EuGH-Generalanwalt hält Richterernennung in Polen teilweise für rechtswidrig

Generalanwalt Evgeni Tanchev ist im Verfahren C-487/19 und C-508/19 vor dem Europäischen Gerichtshof der Auffassung, dass zwei neu geschaffene Kammern des polnischen Obersten Gerichts möglicherweise nicht die Anforderungen des Unionsrechts erfüllen, wenn die darin tätigen Richter unter eklatantem Verstoß gegen das für die Ernennung von Richtern an diesem Gericht geltende nationale Recht auf diese Stellen ernannt wurden.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 61/2021 vom 15.04.2021 ergibt sich:

Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob dieser Verstoß offenkundig und vorsätzlich begangen wurde und wie schwerwiegend er ist.

Der Richter W.Ż. (Rechtssache C-487/19) war Mitglied und Sprecher der vorherigen Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) und hatte die von der Regierungspartei durchgeführten Justizreformen in Polen öffentlich kritisiert. Im Jahr 2018 wurde er von der Abteilung des Sąd Okręgowy (Bezirksgericht) in K. (Polen), in der er bis dahin tätig war, in eine andere Abteilung desselben Gerichts versetzt. Die Versetzung stellte faktisch eine Degradierung dar, da er von einer zweitinstanzlichen Abteilung in eine erstinstanzliche Abteilung des Gerichts versetzt wurde. W.Ż. legte gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf beim Landesjustizrat ein, der mit Entschließung vom 21. September 2018 das Verfahren über seinen Rechtsbehelf einstellte. Daraufhin legte W.Ż. gegen diese Entschließung einen Rechtsbehelf beim Obersten Gericht (Polen) ein.

Nach Einlegung dieses Rechtsbehelfs beantragte W.Ż. die Ablehnung sämtlicher Richter des Obersten Gerichts, die der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten angehörten, um sie von der Befassung mit seinem Rechtsbehelf auszuschließen. Er trug vor, dass sich diese Kammer in Anbetracht ihrer Verfassung und der Art und Weise der Wahl ihrer Mitglieder durch den verfassungsrechtswidrig besetzten Landesjustizrat – unabhängig von ihrer jeweiligen personellen Besetzung – nicht unparteiisch und unabhängig mit dem Rechtsbehelf befassen könne.

W.Ż. macht geltend, der Vorschlag für die Ernennung sämtlicher Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die vom Ablehnungsantrag umfasst seien, sei in der Entschließung Nr. 331/2018 des Landesjustizrats vom 28. August 2018 enthalten. Gegen diese Entschließung im Ganzen legten andere Teilnehmer des Ernennungsverfahrens, die der Landesjustizrat dem Prezydent Rzeczypospolitej Polskiej (Präsident der Republik Polen) nicht zur Ernennung zum Richter am Obersten Gericht vorgeschlagen hatte, einen Rechtsbehelf beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) ein. Ungeachtet der anhängigen Verfahren überreichte der Präsident der Republik A.S. (dem Richter, der als Einzelrichter mit dem von W.Ż. eingelegten Rechtsbehelf befasst war) am 20. Februar 2019 die Urkunde, mit der er zum Richter in der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ernannt wurde. Am 8. März 2019, kurz vor der terminierten Eröffnung der Verhandlung in der Zivilkammer des Obersten Gerichts, erließ die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten in der Besetzung mit einem Einzelrichter (A.S.), ohne dass dabei die Akten der Rechtssache zur Verfügung gestanden hätten, in der Sache einen Beschluss, mit dem der von W.Ż. eingelegte Rechtsbehelf als unzulässig verworfen wurde, obwohl die Zivilkammer des Obersten Gerichts bereits mit dem von W.Ż. gestellten Antrag auf Ablehnung sämtlicher Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten befasst war.

M.F. (Rechtssache C-508/19) ist Richterin am Sąd Rejonowy (Rayongericht) in P. (Polen). Am 17. Januar 2019 wurde gegen sie ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Ihr wurde zur Last gelegt, die Verschleppung von Verfahren zugelassen und die Anfertigung schriftlicher Begründungen hinausgezögert zu haben. Am 28. Januar 2019 erließ J.M. als Richter am Obersten Gericht in Wahrnehmung der Aufgaben des die Disziplinarkammer leitenden Präsidenten dieses Gerichts eine Anordnung, mit der er ein für diese Sache in erster Instanz zuständiges Disziplinargericht bestimmte.

