Fehlendes Aktenzeichen entschuldigt Fristversäumnis nicht

20. September 2025 -

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem aktuellen Beschluss (v. 20.08.2025 – XII ZB 69/25) klargestellt, dass Rechtsanwälte auch ohne Mitteilung eines neuen Aktenzeichens dafür verantwortlich sind, die Begründungsfrist eines Rechtsmittels einzuhalten. Mit anderen Worten: Das Ausbleiben einer Eingangsbestätigung oder eines Aktenzeichens durch das Gericht entbindet den Anwalt nicht von der Pflicht, fristgerecht beim zuständigen Gericht vorstellig zu werden. Diese Entscheidung mahnt zu strenger Fristenkontrolle und proaktiver Aktenzeichenanfrage in der anwaltlichen Praxis.

Leitsätze der Entscheidung

Der BGH formulierte zwei zentrale Leitsätze zu dieser Problematik:

  1. „Das Verschulden des Prozess- oder Verfahrensbevollmächtigten einer Partei oder eines Beteiligten an einer Fristversäumung kann nur bei einem anderweitigen – der Partei oder dem Beteiligten nicht zuzurechnenden – Ereignis entfallen, das ursächlich für die Fristversäumung geworden ist.“
  2. „Die Versäumung einer Mitteilung des Aktenzeichens des Beschwerdeverfahrens durch das Beschwerdegericht entbindet den Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers nicht von der Verpflichtung zur Einreichung der Beschwerdebegründung beim Beschwerdegericht.“

Anders ausgedrückt: Ein Anwalt kann sich ein eigenes Fristversäumnis nur dann verzeihen lassen, wenn ein vollkommen externer Umstand (den der Partei nicht zugerechnet werden kann) allein die Fristversäumung verursacht hat. Das bloße Fehlen einer Mitteilung des neuen Aktenzeichens durch das Gericht ist jedoch kein solcher äußerer Umstand – es entbindet nicht von der Pflicht, die Frist dennoch beim richtigen Gericht zu wahren.

Sachverhalt

Im zugrunde liegenden Fall ging es um eine familienrechtliche Unterhaltssache. Das Amtsgericht (AG) hatte den Antragsgegner (Vater) mit Beschluss vom 5. September 2024 zur Zahlung von Kindesunterhalt verpflichtet. Dagegen legte der Vater fristgerecht Beschwerde beim Amtsgericht ein. Nach geltendem Verfahrensrecht (§ 117 Abs. 1 FamFG) musste er die Beschwerde innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Beschlusses begründet beim Beschwerdegericht (hier: dem Oberlandesgericht Celle) einreichen.

Der Anwalt des Vaters stand jedoch vor folgendem Problem: Weder erhielt er vom Familiengericht eine Abgabenachricht (Weiterleitungsmitteilung der Akten an das OLG) noch vom OLG eine Eingangsbestätigung oder ein neues Aktenzeichen für das Beschwerdeverfahren. Ohne dieses Aktenzeichen, so meinte der Anwalt, könne er keine „formell korrekte und eindeutige“ Beschwerdebegründung einreichen. Aus Sorge, die Frist könnte verstreichen, übermittelte er die Begründungsschrift am letzten Tag der Frist an das unzuständige Amtsgericht (AG Lüneburg) mit der Bitte um Weiterleitung. Das AG leitete den Schriftsatz zwar weiter, jedoch traf er erst am Folgetag beim Oberlandesgericht ein – die Zwei-Monats-Frist war damit abgelaufen.

