EuGH-Generalanwalt zu Haftbedingungen für Abschiebehäftlinge

25. November 2021 -

Generalanwalt Jean Richard de la Tour hat am 25.11.2021 vor dem Europäischen Gerichtshof zum Aktenzeichen C-519/20 seine Schlussanträge zu den Haftbedingungen für Abschiebehäftlinge vorgelegt.

Aus der Pressemitteilung des EuGH vom 25.11.2021 ergibt sich:

Das Amtsgericht Hannover hat den Gerichtshof ersucht, mehrere in der Richtlinie 2008/115 (über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger) genannte Modalitäten für die Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen im Einklang mit den Urteilen Bero und Bouzalmate (siehe Pressemitteilung Nr. 105/14), Pham (siehe ebenfalls Pressemitteilung Nr. 105/14) und Stadt Frankfurt am Main (C-18/19) zu präzisieren.

Es geht um den besonderen Fall, dass sich Deutschland auf eine Notlage im Sinne von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie beruft, um von der Regel abzuweichen, nach der die Drittstaatsangehörigen für die Zwecke ihrer Abschiebung in speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden. Auf der Grundlage dieser Rechtslage wurde K, ein pakistanischer Staatsangehöriger, im September 2020 in der Abteilung Langenhagen der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover inhaftiert. Das Amtsgericht Hannover muss nun die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme im Hinblick auf die Bestimmungen der Art. 16 und 18 der Richtlinie beurteilen. Zu diesem Zweck hat es dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Zunächst ersucht das Amtsgericht den Gerichtshof um Klarstellung der Voraussetzungen, unter denen sich ein Mitgliedstaat auf eine Notlage im Sinn von Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie berufen kann, um die Inhaftierung abzuschiebender Drittstaatsangehöriger in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu gestatten. Sodann ersucht es den Gerichtshof, die Befugnisse der für die Inhaftnahme zuständigen Justizbehörde in diesem Zusammenhang festzulegen. Schließlich möchte es wissen, ob die Abteilung Langenhagen, in der K untergebracht wurde, als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen werden kann. Diese Frage wird es dem Gerichtshof ermöglichen, die Kriterien festzulegen, anhand deren sich eine spezielle Hafteinrichtung von einer gewöhnlichen Haftanstalt unterscheidet, vor allem in Bezug auf die Leitung der Einrichtung, die Haftregelung und die materiellen Haftbedingungen.

In seinen Schlussanträgen vom 25.11.2021 legt Generalanwalt Jean Richard de la Tour in einem ersten Schritt die Gründe dar, weshalb er der Ansicht ist, dass eine nationale Regelung, die für die Dauer von drei Jahren die Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in Justizvollzugsanstalten erlaubt, die vom Unionsgesetzgeber in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 angeführten Voraussetzungen für eine Notlage nicht erfüllt.

In einem zweiten Schritt erklärt der Generalanwalt, dass der Erlass außergewöhnlicher Maßnahmen auf der Grundlage dieses Artikels die für die Inhaftnahme zuständige Justizbehörde nicht daran hindern kann, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Umstände, die die Anerkennung einer Notlage gerechtfertigt haben, noch vorliegen.

In einem dritten Schritt legt er die Gründe dar, weshalb er der Auffassung ist, dass eine Einstufung der Abteilung Langenhagen der Justizvollzugsanstalt der Stadt Hannover als „spezielle Hafteinrichtung“ im Sinn von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 am Tag der Inhaftnahme von K in Anbetracht der Angaben sowohl des vorlegenden Gerichts als auch der deutschen Regierung nicht möglich zu sein scheint.

Konkret schlägt der Generalanwalt dem EuGH vor, dem AG Hannover wie folgt zu antworten:

  1. Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für die Dauer von drei Jahren die Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen in gewöhnlichen Haftanstalten erlaubt, wenn weder die Gründe, auf denen diese Regelung beruht, noch die Voraussetzungen für ihren Erlass und ihre Anwendungsmodalitäten eine Notlage im Sinne dieses Artikels erkennen lassen.
  2. Art. 18 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass die für die Inhaftnahme zuständige Justizbehörde in jedem Einzelfall prüfen muss, ob die in Art. 18 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Umstände, die den Erlass außergewöhnlicher Maßnahmen gerechtfertigt haben, noch vorliegen.
  3. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass eine „spezielle Hafteinrichtung“ eine Anstalt zur Vorbereitung der Abschiebung von Drittstaatsangehörigen ist, in der die Vollstreckung der Haft nach einer freiheitsentziehenden Regelung und unter materiellen Bedingungen erfolgt, die an den rechtlichen Status und die Schutzbedürftigkeit dieser Drittstaatsangehörigen angepasst sind.
  4. Eine Einrichtung, die sowohl für die Vollstreckung von Maßnahmen der Inhaftierung von abzuschiebenden Drittstaatsangehörigen als auch für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen genutzt werden kann und in der die Haft nach den Rechtsvorschriften über die Vollstreckung von Strafen und unter der Aufsicht des Strafvollzugspersonals dieser Einrichtung vollzogen wird, fällt nicht unter den Begriff „spezielle Hafteinrichtung“.