Europäischer Haftbefehl: Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit

31. März 2022 -

Nach Auffassung von Generalanwalt Rantos im Verfahren C-168/21 vor dem Europäischen Gerichtshof kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht mit der Begründung ablehnen, dass ein Teil der im ausstellenden Mitgliedstaat als einheitliche Straftat verfolgten Handlungen im vollstreckenden Mitgliedstaat strafrechtlich nicht geahndet werden könne. Außerdem sei die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls erfüllt, wenn das durch das Recht des vollstreckenden Mitgliedstaats geschützte Interesse dem im ausstellenden Mitgliedstaat geschützten Interesse ähnlich sei.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 57/2022 vom 31.03.2022 ergibt sich:

KL wurde im Jahr 2009 von der italienischen Justiz u. a. zu einer Haftstrafe von zehn Jahren im Hinblick auf sieben Handlungen verurteilt, die nach italienischem Recht als einheitliche Straftat „Verwüstung und Plünderung“ verfolgt wurden und die er im Rahmen einer Demonstration gegen den G8-Gipfel in Genua (Italien) im Jahr 2001 begangen hatte. Er wurde in Frankreich festgenommen und stimmte seiner Übergabe in Vollstreckung des von den italienischen Justizbehörden ausgestellten Europäischen Haftbefehls (im Folgenden: EHB) nicht zu. Im Jahr 2020 verweigerte die Chambre de l’instruction de la cour d’appel d‘Angers (Ermittlungskammer, Berufungsgericht Angers, Frankreich) die Übergabe von KL, da zwei der sieben Handlungen, die Teil der von der italienischen Justiz verfolgten Straftat sind, im französischen Strafrecht keine Straftaten darstellen.

Die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) stellt die Frage, ob die Störung des öffentlichen Friedens, die das Berufungsgericht Genua und der Kassationsgerichtshof (Italien) KL als wesentliches Tatbestandsmerkmal der „Verwüstung und Plünderung“ angesehen haben, für die Beurteilung der Einhaltung der im Unionsrecht vorgesehenen Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit relevant ist. Zum einen unterschieden sich nämlich die Tatbestandsmerkmale dieser Straftat in den betreffenden beiden Mitgliedstaaten und zum anderen könne ein Teil der von diesem Straftatbestand erfassten Handlungen im vollstreckenden Mitgliedstaat strafrechtlich nicht geahndet werden. Der Gerichtshof wird folglich ersucht, die Tragweite der Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit im Sinne des betreffenden Rahmenbeschlusses1 zu definieren.

In seinen Schlussanträgen schlägt Generalanwalt Athanasios Rantos dem EuGH vor, auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass die Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses unter den vom vorlegenden Gericht beschriebenen Umständen dazu führen, dass der EHB zu vollstrecken ist.

Er weist zunächst darauf hin, dass es das Unionsrecht dem vollstreckenden Mitgliedstaat gestatte, die Vollstreckung der Verurteilung in bestimmten Fällen davon abhängig zu machen, dass das Kriterium der beiderseitigen Strafbarkeit erfüllt sei. Da diese eine Ausnahme von der grundsätzlichen Regel der Anerkennung des Urteils sowie der Vollstreckung der Sanktion bilde, sei der Anwendungsbereich des aus dem Fehlen der beiderseitigen Strafbarkeit abgeleiteten Grundes für die Versagung eng auszulegen, um die Fälle der Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung zu beschränken.

Insbesondere im Hinblick auf die Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit bestehe die hinreichende und notwendige Voraussetzung zu diesem Zweck darin, dass die Handlungen, die zur Verurteilung im ausstellenden Mitgliedstaat geführt hätten, auch im vollstreckenden Mitgliedstaat eine Straftat darstellten. Folglich sei es nicht erforderlich, dass die Straftaten in den betreffenden beiden Mitgliedstaaten identisch seien.

Der Generalanwalt ergänzt hierzu, dass die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit als erfüllt anzusehen sei, wenn die der Straftat zugrunde liegenden Sachverhaltselemente auch im Vollstreckungsstaat, wenn sie sich in dessen Hoheitsgebiet ereignet hätten, einer strafrechtlichen Sanktion unterliegen würden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs müsse keine exakte Übereinstimmung der Tatbestandsmerkmale der Straftat, wie sie im Recht des ausstellenden und des vollstreckenden Mitgliedstaats festgelegt sei, oder der Bezeichnung bzw. der Klassifizierung dieser Straftat nach den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen bestehen. Die zuständige Behörde des vollstreckenden Mitgliedstaats müsse somit prüfen, ob dann, wenn die betreffende Straftat im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats begangen worden wäre, ein ähnliches, vom nationalen Recht dieses Staates geschütztes Interesse als verletzt gegolten hätte. Im vorliegenden Fall sei die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit erfüllt, da die im Rahmen der als „Verwüstung und Plünderung“ eingestuften Straftat erfassten Handlungen in Frankreich strafrechtlich geahndet werden könnten, wobei das entsprechende Interesse der Schutz der Eigentümer der betreffenden Güter sei. Daraus folge, dass das durch das Recht des vollstreckenden Mitgliedstaats geschützte Interesse dem im ausstellenden Mitgliedstaat geschützten ähnlich sei.

Außerdem schreibe der Rahmenbeschluss angesichts seines Wortlauts, seines Kontextes und seines Ziels nicht vor, dass sämtliche Tatbestandsmerkmale einer einheitlichen Straftat, die vom EHB erfasst sei, im vollstreckenden Mitgliedstaat eine Straftat darstellen müssten. Die Voraussetzung der beiderseitigen Strafbarkeit sei somit auch dann erfüllt, wenn nur ein Teil der Tatbestandsmerkmale dieser einheitlichen Straftat im vollstreckenden Mitgliedstaat strafrechtlich geahndet werden könne.

Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Strafe weist der Generalanwalt darauf hin, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines EHB nur von den durch das Unionsrecht festgelegten Voraussetzungen abhängig machen könne. Eine etwaige Unverhältnismäßigkeit der Strafe stelle keinen durch das Unionsrecht vorgesehenen Grund dar, den EHB nicht zu vollstrecken. Zwar habe der Gerichtshof festgestellt, dass unter „außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich seien. Nach Ansicht des Generalanwalts kann jedoch allein der Umstand, dass nicht sämtliche im Rahmen einer einheitlichen Straftat im ausstellenden Mitgliedstaat verfolgte Handlungen eine Straftat im vollstreckenden Mitgliedstaat darstellten, nicht rechtfertigen, einen neuen „außergewöhnlichen Umstand“ in einem Fall zu verankern, in dem die Grundrechte der gesuchten Person im ausstellenden Mitgliedstaat beachtet worden seien.

Im Ergebnis könne die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zum Zweck der Strafvollstreckung ausgestellten EHB nicht verweigern, wenn die betreffende Strafe für mehrere von der gesuchten Person begangene Taten ausgesprochen worden sei, die im ausstellenden Mitgliedstaat als einheitliche Straftat verfolgt würden, während einige dieser Handlungen im vollstreckenden Mitgliedstaat strafrechtlich nicht geahndet werden könnten.

1 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Stellungnahmen bestimmter Mitgliedstaaten zur Annahme des Rahmenbeschlusses (ABl. 2002, L 190, S. 1).