Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines Sicherungsverwahrten gegen die mehrtägige Fesselung während eines Krankenhausaufenthalts

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 19. Januar 2023 zum Aktenzeichen 2 BvR 1719/21 entschieden, dass die sich über 96 Stunden erstreckende Fesselung während eines Krankenhausaufenthalts den sicherungsverwahrten Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 26/2023 vom 1. März 2023 ergibt sich:

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer leidet unter verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die bereits in der Vergangenheit Behandlungen in Krankenhäusern außerhalb des Vollzugs erforderlich machten. Vom 13. bis zum 16. Oktober 2020 befand er sich in stationärer Behandlung in einem Universitätsklinikum. Vor und nach dem Transport in die Klinik wurde er auf Grundlage einer Hausverfügung der Justizvollzugsanstalt vollständig entkleidet am gesamten Körper durchsucht, während er sich um die eigene Achse drehen musste. Die Fahrten zwischen Justizvollzugsanstalt und Krankenhaus erfolgten mit armverschränkender Handfesselung in einem vollvergitterten Transporter, der in Boxen unterteilt war, in Begleitung zweier bewaffneter Bediensteter. Bei der Voruntersuchung war der Beschwerdeführer durchgängig mit überkreuzten Händen gefesselt. Am Morgen des 14. Oktober 2020 wurde er in Begleitung eines Bediensteten ohne Handfesselung, aber gefesselt am Fuß im Bett in den OP-Vorraum verbracht, wo ihm die Fußfessel abgenommen und durch eine über Kreuz angelegte Fesselung an den Händen ersetzt wurde. Während der Vollnarkose wurde die Fesselung der Hände entfernt und nach dem Aufwachen erneut eine Handfessel angelegt. Nach zwei Stunden im Aufwachraum wurde die Handfessel durch eine am Bettrahmen befestigte Fußfessel ausgetauscht, die während der Nachsorge für weitere drei Tage angelegt blieb. Bei täglichen, durch zwei bewaffnete Bedienstete begleiteten Spaziergängen wurde der Beschwerdeführer an den Händen statt an den Füßen gefesselt.

Der Beschwerdeführer stellte einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und Eilrechtsschutz hinsichtlich der Umstände seiner Ausführung ins Krankenhaus. Er sei insgesamt mehr als 96 Stunden ununterbrochen gefesselt gewesen, was Bewegungsfreiheit und Schlaf beeinträchtigt habe. Mit der am Bettrahmen befestigten Fußfessel sei ein Drehen oder Anwinkeln der Beine nicht möglich gewesen. Die Fesselung habe ihm Schmerzen bereitet. Bei den täglichen Spaziergängen außerhalb der Klinik sei er auf unangenehme Weise an den Händen gefesselt gewesen und gleichzeitig durch zwei Vollzugsbedienstete bewacht worden.

Die Justizvollzugsanstalt bezog hierzu Stellung. Die Fesselungsanordnung sei rechtmäßig gewesen. Für den Beschwerdeführer bestehe ein Fluchtanreiz schon wegen des noch unbekannten Vollzugsendes der Sicherungsverwahrung. Bei einem Transport ins Krankenhaus sei die Situation unübersichtlich. Über eine ungefesselte Ausführung werde nur entschieden, wenn der Untergebrachte zunächst einige Ausführungen gefesselt beanstandungsfrei absolviert habe, was auf den Beschwerdeführer nicht zutreffe.

Mit angegriffenem Beschluss vom 27. Mai 2021 wies das Landgericht die Anträge des Beschwerdeführers zurück. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt, dass eine Fesselung erforderlich gewesen sei, sei nicht zu beanstanden. Dem Beschwerdeführer als Untergebrachtem in der Sicherungsverwahrung mit noch unbestimmter Vollzugsdauer könne eine gewisse Fluchtmotivation zugesprochen werden. Die Justizvollzugsanstalt habe noch keine ausreichenden Erfahrungswerte darüber, wie sich der Beschwerdeführer bei Transporten verhalte. Die Situation im Krankenhaus sei hinsichtlich Räumlichkeiten und Publikumsverkehr unvorhersehbar. Die Justizvollzugsanstalt habe „die Grenzen des [ihr] zustehenden Beurteilungsspielraumes nicht überschritten und insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit eingehalten“. Dabei sei zu berücksichtigen, dass je nach Situation eine unterschiedliche Fesselung vorgelegen habe und jeweils die mildeste Art der Fesselung gewählt worden sei. Die Fesselung auf den Fahrten über Kreuz an den Händen sei nach Auskunft des Anstaltsarztes auch angesichts der Erkrankungen des Beschwerdeführers medizinisch unbedenklich. Auch die körperliche Durchsuchung sei nicht zu beanstanden gewesen.