Das Oberlandesgericht (OLG) Celle verwarf daraufhin die Beschwerde als unzulässig wegen Fristversäumnis. Den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – mit dem der Antragsgegner geltend machte, die Frist unverschuldet versäumt zu haben – lehnte das OLG ab. Es argumentierte, dass den Anwalt ein eigenes Verschulden treffe: Er hätte die Beschwerdebegründung rechtzeitig beim zuständigen OLG einreichen müssen. Insbesondere wäre es möglich und zumutbar gewesen, das Aktenzeichen telefonisch beim OLG zu erfragen oder die Begründung zumindest ohne Aktenzeichen direkt dort einzureichen – das Gericht hätte den Schriftsatz auch ohne Aktenzeichen der richtigen Beschwerdeakte zuordnen können. Jedenfalls, so das OLG, hätte der Anwalt den Schriftsatz so frühzeitig beim AG einreichen müssen, dass er im normalen Geschäftsweg noch rechtzeitig ans OLG gelangt. Naheliegend wäre es auch gewesen, die Begründung vorsorglich doppelt – sowohl beim AG als auch beim OLG – einzureichen, um eine Fristversäumnis sicher auszuschließen.

Gegen die Entscheidung des OLG suchte der Antragsgegner mit einer Rechtsbeschwerde beim BGH doch noch Gehör. Er rügte unter anderem, das OLG selbst habe durch die unterlassene sofortige Mitteilung eines Aktenzeichens die Hauptursache für die Fristversäumnis gesetzt – dieses gerichtliche Versäumnis müsse sein eigenes (etwaiges) Verschulden überlagern.

Entscheidung des BGH

Der BGH wies die Rechtsbeschwerde jedoch ab und stellte sich voll hinter die Auffassung des Oberlandesgerichts. Die obersten Zivilrichter betonten, dass die Beschwerdebegründung unstreitig nicht innerhalb der gesetzlichen Frist beim OLG eingegangen war. Damit war die Beschwerde formell unzulässig. Eine Wiedereinsetzung komme nur in Betracht, wenn die Frist ohne Verschulden versäumt wurde (§ 233 ZPO i.V.m. § 117 Abs. 5 FamFG). Hiervon konnte nach Ansicht des BGH keine Rede sein:

  • Verschulden des Anwalts: Das Versäumnis beruhte eindeutig auf einem Anwaltsfehler. Der Verfahrensbevollmächtigte hatte die Begründung am Tage des Fristablaufs beim falschen Gericht (dem unzuständigen AG) eingereicht, statt beim hierfür zuständigen Oberlandesgericht. Dies stellte einen Verstoß gegen die klare Vorgabe des § 117 Abs. 1 S. 2 FamFG dar, wonach die Begründung fristgerecht beim Beschwerdegericht eingehen muss. Entscheidend ist: Auch eine unverschuldete Unkenntnis des Aktenzeichens befreit den Anwalt nicht von dieser Pflicht. Selbst ohne Aktenzeichen hätte der Schriftsatz beim OLG eingereicht und dem richtigen Verfahren zugeordnet werden können. Der BGH führt aus, dass die „selbst unverschuldete“ Unkenntnis am Aktenzeichen nichts an seinem Verschulden hinsichtlich der versäumten Frist ändert.
  • Kein überlagernder Fremdverschulden: Die Rechtsbeschwerde argumentierte vergeblich, das eigentliche Verschulden liege beim Gericht (OLG), das versäumt habe, umgehend ein Aktenzeichen mitzuteilen. Ein solches Behördenversäumnis könne im Ausnahmefall die Anwaltspflichtverletzung überlagern und damit entschuldigen (Stichwort: „anderweitiges, der Partei nicht zuzurechnendes Ereignis“). Der BGH machte jedoch deutlich, dass diese Ausnahme hier nicht greift. Das bloße Ausbleiben der Eingangsbestätigung mit Aktenzeichen stellt kein derartiges externes Ereignis dar, das den Anwalt von seiner Pflicht entbunden hätte. Mit anderen Worten: Der Fehler des Gerichts, dem Anwalt das Aktenzeichen (ggf. rechtzeitig) mitzuteilen, hat die anwaltliche Sorgfaltspflicht nicht aufgehoben. Vielmehr hätte der Anwalt eigenständig für eine fristwahrende Einreichung sorgen müssen.
  • Kein Gehörsverstoß, keine Willkür: Auch einen Verstoß gegen rechtliches Gehör oder eine willkürliche Entscheidung vermochte der BGH in dem Vorgehen des OLG nicht zu erkennen. Die Zurückweisung der Beschwerde erfolgte konsequent nach geltendem Recht und höchstrichterlicher Rechtsprechung. Insbesondere stellte der BGH klar, dass das OLG genau im Einklang mit der bereits bestehenden Rechtsprechung handelte (verwiesen wurde u.a. auf BGH-Beschlüsse vom 17.06.2025 und 09.05.2019).

