Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg fällte am 10.07.2025 sein Urteil im Fall Semenya.
Hintergrund: IAAF-Regel und nationale Verfahren
Im April 2018 führte der Leichtathletik-Weltverband World Athletics (früher IAAF) eine umstrittene Regelung für Sportlerinnen mit Unterschieden in der Geschlechtsentwicklung (englisch Differences in Sex Development, DSD) ein. Betroffene Athletinnen – darunter die südafrikanische 800-Meter-Olympiasiegerin Caster Semenya – sollten ihren natürlich hohen Testosteronspiegel medikamentös senken, um weiter in Frauenkategorien antreten zu dürfen. Semenya, die wegen einer angeborenen DSD (46,XY-Chromosomen, innere Hoden, keine Gebärmutter) einen erhöhten Testosteronwert hat, sah darin eine Verletzung ihrer Rechte und weigerte sich, solche Medikamente einzunehmen.
Semenya focht die DSD-Regeln zunächst vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS in Lausanne an. Der CAS erkannte zwar an, dass die Regel diskriminierend wirkt, hielt sie aber im Interesse eines faireren Wettbewerbs für gerechtfertigt. Anschließend rief Semenya das Schweizerische Bundesgericht als oberste nationale Instanz an, blieb dort jedoch erfolglos. Das Bundesgericht lehnte eine Aufhebung des CAS-Schiedsspruchs ab und befand, die Testosteronregel verletze nicht die schweizerische ordre public (öffentliche Ordnung). Mit dieser summarischen Prüfung bestätigte das Bundesgericht im September 2020 im Ergebnis das CAS-Urteil.
Der Weg vor den EGMR
Im Februar 2021 legte Semenya Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ein. Sie machte geltend, die Vorgaben von World Athletics zur erzwungenen Testosteronsenkung verletzten mehrere ihrer grundrechtlichen Garantien aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Konkret berief sie sich auf:
- Art. 6 Abs. 1 EMRK – Recht auf ein faires Verfahren (verletzte Überprüfungsrechte, da die Schweizer Gerichte ihren Fall nur unzureichend geprüft hätten),
- Art. 13 EMRK – Recht auf wirksame Beschwerde (kein effektiver Rechtsbehelf gegen den CAS-Entscheid),
- Art. 8 EMRK – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und berufliche Tätigkeit durch die DSD-Regelung), sowie
- Art. 14 EMRK – Diskriminierungsverbot (Benachteiligung aufgrund des Geschlechts bzw. ihrer geschlechtlichen Merkmale, in Verbindung mit Art. 8).
Zunächst befasste sich eine aus sieben Richtern bestehende Kammer des EGMR mit dem Fall. Diese 3. Sektion des EGMR gab Semenya im Juli 2023 in weiten Teilen Recht: Sie stellte Verstöße gegen Art. 14 (in Verbindung mit Art. 8) sowie Art. 13 EMRK fest. Insbesondere bewertete das Gericht die DSD-Regeln als diskriminierend und betonte, dass für derart gravierende Ungleichbehandlungen „sehr gewichtige Gründe“ erforderlich seien. Semenyas gesamte Karriere habe auf dem Spiel gestanden, daher hätte ihr Anliegen sorgfältiger geprüft werden müssen. Einen separaten Verstoß gegen Art. 6 erkannte die Kammer damals nicht, da sie die Frage eines fairen Verfahrens im Lichte der festgestellten anderen Konventionsverletzungen als miterledigt ansah. Gegen dieses Urteil beantragte die Schweiz eine Verweisung an die Große Kammer des EGMR nach Art. 43 EMRK, da das Kammerurteil knapp (4:3 Stimmen) ausgefallen war und grundlegende Fragen aufwarf.