Die gegen den Beschluss des Landgerichts erhobene Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht mit angegriffenem Beschluss vom 23. August 2021 als unzulässig. Das Landgericht habe zutreffend ausgeführt, dass die Justizvollzugsanstalt eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Fesselung und Durchsuchung getroffen habe.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, die mehrtägige Fesselung verletze ihn in seinen Grundrechten. Die körperliche Durchsuchung mit vollständiger Entkleidung hat er nicht zum Gegenstand seiner Verfassungsbeschwerde gemacht.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts sind grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte, unterliegen aber der verfassungsgerichtlichen Prüfung daraufhin, ob sie die Grenze zur Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen.

Bei einer Fesselungsanordnung handelt es sich um einen gewichtigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Gefangenen. Bei der Bestimmung des Gewichts des Eingriffs im konkreten Einzelfall spielen neben der mit einer sichtbaren Fesselung einhergehenden stigmatisierenden Wirkung und der Dauer und konkreten Durchführungsart der Fesselung auch etwaige gesundheitliche Beeinträchtigungen des Gefangenen, sein Alter sowie der Umstand eine Rolle, ob er durch sein Verhalten Veranlassung zu der Fesselung gegeben hat.

Diese Wertungen liegen auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zugrunde, der Fesselungen regelmäßig an Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) misst. Seine Rechtsprechung ist bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen.

Der EGMR bezieht bei der Beurteilung der Frage, ob eine Fesselung gegen Art. 3 EMRK verstößt, die individuelle Vorgeschichte und den Gesundheitszustand des betroffenen Gefangenen, etwaiges gefährliches Vorverhalten in Haft, ergänzend angewandte Sicherungsmaßnahmen sowie die Dauer und öffentliche Wahrnehmbarkeit der Fesselung ein. Die mit der Fesselung verbundene Zwangsanwendung und deren Dauer sind auf das unausweichliche Maß zu beschränken. Maßgeblich zu berücksichtigen ist, ob die Fesselung angeordnet wurde, obwohl der Gefangene durch sein Verhalten während der Haft in der Vergangenheit keinen Grund zu Beanstandungen gegeben hat. Das Wohlergehen der gefesselten Person ist regelmäßig zu überprüfen und der Einsatz der Fesseln ist von der anordnenden Instanz vollständig zu dokumentieren.

Vor diesem Hintergrund begegnet eine vollzugsbehördliche Praxis, die ohne Prüfung der individuellen Flucht- beziehungsweise Missbrauchsgefahr durch Justizbedienstete beaufsichtigte Ausführungen nur erlaubt, wenn der Gefangene gefesselt ist, mit Blick auf die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und das Erfordernis einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung verfassungsrechtlichen Bedenken.

Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts nicht gerecht.

Das Landgericht hat bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ermessensentscheidung der Justizvollzugsanstalt Bedeutung und Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht hinreichend beachtet, indem es die über vier Tage andauernde Fesselung des gesundheitlich beeinträchtigten Beschwerdeführers als verhältnismäßig angesehen hat.

Das Landgericht geht nicht auf die Dauer der Fesselungsanordnung ein. Es ist daher nicht ersichtlich, ob es sich des Umstands gewahr war, dass besondere Sicherungsmaßnahmen, die über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten bleiben, verschärften Prüfungsanforderungen begegnen. Die sich über 96 Stunden erstreckende Dauer der Fesselungsmaßnahme überschreitet jedenfalls in der vorliegenden Konstellation das verfassungsrechtlich zulässige Maß.

