EGMR: Gerichte müssen verweigerte EuGH-Vorlage begründen

18. Dezember 2025 -

Ein ehemaliger Partner einer internationalen Großkanzlei (Clifford Chance) stritt mit seinem früheren Arbeitgeber über eine mutmaßlich altersdiskriminierende Pensionsregelung. Er berief sich unter anderem auf EU-Recht (die Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG) und britisches Recht. Zunächst gewann er vor dem Landgericht Frankfurt am Main; jedoch hob das Oberlandesgericht das Urteil auf und hielt die unterschiedliche Behandlung für gerechtfertigt. Das Bundesgerichtshof (BGH) ließ die Revision nicht zu, obwohl der Kläger ausdrücklich beantragt hatte, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) anzurufen. In seinem Beschluss vermerkte der BGH lediglich, er habe die Vorlagepflicht geprüft – jedoch ohne irgendwelche Gründe für die Ablehnung einer EuGH-Vorlage zu nennen. Auch das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde des Klägers ohne Begründung nicht zur Entscheidung an.

Daraufhin zog der Kläger vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Dieser hat am 16. Dezember 2025 entschieden (Rechtssache Gondert v. Germany, Beschwerde-Nr. 34701/21), dass das Vorgehen der deutschen Gerichte in diesem Fall sein Recht auf ein faires Verfahren verletzte. Zwar ging es dabei nicht um den Ausgang des arbeitsrechtlichen Streits selbst, sondern um die Art und Weise, wie die Gerichte mit dem Antrag auf eine EuGH-Vorlage umgegangen sind.

Kernaussage des EGMR-Urteils

Der EGMR stellte klar, dass es kein absolutes Recht einer Partei gibt, dass ein nationales Gericht eine Frage dem EuGH vorlegt. Allerdings besitzen Parteien ein Recht auf Begründung, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine beantragte Vorlage an den EuGH ablehnt. Konkret bedeutet das: Gerichte höchster Instanz müssen nachvollziehbar darlegen, warum sie eine vom Kläger oder der Klägerin angeregte Vorlage an den EuGH verweigern. Ein bloßer Hinweis darauf, man habe die Vorlagepflicht „geprüft“, reicht nicht aus. Vielmehr müssen Gründe genannt werden – etwa, dass die aufgeworfene EU-rechtliche Frage für den Streit nicht relevant ist, dass sie vom EuGH bereits geklärt wurde oder dass die richtige Anwendung des EU-Rechts offenkundig ist (Kriterien aus der EuGH-Rechtsprechung, oft als CILFIT-Kriterien bezeichnet).

Der EGMR wertete die fehlende Begründung im deutschen Verfahren als Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf faires Verfahren). Die Pflicht zur Urteilsbegründung ist ein wesentliches Element eines fairen Verfahrens: Nur so können die Parteien die Entscheidung nachvollziehen, und es schützt vor willkürlichem Vorgehen. Im konkreten Fall hatte der BGH gar keine inhaltliche Begründung für die verweigerte EuGH-Vorlage geliefert – das genügte Straßburg, um einen Konventionsverstoß festzustellen. Der Kläger erhielt deshalb vom EGMR eine Entschädigung (3.000 € für immateriellen Schaden plus 2.000 € Kosten) zugesprochen.

Wichtig: Der EGMR fordert nicht, dass nationalen Gerichten generell vorgeschrieben wird, Fragen dem EuGH vorzulegen. Vielmehr reicht es für ein faires Verfahren, wenn bei einer Ablehnung der EuGH-Vorlage eine nachvollziehbare Begründung gegeben wird. Ein Anspruch auf eine Vorlage selbst oder eine Art „Revisionsinstanz“ beim EuGH lehnte der EGMR ab – insoweit bleibt es also dabei, dass die nationalen Gerichte im Rahmen des Art. 267 AEUV selbst entscheiden, ob eine Vorlage erforderlich ist.

Bedeutung für EU-rechtliche Gerichtsverfahren

Dieses Urteil aus Straßburg setzt einen wichtigen neuen Akzent in der schon länger währenden Diskussion um die Vorlagepflicht nationaler Gerichte. Bereits zuvor hatten beispielsweise das deutsche Bundesverfassungsgericht und der EuGH selbst klargestellt, dass oberste Gerichte eine EU-rechtliche Vorlagepflicht haben können und dass eine willkürliche Unterlassung der Vorlage gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 GG) verstoßen kann. Neu an der EGMR-Entscheidung ist jedoch der Blickwinkel des Fair-Trial-Grundsatzes: Der EGMR verankert die Begründungspflicht bei abgelehnten Vorlagen ausdrücklich im Recht auf ein faires Verfahren. Dieses Fair-Trial-Prinzip ist breiter gefasst als das nationale Recht auf den gesetzlichen Richter und stärkt die individuelle Rechtsposition von Klägern und Beklagten deutlich.

Für die Praxis in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention bedeutet das: Gerichte höchster Instanz werden es sich künftig zweimal überlegen müssen, ob und wie sie einen Antrag auf EuGH-Vorlage ablehnen. Tun sie es, müssen sie zumindest ausführlich begründen, warum sie keine Vorlage für nötig halten. Das schafft mehr Transparenz und Vertrauen in die gerichtlichen Entscheidungen bei EU-rechtlich geprägten Fällen und gibt den Parteien ein Mittel an die Hand, gegen unzureichend begründete Entscheidungen vorzugehen.

