Erfolglose Verfassungsbeschwerde betreffend die Verzinsung zu Unrecht entrichteter Kernbrennstoffsteue

29. Juli 2022 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 30. Juni 2022 hat mit Aktenzeichen 2 BvR 737/20 eine Verfassungsbeschwerde mangels Grundrechtsverletzung zurückgewiesen, die die Frage betrifft, ob es infolge der Nichtigerklärung des Kernbrennstoffsteuergesetzes durch das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich geboten ist, einen von der Beschwerdeführerin im Jahr 2016 entrichteten und im Anschluss an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2017 an sie zurückerstatteten Steuerbetrag in Höhe von 54.725.320 Euro ab dem Zeitpunkt der Steuerzahlung zu verzinsen.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 65/2022 vom 29. Juli 2022 ergibt sich:

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin betreibt ein Kernkraftwerk. Sie gab entsprechend den Vorgaben des Kernbrennstoffsteuergesetzes eine Steuererklärung ab, in der sie die Steuer mit 54.725.320 Euro berechnete. Das Hauptzollamt Osnabrück erklärte die Festsetzung der Kernbrennstoffsteuer hinsichtlich der Vereinbarkeit des Kernbrennstoffsteuergesetzes mit dem Grundgesetz für vorläufig, weil die Frage der Vereinbarkeit des Kernbrennstoffsteuergesetzes mit dem Grundgesetz zu diesem Zeitpunkt schon Gegenstand eines vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Normenkontrollverfahrens war. Am 25. Juli 2016 beglich die Beschwerdeführerin ihre Steuerschuld. Sodann legte sie Einspruch gegen die Festsetzung von Kernbrennstoffsteuer ein. Der Einspruch wurde zunächst nicht beschieden. Eine Klage vor dem Finanzgericht erhob die Beschwerdeführerin deswegen jedoch nicht.

Im Rahmen eines Verfahrens der konkreten Normenkontrolle erklärte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 13. April 2017 das Kernbrennstoffsteuergesetz für mit dem Grundgesetz insgesamt unvereinbar und nichtig. Daraufhin hob das Hauptzollamt seinen Bescheid auf und half dadurch dem Einspruch der Beschwerdeführerin ab. Die aufgrund der Steueranmeldung entrichteten 54.725.320 Euro zahlte es zurück.

Die Beschwerdeführerin beantragte eine Verzinsung dieses Betrages. Sie verlangte je 0,5 % Zinsen für zehn volle Monate zwischen dem Zeitpunkt der Entrichtung der Steuer am 25. Juli 2016 und dem Eingang der Erstattung am 19. Juni 2017, mithin 2.736.265 Euro. Der Gesetzgeber hat in der Abgabenordnung einen solchen Zinsanspruch allerdings nicht vorgesehen. Das Hauptzollamt Osnabrück lehnte daher die beantragte Festsetzung von Zinsen ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos. Das Finanzgericht Hamburg wies die gegen die Ablehnung der Verzinsung erhobene Klage ab und ließ die Revision nicht zu. Die von der Beschwerdeführerin eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde wies der Bundesfinanzhof als unbegründet zurück.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 14 Abs. 1 GG sowie aus Art. 3 Abs. 1 GG, jeweils in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG. Allein durch Rückzahlung der Steuer sei die durch Erhebung der verfassungswidrigen Kernbrennstoffsteuer erfolgte Grundrechtsverletzung nicht behoben worden. Vielmehr sei zur vollständigen Kompensation des Eingriffs eine Verzinsung verfassungsrechtlich geboten.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die angegriffenen fachbehördlichen und -gerichtlichen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin durch Versagung des im Ausgangsverfahren begehrten Zinsanspruchs nicht in ihren Grundrechten.

Der Zinsanspruch folgt nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz.