M.F. macht jedoch geltend, dass das Verfahren gegen sie nicht weitergeführt werden dürfe, weil J.M. mangels Ernennung zum Richter am Obersten Gericht in der Disziplinarkammer keine Richterstelle am Obersten Gerichts bekleide. Seine Ernennung am 20. September 2018 sei unwirksam, weil sie erfolgt sei, 1. nachdem der Landesjustizrat das Auswahlverfahren auf der Grundlage einer Bekanntmachung des Präsidenten der Republik durchgeführt habe, die vom Präsidenten der Republik ohne Gegenzeichnung durch den Prezes Rady Ministrów (Ministerpräsident) unterzeichnet worden sei, 2. nachdem ein Teilnehmer des Auswahlverfahrens beim Obersten Verwaltungsgericht gegen die Entschließung des Landesjustizrats mit dem Vorschlag für die Ernennung von J.M. zum Richter am Obersten Gericht in der Disziplinarkammer einen Rechtsbehelf eingelegt habe und bevor dieses Gericht über den Rechtsbehelf entschieden habe.

Vor diesem Hintergrund haben die Zivilkammer (Rechtssache C-487/18) und die Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen (Rechtssache C-508/18) des Obersten Gerichts dem Gerichtshof Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt.

In den parallelen Schlussanträgen vom 15.04.2021 prüft Generalanwalt Evgeni Tanchev zunächst, ob das Unionsrecht der Ernennung von A.S. und J.M. zu Richtern am Obersten Gericht in der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten bzw. in der Disziplinarkammer entgegensteht.

Nach Ansicht des Generalanwalts ist es im Hinblick darauf, dass dem Landesjustizrat im Verfahren der Richterernennung eine Schlüsselrolle zukomme und die Entscheidungen des Präsidenten der Republik über die Richterernennung keiner gerichtlichen Kontrolle unterlägen, erforderlich, dass den Bewerbern um Richterämter eine wirksame gerichtliche Kontrolle offenstehe. Erst recht, wenn – wie hier – der Staat in das Verfahren der Richterernennung auf solche Weise gezielt eingreife, dass dies die künftige Unabhängigkeit dieser Richter zu beeinträchtigen drohe. Die erforderliche gerichtliche Kontrolle müsse a) vor der Ernennung stattfinden, da der Richter später durch den Grundsatz der Unabsetzbarkeit geschützt sei, b) sich wenigstens auf die Prüfung auf Befugnisüberschreitung, Ermessensmissbrauch, Rechtsfehler oder offensichtliche Beurteilungsfehler erstrecken und c) die Abklärung sämtlicher Aspekte des Ernennungsverfahrens ermöglichen, einschließlich der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen, gegebenenfalls durch Vorlage von Fragen an den Gerichtshof, u. a. zu den sich aus dem Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes ergebenden Anforderungen. Folglich stelle der Rechtsakt, durch den der Präsident der Republik die Ernennung von Richtern am Obersten Gericht vorgenommen habe, bevor das Oberste Verwaltungsgericht endgültig über den gegen die Entschließung Nr. 331/2018 des Landesjustizrats eingelegten Rechtsbehelf entschieden habe, einen eklatanten Verstoß gegen die (insbesondere im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV) unionsrechtskonform ausgelegten nationalen Vorschriften über das Verfahren der Richterernennung am Obersten Gericht dar.

Generalanwalt Tanchev zufolge spricht die offenkundige und vorsätzliche Missachtung des Beschlusses des Obersten Verwaltungsgerichts, mit dem die Vollziehung der Entschließung Nr. 331/2018 des Landesjustizrats ausgesetzt worden sei, durch ein so wichtiges Staatsorgan wie den Präsidenten der Republik, der zum Erlass des Rechtsakts zur Berufung ins Richteramt am Obersten Gericht befugt sei, für eine eklatante Verletzung der Regeln des nationalen Rechts über das Verfahren für die Richterernennung. Außerdem werde allein schon an dem Umstand, dass der Präsident der Republik die endgültige Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts, das als Verwaltungsgericht letzter Instanz einstweiligen Rechtsschutz angeordnet und die Vollziehung der Entschließung Nr. 331/2018 des Landesjustizrats bis zur Entscheidung des Gerichts in dem bei ihm anhängigen Hauptverfahren ausgesetzt habe, nicht beachtet habe, die Schwere des begangenen Verstoßes deutlich.

Die Einhaltung der von nationalen Gerichten erlassenen einstweiligen Anordnungen durch die zuständigen nationalen Behörden der Mitgliedstaaten sei wesentlich und „dem Wert des in Art. 2 EUV verankerten Rechtsstaatsprinzips, auf dem die Union gründet, inhärent“.