Große Kammer 2025: Sachfragen bleiben offen
Die Große Kammer des EGMR mit 17 Richtern fällte am 10.07.2025 ihr endgültiges Urteil (Beschwerde-Nr. 10934/21). Dabei erzielte Caster Semenya nur einen Teil-Erfolg. Die wichtigsten Streitpunkte um die Testosteron-Regel selbst blieben unentschieden – der EGMR umging die inhaltlich heikle Frage, ob die DSD-Regeln von World Athletics menschenrechtswidrig sind, durch einen Unzulässigkeitsbeschluss. Mit deutlicher Mehrheit (13 zu 4 Stimmen) entschied die Große Kammer, dass insoweit kein hinreichender territorialer Bezug zur Schweiz besteht. Die umstrittene Regel ist ein von einem privaten internationalen Sportverband erlassenes Reglement; deren Überprüfung falle nicht in die Verantwortung des Schweizer Staates. Folglich wurden Semenyas Beschwerden wegen Diskriminierung (Art. 14), Verletzung der Privatsphäre (Art. 8) und des Rechtsbehelfs (Art. 13) als unzulässig verworfen.
Durch diese enge Jurisdiktionsauslegung vermied es die Große Kammer, sich mit den wissenschaftlich, ethisch und rechtlich hoch umstrittenen Fragen rund um die Teilnahmeberechtigung von intersexuellen bzw. DSD-Athletinnen auseinanderzusetzen. Ein internationales Menschenrechtsgericht blieb somit eine Antwort auf die Grundsatzfrage schuldig, inwieweit Geschlechtskategorien im Sport durch Testosteronlimits oder ähnliche Regeln begrenzt werden dürfen. Viele hatten auf wegweisende Orientierung für Sportverbände gehofft, doch diese bleibt vorerst aus.
Strenger Prüfmaßstab und Fair-Trial-Verstoß
Obwohl die Große Kammer die Diskriminierungsfrage ausklammerte, konnte Semenya zumindest einen Verstoß gegen ihr Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) vor Gericht nachweisen. Das Urteil bestätigte, dass Semenya in der Schweiz kein faires Verfahren erhalten hatte. Konkret rügte der EGMR, dass das Schweizer Bundesgericht als letzte Instanz Semenyas Fall nicht gründlich genug geprüft habe. In Situationen wie ihrer – einem Zwangsschiedsverfahren im Sport unter Ausschöpfung des nationalen Instanzenzugs – sei ein besonders strenger Maßstab an die gerichtliche Kontrolle anzulegen. Diese erhöhten Anforderungen resultieren aus dem erheblichen Kräfteungleichgewicht im organisierten Sport: Athletinnen und Athleten sind den von mächtigen Verbänden einseitig vorgegebenen Regeln und dem verpflichtenden Schiedsgerichtsverfahren (CAS) unterworfen. Die Sportverbände verfügen über eine umfassende strukturelle Kontrolle über den Wettkampfbetrieb und die Sportgerichtsbarkeit, was die Bedeutung gerichtlichen Rechtsschutzes für die Betroffenen erhöht. Daher, so die Straßburger Richter, müssten staatliche Gerichte Entscheidungen des CAS einer besonders rigorosen Prüfung unterziehen – insbesondere wenn Persönlichkeitsrechte wie die körperliche Unversehrtheit und die Berufsausübung der Athletin auf dem Spiel stehen.
Das Schweizerische Bundesgericht in Lausanne wurde vom EGMR für seine beschränkte Prüfung im Fall Semenya kritisiert. Das Bundesgericht habe es versäumt, im konkreten Fall ausreichend auf die DSD-Regelungen selbst und deren Auswirkungen einzugehen. Insbesondere war Semenyas zentrales Vorbringen, dass die geforderte Hormonbehandlung schwere persönliche Belastungen mit sich bringt, von der Schweizer Justiz nicht substanziell gewürdigt worden. Stattdessen beschränkte sich das Bundesgericht darauf, den CAS-Schiedsspruch abstrakt an der schweizerischen ordre public-Klausel zu messen. Es vermeidete explizit eine inhaltliche Bewertung der Testosteronregel und behielt sich lediglich vor, diese in zukünftigen, „anders gelagerten Fällen“ näher zu prüfen. Der EGMR hielt dieses Vorgehen für unzureichend: Angesichts der Bedeutung der Sache wäre zu erwarten gewesen, dass das Gericht die strittigen DSD-Regeln selbst kritisch beleuchtet. Bemerkenswert ist, dass sogar das CAS-Schiedsgericht in seinem Urteil von 2019 Bedenken hinsichtlich einzelner Aspekte der Regel erkennen ließ. So wurde etwa die willkürlich anmutende Ausdehnung der Testosteron-Limits auf die 1500-Meter und 1-Meile-Laufdistanzen erwähnt, ebenso das Problem, dass betroffene Athletinnen durch die Anwendung der Regel faktisch geoutet werden. Das Schweizer Bundesgericht ging auf keine dieser Punkte ein. Nach Ansicht der Straßburger Richter hat die Schweiz damit ihre Pflicht verletzt, Semenyas Recht auf gerichtliches Gehör und eine sorgfältige Prüfung zu gewährleisten.
