briefkasten des Empfängers gelandet ist. Mit anderen Worten: Hielt der Zusteller das standardisierte Verfahren ein und war dies dokumentiert, hatte der Absender einen Anscheinsbeweis für die Zustellung.

Das Urteil des LAG Hamburg vom 14.07.2025

Im aktuellen Fall vor dem LAG Hamburg ging es um die Kündigung eines langjährig häufig erkrankten Arbeitnehmers. Der Arbeitgeber – ein Entsorgungsunternehmen – hatte der Mitarbeiterin zwischen 2020 und 2023 über 30-mal krankheitsbedingt gefehlt, teilweise wochenlang. Bevor eine krankheitsbedingte Kündigung ausgesprochen werden sollte, war der Arbeitgeber verpflichtet, ein erneutes betriebliches Eingliederungsmanagement (beM) durchzuführen, da der Arbeitnehmer bereits 2022 ein beM durchlaufen hatte. Zu diesem Zweck versandte der Arbeitgeber im Oktober 2023 eine Einladung zum beM per Einwurf-Einschreiben.

Der Arbeitnehmer behauptete jedoch, diese Einladung nie erhalten zu haben. Das Arbeitsgericht Hamburg gab dem Arbeitnehmer Recht: Trotz des Einwurf-Einschreibens ließ sich der Zugang der Einladung nicht sicher feststellen. Folglich war die Kündigung unwirksam, da der Arbeitgeber nicht alle milderen Mittel (hier: ordnungsgemäße Durchführung des beM) ausgeschöpft hatte. Der Arbeitgeber legte Berufung ein – doch ohne Erfolg. Das LAG Hamburg bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz und stellte klar, dass durch die Modernisierung des Einwurf-Einschreibens die frühere Beweiskraft verloren gegangen ist.

Das Ergebnis: Mangels nachgewiesenem Zugang der beM-Einladung fehlte eine Voraussetzung für die sozial gerechtfertigte Kündigung. Die Kündigung wurde kassiert und das Unternehmen zur Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers verpflichtet.

Gründe: Warum liefert das digitale Einwurf-Einschreiben keinen Anscheinsbeweis?

Das LAG Hamburg begründet seine Entscheidung ausführlich damit, dass das neue, digitalisierte Verfahren beim Einwurf-Einschreiben zu fehleranfällig ist und nicht mehr den typischen Ablauf gewährleistet, der für einen Anscheinsbeweis erforderlich wäre.

Worin unterscheidet sich das moderne Verfahren? Heutzutage scannt der Zusteller die Sendungsnummer des Einschreibens mit einem Handscanner ein. Anschließend unterschreibt der Zusteller digital auf dem Gerät; das Datum wird automatisch erfasst. Wichtig: Dieser Scan- und Unterschriftvorgang erfolgt bereits vor dem eigentlichen Einwurf des Briefes in den Hausbriefkasten des Empfängers. Erst danach wirft der Zusteller den Brief ein – idealerweise in den richtigen Briefkasten. Die Deutsche Post gibt intern vor, dass der Zusteller vor dem Einwurf noch überprüfen soll, ob der Empfängername auf dem Briefkasten steht. Allerdings ist diese Prüfung nur Teil der Dienstvorschrift, nicht technisch erzwungen oder dokumentiert.

Nach Ansicht des LAG Hamburg ist dieser Ablauf nicht verlässlich genug, um einen Anscheinsbeweis zu begründen. Einige zentrale Kritikpunkte des Gerichts waren:

