Erwerbsminderungsrente: Verweisung auf einfache Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt

12. Dezember 2019 -

Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 11.12.2019 zum Aktenzeichen B 13 R 7/18 R, das beim Antrag auf Erwerbsminderungsrente genau geprüft werden muss, ob der Antragsteller noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in der Lage ist eine einfache Tätigkeit auszuüben; dabei ist nunmehr grundlegend vom Bundessozialgericht ausgeführt, dass zu prüfen ist, ob solche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Zeitalter der Digitalisierung überhaupt noch existieren.

Aus dem Terminsbericht des Bundessozialgerichts Nr. 58/19 vom 12.12.2019 ergibt sich:

Im Streit steht die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Senat beabsichtigt die am 16.05.2019 vertagte mündliche Verhandlung fortzusetzen, nachdem die Beteiligten Gelegenheit hatten, sich schriftlich zu äußern zu den vom Senat in den Rechtsstreit eingeführten arbeitsmarktpolitischen und sozial- sowie wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlungen betreffend das Vorhandensein von Arbeitsplätzen für „Einfacharbeit“ auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Den vom 1964 geborenen Kläger gestellten Rentenantrag lehnte der beklagte RV-Träger ab.
Das Sozialgericht hat die hiergegen gerichtete Klage nach Einholung medizinischer Sachverständigengutachten durch Gerichtsbescheid abgewiesen. Das Landessozialgericht hat in dem vom Kläger angestrengten Berufungsverfahren weitere medizinische Sachverständigengutachten sowie ein berufskundliches Gutachten eingeholt. Letzteres sieht die Verweisbarkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als beschränkt an auf Tätigkeiten eines Pförtners an der Nebenpforte sowie eines Mitarbeiters in der Sichtkontrolle von Kleinteilen. Die schriftliche Befragung eines medizinischen Sachverständigen hierzu hat ergeben, dass die zuletzt benannte Tätigkeit nicht mehr mit dem Leistungsvermögen des Klägers vereinbar sei. Das Gericht hat zudem berufskundliche Unterlagen aus anderen Verfahren in den Rechtsstreit eingeführt, zu Charakteristika und insbesondere Veränderungen des Arbeitsmarktes sowie zum Berufsbild des „Pförtners an der Nebenpforte“. Auf dieser Grundlage hat das Landessozialgericht den beklagten RV-Träger verurteilt, dem Kläger eine EM-Rente von Oktober 2014 bis Dezember 2019 zu gewähren. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, nach den medizinischen Sachverständigengutachten verfüge der Kläger zwar noch über ein quantitatives Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich für leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Gleichwohl sei der Kläger in rentenberechtigendem Umfang erwerbsgemindert, denn es liege eine Summierung von qualitativen Leistungseinschränkungen vor.

Die nach der Rechtsprechung des BSG (Beschl. v. 19.12.1996 – GS 2/95 – BSGE 80, 24 – SozR 3-2600 § 44 Nr. 8) zunächst vorzunehmende Prüfung, ob ein Versicherter noch bestimmten Verrichtungen (Zureichen, Abnehmen, Transportieren etc.) nachgehen könne sei überholt. Der Arbeitsmarkt habe sich seit der Entscheidung des Großen Senats erheblich verändert. Es gebe immer weniger Tätigkeiten für leistungseingeschränkte Versicherte, die der Definition der leichten Arbeit entsprächen und nur eine geringe Qualifikation (einfache Arbeit) erforderten. Ausreichend sei zudem, dass eine Summierung von – nur gewöhnlichen – Leistungseinschränkungen vorliege. Wenn jemand so viele „gewöhnliche“ Einschränkungen habe, dass alle auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen Tätigkeiten nicht mehr verrichtet werden könnten, liege das gleiche Ergebnis vor, wie bei einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder mehreren ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen.
Mit der – vom Landessozialgericht zugelassenen Revision – rügt der RV-Träger die Verletzung des § 43 Abs. 2 Nr. 1 und § 43 Abs. 3 SGB VI sowie einen Verfahrensfehler.

Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung im Mai 2019 ausgeführt, er beabsichtige, Erkenntnisse aus benannten Unterlagen seiner Entscheidung zu Grunde zu legen. Er folgere aus ihnen, dass in ihrem Leistungsvermögen qualitativ beeinträchtigte Versicherte, die nur noch körperlich leichte Arbeiten mindestens sechs Stunden täglich verrichten können, zur Zeit weiterhin grundsätzlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar seien, ohne dass es einer konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe. Es mangele an fundierten Erkenntnissen, dass Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die körperlich leichte Verrichtungen zum Gegenstand haben, aufgrund aktueller Entwicklungen wie z.B. der Digitalisierung weggefallen seien. Mithin sei insoweit derzeit nicht generell von einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auszugehen.

Der Senat hat nach Eingang der Stellungnahmen der Beteiligten zu den in der Verhandlung vom 16.05.2019 eingeführten Unterlagen als weitere Erkenntnisgrundlagen die Grundauswertung der BIBB/BAUA-Erwerbstätigenbefragung 2018 und die Unterrichtung der Bundesregierung vom 04.12.2014 (BT-Drs. 18/3474 – PDF, 4,2 MB) zu nach dem Anforderungsniveau differenzierten Arbeitsanforderungen ins Verfahren eingeführt.