Die Erhebung der Kernbrennstoffsteuer aufgrund eines kompetenzwidrig erlassenen Gesetzes hat die Beschwerdeführerin zwar in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG verletzt. Zur Handlungsfreiheit gehört insbesondere das Recht der Betroffenen, nur aufgrund solcher Rechtsvorschriften zu Steuern herangezogen zu werden, die formell und materiell mit der Verfassung vereinbar sind und deshalb zur verfassungsmäßigen Ordnung gehören.

Der im Gefolge dieser Grundrechtsverletzung entstandene Anspruch der Beschwerdeführerin auf Erstattung der entrichteten Steuer ist erfüllt. Grundrechtsverstöße, wie sie durch das kompetenzwidrige Kernbrennstoffsteuergesetz hervorgerufen wurden, können aber darüber hinaus verfassungsrechtlich radizierte Kompensationsansprüche begründen. Die Grundrechte gewährleisten das grundsätzliche Bestehen angemessener Sekundäransprüche nach Grundrechtsverletzungen. Die Haftung für staatliches Unrecht ist insofern nicht nur eine Ausprägung des Legalitätsprinzips, sondern auch Ausfluss der jeweils betroffenen Grundrechte, die insoweit den zentralen Bezugspunkt für die Einstandspflichten des Staates bilden. Die Grundrechte schützen nicht nur vor nicht gerechtfertigten Eingriffen des Staates in Freiheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger und sind insoweit Grundlage für Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche, die die Effektivität des Grundrechtsschutzes sicherstellen. Soweit dies nicht möglich ist, ergeben sich aus ihnen grundsätzlich auch Kompensationsansprüche, sei es als Schadensersatz-, sei es als Entschädigungs- und Ausgleichsansprüche.

Aus dieser grundsätzlichen Gewährleistung von Kompensationsansprüchen folgt jedoch kein spezifischer verfassungsunmittelbarer Sekundäranspruch, wie er als Zinsanspruch im Ausgangsverfahren geltend gemacht wurde. Art und Umfang grundrechtlicher Sekundäransprüche bedürfen vielmehr der Ausgestaltung und Konkretisierung durch den Gesetzgeber.

Die verfassungsrechtliche Garantie grundrechtlicher Sekundäransprüche dem Grunde nach statuiert keine Pflicht des Gesetzgebers, sämtliche Folgen verfassungswidriger Eingriffe rückwirkend zu beseitigen. Bei der Ausgestaltung spezifischer Sekundäransprüche kommt dem Gesetzgeber ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu, der Typisierungen und Pauschalisierungen nicht nur zulässt, sondern erfordert, um die Sekundäransprüche operationalisierbar zu machen. Dem Gesetzgeber obliegt damit auch die Entscheidung, ob und inwiefern gerade Zinsansprüche ein Bestandteil des grundgesetzlich gewährleisteten Kompensationsregimes sein sollen, das die Folgen einer verfassungswidrig erhobenen Steuer angemessen ausgleichen soll. Falls Zinsansprüche vorgesehen werden, kann er bei der Auswahl des Zinsgegenstands und der Bemessung des Zinssatzes typisierende Regelungen treffen und sich dabei in erheblichem Umfang von Praktikabilitätserwägungen mit dem Ziel der Einfachheit der Zinsfestsetzung und -erhebung leiten lassen.

Aus Art. 19 Abs. 4 GG ergeben sich keine verfassungsunmittelbaren Ersatzansprüche. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet selbst weder den sachlichen Bestand noch den Inhalt materiell geschützter Rechtspositionen, sondern setzt diese vielmehr voraus.

Die Verneinung einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur umfassenden Kompensation sämtlicher – auch nur mittelbar mit einer Grundrechtsverletzung zusammenhängender – Vermögensnachteile steht mit den Wertungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Einklang, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten heranzuziehen sind. Bereits aus dem Wortlaut von Art. 41 EMRK ergibt sich, dass auch bei einer festgestellten Verletzung der Konvention und ihrer Protokolle eine Entschädigung nicht in jedem Fall, sondern nur dann zuzusprechen ist, wenn dies notwendig ist.