  • Kein „typischer“ gesicherter Ablauf: Der Zustellvorgang hängt zu sehr von der Gewissenhaftigkeit des einzelnen Zustellers ab. Es gibt viele Fehlermöglichkeiten – etwa wenn in einem Haus mehrere Briefkästen dicht beieinander liegen oder der Postbote abgelenkt ist. Sogar das Scannen der Sendung kann theoretisch vorgenommen werden, während der Zusteller noch andere Briefe in der Hand hält, was die Gefahr eines Versehens (Einwurf in den falschen Kasten) erhöht. Kurz: Es fehlt die für einen Anscheinsbeweis nötige Typizität, dass bei Einwurf-Einschreiben nach diesem Schema der Brief mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit beim Empfänger ankommt.
  • Lückenhafte Dokumentation: Der neue Zustellbeleg bzw. die elektronische Sendungsverfolgung ist wenig aussagekräftig. Aus den digitalen Aufzeichnungen geht nicht hervor, an welcher Adresse der Einwurf erfolgte oder um welche Uhrzeit. Ebenso lässt sich der Übergabemodus nicht erkennen – die Statusmeldung nennt zwar zwei Optionen (Übergabe an Empfänger oder Einlegen in den Briefkasten), dokumentiert aber nicht, welche davon tatsächlich stattgefunden hat. Damit fehlt es an entscheidenden Details: Der Empfänger kann praktisch nicht prüfen, ob vielleicht an die falsche Adresse zugestellt wurde oder ob eventuell doch eine Übergabe an eine Person erfolgte. Ein solcher unbestimmter Status bietet keine ausreichende Gewähr für die Zustellung im konkreten Fall und erschwert es dem Empfänger, den Anschein einer korrekten Zustellung zu erschüttern.

Das LAG Hamburg stellt klar, dass es zwar ein hohes praktisches Bedürfnis nach nachweisbarer Zustellung gibt – gerade im Rechtsverkehr – aber das moderne Einwurf-Einschreiben erfüllt diese Anforderungen nicht mehr. Es liefert schlicht keinen zuverlässigen Nachweis, den Gerichte als ausreichend für einen Zugang im Sinne des § 130 BGB oder einschlägiger arbeitsrechtlicher Vorschriften anerkennen würden. Der früher mögliche Anscheinsbeweis wird durch die Digitalisierung des Verfahrens ausgehöhlt.

Diese Einschätzung des LAG Hamburg reiht sich in die jüngere Rechtsprechung ein. Bereits das Bundesarbeitsgericht hat Anfang 2025 entschieden, dass ein Arbeitgeber den Zugang einer Kündigung nicht allein mit Einwurf-Einschreiben nachweisen kann. Ohne den traditionellen Auslieferungsbeleg oder einen Zeugen genügt ein Einlieferungsbeleg plus Sendungsstatus nicht. Das höchste Arbeitsgericht betonte, dass der bloße Versandnachweis noch keine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit für den Zugang bietet als ein normaler Brief. Genau diese fehlende Sicherheit führt nun auch das LAG Hamburg ins Feld, um den Anscheinsbeweis abzulehnen.

Konsequenzen und Tipps für Arbeitgeber

Für Arbeitgeber hat das Urteil unmittelbare Auswirkungen auf die Gestaltung von wichtigen Schriftstücken:

  • Wichtige Schreiben nicht unkritisch per Einwurf-Einschreiben versenden: Bei Kündigungen, Abmahnungen, Versetzungen, Einladungsschreiben (z.B. zum beM oder Anhörungen) etc. sollte man sich nicht mehr auf das digitale Einwurf-Einschreiben als Zustellnachweis verlassen. Kommt es zum Streit, trägt der Arbeitgeber die Beweislast für den Zugang – und diesen Beweis zu führen wird ohne Anscheinsbeweis sehr schwer. Im Zweifel könnte das Schreiben als nicht zugegangen gelten, was z.B. eine Kündigung unwirksam werden lässt.
  • Alternative Zustellarten wählen: Das LAG Hamburg selbst empfiehlt den Rückgriff auf Übergabe-Einschreiben oder die Zustellung per Boten. Ein Übergabe-Einschreiben (Einschreiben mit Rückschein) bietet den Vorteil einer Unterschrift des Empfängers oder eines Empfangsberechtigten als Nachweis. Allerdings kann der Empfänger die Annahme verweigern oder das Schreiben nicht abholen, was den Zugang verzögern oder vereiteln kann. Noch sicherer ist daher oft die Zustellung durch einen Boten: Dabei übergibt ein Mitarbeiter oder Kurier den Brief persönlich an den Empfänger oder – falls niemand angetroffen wird – wirft ihn in den Briefkasten und dokumentiert diesen Vorgang schriftlich (z.B. mittels Zustellungsprotokoll oder eidesstattlicher Erklärung des Boten). Ein neutraler Zeuge beim Einwurf kann die Beweiskraft zusätzlich stärken. Vor Gericht gilt die Aussage des Boten oder Zeugen dann als direkter Beweis für den Zugang.
  • Gerichtsvollzieher-Zustellung in Erwägung ziehen: Bei besonders wichtigen oder fristgebundenen Schreiben (z.B. die Kündigung eines Arbeitsvertrags kurz vor Ablauf der Kündigungserklärungsfrist) kann auch die amtliche Zustellung durch den Gerichtsvollzieher sinnvoll sein. Diese Methode ist zwar mit etwas höheren Kosten verbunden, liefert aber einen öffentlichen Zustellungsnachweis und gilt als sehr sicher. Im Streitfall ist der Zugang damit gerichtsfest dokumentiert.
  • Doppelt zustellen: In der Praxis versenden manche Arbeitgeber extrem wichtige Schreiben doppelt: parallel einmal per normalem Brief und einmal per Einschreiben. Die Idee dahinter: Selbst wenn der Einschreibe-Nachweis vor Gericht nicht genügt, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass beide Sendungen verlorengehen. Diese Vorgehensweise ersetzt zwar keinen echten Nachweis, kann aber im Prozess die Glaubhaftigkeit erhöhen, dass zumindest eines der Schreiben den Empfänger erreicht hat. Dennoch bleibt auch hier ein Restrisiko – 100% sicher geht man nur mit den zuvor genannten Methoden (persönliche Übergabe, Bote oder Gerichtsvollzieher).
  • Dokumentation bewahren: Wenn dennoch per Einwurf-Einschreiben verschickt wird (z.B. mangels anderer Möglichkeit), sollten Arbeitgeber zumindest versuchen, an die Reproduktion des Auslieferungsbelegs zu gelangen. Die Deutsche Post speichert diesen (den vom Zusteller digital unterschriebenen Zustellnachweis) in der Regel bis zu 15 Monate lang elektronisch. Fordert der Absender diese Kopie rechtzeitig an, kann er im Streitfall zumindest das vom Zusteller erstellte Zustelldokument vorlegen. Das ersetzt zwar nicht alle Mängel der neuen Methode, ist aber aussagekräftiger als nur den online abrufbaren Sendungsstatus vorzuweisen. Zudem zeigt ein solches Vorgehen, dass der Arbeitgeber aktiv um Nachweissicherung bemüht war.

Konsequenzen und Tipps für Arbeitnehmer

Auch für Arbeitnehmer ergeben sich aus dieser Entwicklung wichtige Punkte:

  • Kündigungen überprüfen lassen: Erhält ein Arbeitnehmer eine Kündigung per Einwurf-Einschreiben (oder behauptet der Arbeitgeber, eine solche verschickt zu haben, die der Arbeitnehmer aber nie erhalten hat), lohnt es sich, im Zweifel eine Kündigungsschutzklage einzureichen. Bestreitet der Arbeitnehmer den Zugang und kann der Arbeitgeber keinen sicheren Nachweis erbringen, stehen die Chancen gut, dass die Kündigung vor Gericht als unwirksam angesehen wird. Der Fall LAG Hamburg zeigt, dass Gerichte bei bestrittenem Zugang zunehmend zugunsten der Arbeitnehmer entscheiden, wenn nur ein digitaler Zustellvermerk vorliegt und konkrete Zugangsnachweise fehlen.
  • Fristen im Blick behalten: Wichtig ist, dass Arbeitnehmer trotz solcher Beweisschwierigkeiten die dreiwöchige Klagefrist für Kündigungsschutzklagen einhalten, sobald ihnen eine Kündigung zugegangen scheint. Auch wenn man glaubt, der Arbeitgeber könne den Zugang nicht beweisen, sollte man sicherheitshalber rechtzeitig Klage erheben, um alle Optionen offenzuhalten. Die Frage, ob der Zugang tatsächlich erfolgt ist, wird dann im Prozess geklärt. Würde man abwarten und keine Klage einreichen, riskiert man, dass das Gericht doch von einem Zugang ausgeht und die Klage mangels fristgerechter Erhebung abweist.
  • Empfang von Einschreiben aufmerksam verfolgen: Arbeitnehmer sollten bei erwarteten wichtigen Schreiben (z.B. in laufenden Personalverfahren oder Streitigkeiten) ihre Post aufmerksam verfolgen. Zwar kann ein fehlender Zugang dem Arbeitgeber im Streitfall zum Verhängnis werden – wie oben gezeigt – dennoch ist es für den Arbeitnehmer meist besser, von einer Kündigung oder Einladung tatsächlich Kenntnis zu haben, um reagieren zu können. Falls man eine Benachrichtigung über ein Einschreiben erhält (etwa bei einem Übergabe-Einschreiben, das persönlich abzuholen ist), sollte man diese zeitnah abholen. Andernfalls könnte der Arbeitgeber argumentieren, man habe den Zugang treuwidrig vereitelt. Bei Einwurf-Einschreiben gibt es hingegen keine Benachrichtigung; hier heißt es schlicht, regelmäßig den Briefkasten zu leeren.
  • Wichtige Mitteilungen selbst zuverlässig absenden: Nicht nur Arbeitgeber, auch Arbeitnehmer versenden mitunter entscheidende Dokumente (z.B. Eigenkündigungen, Fristsetzungen, Widersprüche gegen Kündigungen oder Zeugnisberichtigungen). Hier gilt spiegelbildlich: Verlassen Sie sich nicht allein auf ein Einwurf-Einschreiben, wenn es auf den Nachweis des Zugangs ankommt. Nutzen Sie im Zweifel sichere Wege: persönliche Übergabe gegen Quittung, Boten, Einschreiben mit Rückschein oder zur Not den Gerichtsvollzieher. Im Streitfall muss der Arbeitnehmer nämlich den Zugang eines von ihm abgesandten Schreibens beweisen, z.B. um zu belegen, dass eine Frist gewahrt oder eine Erklärung zugegangen ist. Ohne belastbaren Nachweis riskiert man Rechtsnachteile – daher auch für Arbeitnehmer der Rat, wichtige Schreiben stets so zu versenden, dass der Zugang später belegt werden kann.

Das Urteil des LAG Hamburg vom 14.07.2025 macht deutlich, dass technische Änderungen im Zustellverfahren erhebliche rechtliche Auswirkungen haben können. Das digitalisierte Einwurf-Einschreiben bietet nicht mehr die frühere Beweissicherheit – im Gegenteil, es wird als Zustellnachweis vor Gericht nicht mehr ohne Weiteres anerkannt. Arbeitgeber sollten daher ihre internen Prozesse anpassen und für wichtige Schreiben verlässlichere Zustellarten wählen. Arbeitnehmer wiederum können im Streitfall ihre Rechte besser verteidigen, wenn der Zugang fraglich ist. Letztlich dürfte die Entscheidung dazu führen, dass im Arbeitsrecht verstärkt auf persönliche Zustellung gesetzt wird – sei es durch Empfangsbekenntnis, Rückschein-Einschreiben oder Boten. Der vermeintlich bequeme Weg des Einwurf-Einschreibens ist jedenfalls kein sicherer Rechtsweg mehr, um den