Die Revision des RV-Trägers ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht begründet.

Nach Auffassung des BSG wird das Landessozialgericht im wiedereröffneten Berufungsverfahren erneut darüber zu befinden haben, ob der Kläger einen Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung im streitigen Zeitraum hat. Dabei wird das Landessozialgericht den nachfolgenden rechtlichen Maßstab zu beachten sowie Beweis zu erheben haben, wie vom RV-Träger schriftsätzlich beantragt. Die von der Rechtsprechung entwickelten Katalogfälle der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes sind – anders als vom Landessozialgericht sinngemäß angenommen – nicht auf gering qualifizierte Versicherte zu erweitern, die zwar vollschichtig einsetzbar sind, aber nur noch leichte körperliche Tätigkeiten verrichten können. Der Senat hält an der Vermutung eines „offenen Arbeitsmarktes“ auch für diese Versicherten fest. Aus den vom Senat in das Verfahren eingeführten arbeitsmarkt-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen ergibt sich, dass Arbeitsplätze für sog. „Einfacharbeit“ oder Helfertätigkeiten weiterhin in großem Umfang auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorhanden sind. Die voranschreitende Digitalisierung hat (noch) nicht zu einem Wegfall solcher Tätigkeiten geführt. Unter Berücksichtigung der Auswertungen der BIBB/BAuAErwerbstätigenbefragung (vgl. BT-Drs. 18/3474 – PDF, 4,2 MB, S. 149ff; Lück/Hünefeld/Brenscheidt/Bödefeld/Hünefeld/BAuA, in BAuA <Hrsg>, Grundauswertung der BIBB/BAuA -Erwerbstätigenbefragung 2018) muss davon ausgegangen werden, dass sich darunter in nennenswertem Umfang auch körperlich leichte Erwerbstätigkeiten befinden, die für den eingangs benannten Personenkreis geeignet sind.

Ausnahmen von dem Regelfall der Vermutung des offenen Arbeitsmarktes sind gegeben, wenn eine Erwerbstätigkeit nicht unter den in den Betrieben üblichen Bedingungen ausgeübt werden kann oder die Wegefähigkeit relevant eingeschränkt ist. Der konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedarf es im Falle einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen. Ob ein solcher Fall gegeben ist, unterliegt der Überprüfung im Einzelfall und ist verbunden mit einem tatrichterlichen Wertungsspielraum. Die Wertung erfordert eine je nach Einzelfall unterschiedlich intensive Auseinandersetzung mit dem Leistungsvermögen der Versicherten und den Bedingungen des Arbeitsmarktes. Zweifel an der Einsetzbarkeit können ausgeräumt werden, wenn Versicherte im Rahmen leichter körperlicher Arbeit noch typische Verrichtungen wie z.B. das Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen oder das Bedienen von Maschinen ausführen können. Diese nicht abschließende Aufzählung kann im Hinblick auf eine zunehmende Automatisierung ggf um Verrichtungen wie das Messen, Prüfen, Überwachen und die (Qualitäts-)Kontrolle von Produktionsvorgängen ergänzt werden. Je weniger diese Verrichtungen einem/einer Versicherten aufgrund qualitativer Leistungseinschränkungen noch möglich erscheinen und je mehr der Arbeitsmarkt für ihn/sie dadurch versperrt sein kann, desto eingehender ist zu prüfen, ob der Ausnahmefall einer „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen“ vorliegt. Die Ungewöhnlichkeit beurteilt sich danach, wie stark die Möglichkeit eingeschränkt ist, erwerbstätig sein zu können.

Die Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen muss sich i.S.e. Ähnlichkeitsvergleichs genauso nachteilig auf die Einsetzbarkeit auf dem Arbeitsmarkt auswirken wie eine schwere spezifische Leistungsbehinderung. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen ist dann gegeben, wenn
a) (mindestens) zwei Leistungseinschränkungen vorliegen, die jeweils für sich genommen aufgrund ihrer Art oder Schwere schon eine erhebliche Einschränkung auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringen
oder
b) mehrere auf den ersten Blick „gewöhnliche“ Leistungseinschränkungen vorliegen, die sich aufgrund ihres Zusammentreffens insgesamt ebenso ungewöhnlich auswirken, weil eine besondere Addierungs- oder Verstärkungswirkung festgestellt werden kann.

Ein Summierungsfall ergibt sich nicht durch die schiere Anzahl der von den Gutachtern genannten „gewöhnlichen“ Einschränkungen; es ist eine Analyse erforderlich, ob und durch welche ihrer Auswirkungen das Feld der Einsatzmöglichkeiten – über körperlich leichte Arbeiten hinaus – ungewöhnlich beschränkt wird. Erst wenn eine derartige Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder ggf. eine schwere spezifische Leistungsbehinderung festgestellt ist, muss eine Verweisungstätigkeit konkret benannt werden. Ist diese für den Versicherten/die Versicherte nicht geeignet, ist eine volle Erwerbsminderung trotz vollschichtigem Leistungsvermögen gegeben.