Der Generalanwalt prüft die Auswirkungen der Feststellung, dass A.S. möglicherweise kein durch Gesetz errichtetes Gericht ist. Er führt aus, dass der Beschluss, mit dem der Einzelrichter A.S. den betreffenden Rechtsbehelf als unzulässig verworfen habe und gegen den kein Rechtsmittel gegeben sei, nicht uneingeschränkt rechtlich wirksam sein könne, wenn man annehme, dass der Richter die Anforderungen an ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht nicht erfülle. Folglich könnte das vorlegende Gericht den Beschluss aufheben und über den Antrag von W.Ż. auf Ablehnung der Richter der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten entscheiden, damit dessen Rechtsbehelf von einem den Anforderungen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV genügenden Gericht (nämlich dem vorlegenden Gericht) geprüft werden könne.

Hinsichtlich der Rechtssache C-508/19 ist der Generalanwalt der Auffassung, dass die Verbindung zwischen der Klage im Ausgangsverfahren und den unionsrechtlichen Bestimmungen darin bestehe, dass eine nationale Richterin (M.F.), die über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden habe, darum ersuche, dass ihr im Rahmen eines gegen sie eingeleiteten Disziplinarverfahrens der durch Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte wirksame gerichtliche Rechtsschutz zuerkannt werde. Ein solcher Schutz impliziere eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die erforderlichen Garantien bereitzustellen, um jegliche Gefahr zu verhindern, dass solche Maßnahmen als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt würden. Das bedeute, dass M.F. ein Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches durch Gesetz errichtetes Gericht habe und dass das Gericht, das über ihr Disziplinarverfahren zu entscheiden habe, nicht von einem Richter benannt werden könne, dessen Ernennung gegen dieselbe Bestimmung des Unionsrechts verstoße, selbst wenn er selber gerichtliche Entscheidungen erlasse, die die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts beträfen.

Das Ernennungsverfahren von J.M. sei – so Generalanwalt Tanchev – unter zahlreichen potenziell eklatanten Verstößen gegen die für richterliche Ernennungen geltenden Vorschriften durchgeführt worden: 1. Das Verfahren sei ohne die nach der Verfassung erforderliche ministerielle Gegenzeichnung eröffnet worden, was dazu führen solle, dass das Verfahren von Anfang an nichtig sei; 2. darin eingebunden sei der neue Landesjustizrat gewesen, dessen Mitglieder nach einem neuen Gesetzgebungsverfahren ernannt worden seien, das verfassungswidrig sei und keine Unabhängigkeit garantiere; 3. es habe verschiedene vorsätzliche Behinderungen des vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Ernennungsakt gegeben – a) der Landesjustizrat habe es absichtlich unterlassen, den gegen seinen Vorschlag eingelegten Rechtsbehelf gleichzeitig mit der Übermittlung des Vorschlags an den Präsidenten der Republik vor Ablauf der dafür vorgesehenen Frist an das Oberste Verwaltungsgericht weiterzuleiten; b) der Präsident der Republik habe die in dieser Entschließung vorgeschlagenen Richter ernannt, bevor die gerichtliche Überprüfung dieser Entschließung abgeschlossen gewesen sei und ohne die Antwort des Gerichtshofs auf die ihm in der Rechtssache C-824/18 vorgelegten Fragen zur Vereinbarkeit dieser Überprüfungsmodalitäten mit dem Unionsrecht abzuwarten. Der Präsident der Republik habe somit potenziell in eklatanter Weise gegen grundlegende Rechtsnormen des nationalen Rechts verstoßen.

Der Generalanwalt kommt zu dem Ergebnis, dass ein gerichtlicher Spruchkörper kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne des Unionsrechts sei, wenn die objektiven Umstände, unter denen er gebildet worden sei, seine Merkmale sowie die Art und Weise, in der seine Mitglieder ernannt worden seien, geeignet seien, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieses Spruchkörpers für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen der Legislative und der Exekutive, und an seiner Neutralität gegenüber den widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen könnten, dass dieser Spruchkörper nicht den Eindruck vermittele, unabhängig oder unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könne, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen müsse. Es sei Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden erheblichen Erkenntnisse zu ermitteln, ob dies bei einem gerichtlichen Spruchkörper wie der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts zutreffe.

In einer solchen Situation sei der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er das vorlegende Gericht dazu verpflichte, Bestimmungen des nationalen Rechts, die die Zuständigkeit für die Entscheidung über Klagen wie die des Ausgangsverfahrens einem solchen Spruchkörper vorbehielten, unangewendet zu lassen, damit diese Klagen von einem Gericht verhandelt werden könnten, das den oben genannten Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genüge und zuständig wäre, stünden diese Bestimmungen dem nicht entgegen.