Das Landgericht hat ausgeführt, der Beschwerdeführer sei je nach Situation unterschiedlich und jeweils auf möglichst schonende Weise gefesselt gewesen. Es hat sich aber nicht hinreichend mit der Frage auseinandergesetzt, ob alle anderen Maßnahmen, welche die Fesselungsanordnung nach Art und Dauer hätten beschränken können, ausgeschöpft wurden. Ein Gefangener kann zwar nicht verlangen, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Beschränkungen seiner grundrechtlichen Freiheiten zu vermeiden. Hier hätte es angesichts der mehrtägigen Verweildauer im Krankenhaus allerdings nahegelegen, die Fesselungsanordnung jedenfalls phasenweise auszusetzen und – eine Gefahr des Entweichens unterstellt – in diesen Zeiträumen gegebenenfalls die Zahl der beaufsichtigenden Vollzugsbeamten zu erhöhen.

Nur unzureichend berücksichtigt hat das Landgericht ferner die individuelle Situation des Beschwerdeführers, sowohl mit Blick auf seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen als auch auf die Wahrscheinlichkeit seiner Entweichung. Wenn das Gericht ausführt, die Fesselung über Kreuz an den Händen sei „sicherlich nicht angenehm“, aber „medizinisch unbedenklich“ gewesen, geht es zwar auf die gesundheitlichen Einschränkungen des Beschwerdeführers ein, scheint aber das – von ihm offenbar angenommene – Fehlen eines zusätzlichen Eingriffs in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG als Argument für die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht heranziehen zu wollen. Damit verkennt es das erhebliche Gewicht des letztgenannten Eingriffs, den der Beschwerdeführer als von seinem Verhalten in Haft unabhängig und daher als von ihm nicht zu beeinflussen erlebt.

Dass eine angesichts der gesundheitlichen Belastungen des Beschwerdeführers gebotene besondere Rücksichtnahme und eine periodische Überprüfung seines Zustands erfolgt wäre, ist nicht ersichtlich. Zudem hätten sein zuvor beanstandungsfreies Vollzugsverhalten und die ihm attestierten Erkrankungen, die ausweislich der Auskunft des Anstaltsarztes ein Entweichen jedenfalls erschwerten, im Rahmen der Ermessensausübung in gewichtigem Maße berücksichtigt werden müssen. Die Argumentation des Landgerichts, angesichts der unübersichtlichen Situation im Straßenverkehr und im Krankenhaus sei die Mehrstufigkeit sich ergänzender Sicherungsmaßnahmen – Fesselung und Beaufsichtigung – nicht zu beanstanden, lässt außerdem die als einfachrechtliche Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu verstehende Konzeption in § 69 Abs. 9 des Strafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen (StVollzG NRW) außer Acht. Danach kommt eine Fesselung bei Ausführung, Vorführung und Transport gerade nur dann in Betracht, wenn die Beaufsichtigung allein nicht ausreicht.

Das Landgericht ist überdies nicht auf das Unterbleiben der in Übereinstimmung mit den konventionsrechtlichen Vorgaben in § 70 Abs. 4 Satz 4 StVollzG NRW vorgesehenen Dokumentation der Maßnahme durch die Vollzugsbehörde eingegangen, der insbesondere in einem nachgelagerten gerichtlichen Verfahren eine beweissichernde Funktion zukommen kann. Dem verfahrensrechtlichen Gehalt der betroffenen Grundrechte wird insoweit nur unzureichend Rechnung getragen.

Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer ebenfalls in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Indem das Oberlandesgericht ausführt, dass das Landgericht zutreffend dargelegt habe, die Justizvollzugsanstalt habe das ihr zustehende Ermessen bei der Entscheidung über die Fesselung des Beschwerdeführers rechtlich beanstandungsfrei ausgeübt, hat es sich die landgerichtliche Entscheidung mit den verfassungsrechtlich zu beanstandenden Erwägungen zu eigen gemacht. Darin liegt eine eigenständige Verkennung der Bedeutung und Tragweite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.

Die angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.