Bedeutung und Ausblick
Wegen der festgestellten Konventionsverletzung sprach der EGMR Caster Semenya eine Entschädigung für Kosten und Auslagen in Höhe von 80.000 € zu. Weitere Schadensersatzansprüche hatte sie nicht geltend gemacht. Die umstrittene Testosteronregel selbst bleibt jedoch bestehen – an der Rechtmäßigkeit dieser Vorgaben hat das Urteil nichts geändert. Für Semenya persönlich kommt der Sieg spät und hat eher symbolischen Charakter: Die mittlerweile 34-jährige Läuferin hat ihre aktive Karriere bereits beendet. Gleichwohl setzt das Straßburger Urteil wichtige rechtliche Akzente. Es ermutigt Athletinnen und Athleten, künftig eine strengere gerichtliche Kontrolle von CAS-Schiedssprüchen einzufordern. Experten erwarten, dass insbesondere vor dem Schweizer Bundesgericht verstärkt menschenrechtliche Argumente vorgebracht werden und dieses seine bisher sehr zurückhaltende Praxis überdenken muss. Stefan Netzle, Sportjurist und langjähriges CAS-Mitglied, prognostiziert Auswirkungen auf die Überprüfung von TAS-Entscheidungen: Das Bundesgericht werde sich künftige auch mit Beschwerden unter EMRK-Aspekten inhaltlich auseinandersetzen müssen. Allerdings rechnet Netzle nicht mit fundamentalen Änderungen, sondern eher graduellen Anpassungen der Rechtsprechung.
Beachtlich ist außerdem, dass der EGMR die Regelungsbefugnis privater Sportverbände quasi mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verglichen hat. Damit stellt das Gericht klar, dass auch transnationale Sportschiedsgerichtsbarkeit keinen rechtsfreien Raum darstellt, sondern an den Maßstäben der Menschenrechte zu messen ist. Das Urteil der Großen Kammer baut insoweit auf früheren Entscheidungen wie Pechstein/Mutu ./. Schweiz (EGMR, 2018) auf und führt die dort begründete Linie fort. Sportler, die sich obligatorischen Schiedsverfahren unterwerfen müssen, dürfen mit Blick auf Art. 6 EMRK nicht schlechter gestellt werden als Parteien staatlicher Gerichtsverfahren.
Offen bleibt nach dem Semenya-Urteil jedoch die Grundsatzfrage der Geschlechtergerechtigkeit im Sport. Mangels Entscheidung zur Sache fehlt weiterhin eine höchstrichterliche Orientierung, wie weit Sportverbände bei Geschlechtskategorisierungen und Eligibility-Regeln gehen dürfen. Diese Lücke dürfte noch lange für Diskussionen sorgen – zumal sich der Regelungsrahmen dynamisch verändert. So hat World Athletics angekündigt, die bisherige “Testosteronregel” auslaufen zu lassen. Künftig soll die Einteilung in Männer- und Frauenwettbewerbe wieder strikt nach dem biologischen Geschlecht erfolgen, ohne dass Athletinnen wie Semenya zu hormonellen Eingriffen gezwungen werden. Damit verliert Semenyas jahrelanger Rechtsstreit zwar in praktischer Hinsicht an Aktualität, bleibt aber als Präzedenzfall für die Durchsetzung von Menschenrechten im Sport bedeutsam. Die Entscheidung des EGMR sendet ein klares Signal, dass Fairness nicht nur auf der Laufbahn, sondern auch vor Gericht gelten muss.