Auch andere Gerichtsparteien können indirekt profitieren: Das Urteil macht klar, dass Argumente zu EU-rechtlichen Fragen ernsthaft geprüft werden müssen. Ein nationales Gericht kann sich einer EU-rechtlichen Problematik nicht einfach entziehen, ohne dies deutlich zu begründen. Damit wird auch die dezentral organisierte Rechtsdurchsetzung des EU-Rechts gestärkt – nationale Gerichte bleiben die „Hüter“ der EU-Rechte, müssen aber ihre Entscheidungen im Lichte des EU-Rechts plausibel machen.

Praktische Hinweise für Betroffene und Anwälte

Was bedeutet das konkret, wenn Sie in einem Gerichtsverfahren sind, das EU-Recht betrifft? Hier einige Tipps, um die Vorlagepflicht und das neue EGMR-Urteil effektiv zu nutzen:

  • Vorlage ausdrücklich beantragen: Wenn Sie der Meinung sind, eine entscheidungserhebliche Frage des EU-Rechts sei ungeklärt, sollten Sie bereits vor dem nationalen Gericht klar beantragen, diese Frage dem EuGH vorzulegen. Begründen Sie ausführlich, warum die Frage relevant ist und noch nicht geklärt wurde. Hinweis: In einem Parallelfall (De Simone ./. Deutschland) hat der EGMR eine Beschwerde abgewiesen, weil der Betroffene gar keine EuGH-Vorlage beantragt und begründet hatte – dort war also mangels ausdrücklichen Antrags kein Verstoß festzustellen. Lehre daraus: Ein Gericht ist nicht verpflichtet, von sich aus Fragen vorzulegen; es muss zumindest ein entsprechender Antrag und Argumente von einer Partei vorliegen.
  • Gründe für Ablehnung einfordern: Lehnt das (letztinstanzliche) Gericht Ihren Vorlageantrag ab, achten Sie darauf, dass es dies schriftlich begründet. Falls die Gründe im Urteil/Beschluss nicht ersichtlich sind, kann Ihr Anwalt gegebenenfalls nachhaken oder im Rahmen der Urteilsanfechtung (sofern möglich) rügen, dass eine ausreichende Begründung fehlt. Zwar kann man ein Gericht nicht zwingen, den EuGH anzurufen, aber man kann verlangen, dass die Ablehnung sachlich begründet wird – gestützt auf die nun gefestigte Rechtsprechung des EGMR. Dieses Verlangen kann die Gerichte dazu bewegen, sich intensiver mit der EU-rechtlichen Frage auseinanderzusetzen.
  • Rechtsmittel prüfen: Wenn Sie der Ansicht sind, das Gericht hätte den EuGH befragen müssen, stehen je nach Land verschiedene Rechtsmittel offen. In Deutschland konnte man bisher schon Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter einlegen. Nun kommt als weiterer Hebel der Gang zum EGMR hinzu, sofern alle nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Eine Beschwerde in Straßburg kann erfolgreich sein, wenn das höchste Gericht keine oder nur eine offensichtlich unzureichende Begründung für die Nichtvorlage gegeben hat. Wichtig ist, dass Sie im Verfahren dokumentiert haben, dass Sie die EuGH-Vorlage verlangt und untermauert haben.
  • Wiederaufnahmemöglichkeit nutzen: Hat der EGMR – wie im besprochenen Fall – eine Verletzung festgestellt, gibt es in vielen Ländern Verfahren, um den abgeschlossenen Prozess wieder aufzurollen. In Deutschland etwa kann innerhalb von einem Monat nach Rechtskraft des EGMR-Urteils eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt werden (§ 580 Nr. 8 ZPO), um das ursprüngliche Urteil aufheben zu lassen und eine neue Entscheidung (ggf. mit EuGH-Vorlage) zu erreichen. Betroffene sollten diese Frist im Blick behalten und sich anwaltlich beraten lassen, welcher Rechtsweg zur Korrektur des Urteils offensteht. Im Fall Gondert ./. Deutschland eröffnet das EGMR-Urteil dem Anwalt die Chance, seinen Zivilprozess neu aufzurollen und doch noch eine Entscheidung unter Berücksichtigung des EuGHs zu erlangen.

Zusammenfassend stärkt das EGMR-Urteil die Rechte von Parteien in Gerichtsverfahren mit EU-Bezug. Es empfiehlt sich, frühzeitig auf EU-rechtliche Fragen hinzuweisen und eine EuGH-Vorlage gezielt zu beantragen, wenn dies erfolgversprechend scheint. Gerichte sind nun angehalten, solche Anträge ernst zu nehmen und transparent über ihre Entscheidungen hierzu Rechenschaft abzulegen. Für Anwälte und Betroffene bedeutet das ein zusätzliches Druckmittel, um die korrekte Anwendung des EU-Rechts sicherzustellen – notfalls mit dem EGMR als Wächter des fairen Verfahrens im Rücken.