Die gesetzgeberische Entscheidung, den geltend gemachten Zinsanspruch in der Abgabenordnung nicht vorzusehen, ist nicht verfassungswidrig.

Sieht der Gesetzgeber nach verfassungswidriger Erhebung von Steuern Rückerstattungsansprüche in Höhe der gezahlten Nominalbeträge vor, verlangen die Grundsätze des grundrechtlichen Kompensationsanspruchs im Regelfall keine über die Rückzahlung des geleisteten Steuerbetrags hinausgehende Kompensation. Dies gilt jedenfalls bei niedrigen Marktzinsen und niedriger Inflation für Erstattungen, die regelmäßig binnen weniger Jahre – und nicht erst nach Jahrzehnten – erfolgen. Nach Erstattung der gezahlten Steuer verbleibt in einem solchen Fall grundsätzlich keine verfassungsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung von Grundrechten, die zu kompensieren wäre. Hier wurde die zu Unrecht gezahlte Kernbrennstoffsteuer der Beschwerdeführerin binnen eines angemessen kurzen Zeitraums von nur zehn Monaten erstattet. In dem streitgegenständlichen Zeitraum war das Zinsumfeld von Niedrigzinsen geprägt. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers hat sich daher nicht zu einer Verpflichtung verdichtet, die Steuererstattungsansprüche zu verzinsen.

Die fehlende Anordnung einer generellen Verzinsung der Kernbrennstoffsteuererstattung verstößt auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG.

Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet es dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Er verlangt aber nicht vom Gesetzgeber, Steuererstattungen infolge der Nichtigerklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes – wie die Kernbrennstoffsteuererstattung – und Steuererstattungen nach der „bloßen“ Unvereinbarkeitserklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes dahingehend ungleich zu behandeln, dass in Fällen der Nichtigerklärung allen Betroffenen, soweit die Bestands- oder Rechtskraft nicht entgegensteht, eine Verzinsung der gezahlten Beträge unabhängig von der Rechtshängigkeit zu gewähren wäre. Die Nichtigerklärung knüpft nicht an einen besonders schwerwiegenden und offensichtlichen Rechtsverstoß an, und umgekehrt kennzeichnet eine Unvereinbarkeitserklärung keinen „Verfassungsverstoß minderer Art“. Eine Ungleichbehandlung beider Fälle ist daher verfassungsrechtlich nicht geboten.

Art. 3 Abs. 1 GG verlangt vom Gesetzgeber auch nicht, Steuererstattungsgläubigern, die – wie die Beschwerdeführerin – ohne Prozessrisiko in den Genuss einer Erstattung nach § 37 Abs. 2 AO kommen, Prozesszinsen zuzugestehen. Der Gesetzgeber hat die vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 AO geschaffen, damit einerseits Steuerpflichtige von sie begünstigenden gesetzlichen Neuregelungen oder einer (verfassungs-)gerichtlichen Entscheidung profitieren können, andererseits jedoch eine Überlastung von Verwaltung und Justiz vermieden wird. Bei einer Vorläufigkeitserklärung sind Steuerpflichtige nicht gezwungen, durch Rechtsbehelfe ihre Fälle offen zu halten, damit ihnen die Begünstigungen einer gesetzlichen Neuregelung beziehungsweise einer gerichtlichen Entscheidung zuteilwerden. Dass in Konsequenz dieser Regelung mangels Rechtsbehelfs auch keine Prozesszinsen zugunsten des Erstattungsgläubigers anfallen, ist von der Ausgestaltungs- und Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers gedeckt.

Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Vorschriften durch die angegriffenen Entscheidungen verstoßen ebenfalls nicht gegen das Grundgesetz. Es entspricht dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Bindung des Richters an Gesetz und Recht, die gesetzgeberischen Konkretisierungs- und Ausgestaltungsentscheidungen zu beachten, statt sie durch eigene Gerechtigkeitsvorstellungen der Fachgerichte zu ersetzen.