Konsequenz der BGH-Entscheidung: Keine Wiedereinsetzung. Da die Fristversäumung auf einem anwaltlichen Verschulden beruhte, schied eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus. Nach § 85 Abs. 2 ZPO muss sich der Mandant das Verschulden seines Anwalts zurechnen lassen. Der Antragsgegner blieb also an der Fristversäumnis „haften“ – seine Beschwerde war endgültig verloren, Verfahrenskostenhilfe wurde mangels Erfolgsaussichten ebenfalls versagt.

Praxishinweise für Rechtsanwälte

Dieser Fall verdeutlicht, wie wichtig eine sorgfältige Fristenüberwachung und proaktive Vorgehensweise für Anwälte ist. Folgende Tipps lassen sich für die anwaltliche Praxis ableiten:

  • Fristen im Blick behalten: Notieren Sie bei Einlegung eines Rechtsmittels sofort die maßgebliche Begründungsfrist (z.B. 2 Monate ab Zustellung bei Familiensachen gemäß § 117 Abs. 1 FamFG) als Hauptfrist. Legen Sie zusätzlich eine Vorfrist einige Tage oder Wochen vorher. So bleibt Zeit, um fehlende Informationen (wie ein Aktenzeichen) rechtzeitig zu beschaffen oder unvorhergesehene Probleme zu lösen. Die Kanzleiorganisation sollte vorsehen, dass am Vorfrist-Datum geprüft wird, ob alles Nötige für die fristgerechte Begründung vorliegt (Eingangsbestätigung des Gerichts, Aktenzeichen etc.). Falls nicht, muss spätestens dann reagiert werden.
  • Aktenzeichen proaktiv erfragen: Verlassen Sie sich nicht darauf, dass das Beschwerdegericht von sich aus zügig ein Aktenzeichen mitteilt. Wenn einige Tage nach Einlegung der Beschwerde noch keine Eingangsbestätigung vorliegt, zögern Sie nicht, selbst beim Gericht nachzuhaken. Ein kurzer Anruf bei der Geschäftsstelle des Beschwerdegerichts kann Klarheit schaffen – oftmals lässt sich das neue Aktenzeichen schnell telefonisch in Erfahrung bringen. Der BGH deutet an, dass ein solcher Anruf ohne Weiteres möglich und zumutbar gewesen wäre. Diese einfache Maßnahme hätte im vorliegenden Fall vermutlich das Problem direkt gelöst.
  • Ohne Aktenzeichen fristwahrend einreichen: Sollte es nicht gelingen, bis kurz vor Fristablauf das neue Aktenzeichen zu erhalten, darf dies keinesfalls zur Untätigkeit führen. Reichen Sie die Rechtsmittelbegründung unbedingt rechtzeitig beim zuständigen Gericht ein – notfalls auch ohne Aktenzeichen. Wichtig ist, dass aus dem Schriftsatz die betreffende Sache eindeutig hervorgeht (z.B. Angabe des erstinstanzlichen Gerichts und Aktenzeichens, Namen der Parteien, Datum der angefochtenen Entscheidung). Die Gerichte können Eingaben in der Regel anhand solcher Angaben dem richtigen Verfahren zuordnen. Im besprochenen Fall stellte das OLG klar, dass es die Beschwerdebegründung auch ohne Aktenzeichen zuordnen konnte. Der Anwalt hätte also schlicht mit den vorhandenen Informationen (etwa dem AZ des Amtsgerichts und Parteibezeichnungen) die Begründung beim OLG einreichen sollen. Merke: Ein fehlendes Aktenzeichen ist kein Entschuldigungsgrund – die Frist läuft trotzdem weiter.
  • Kein Verlass auf Weiterleitung: Vermeiden Sie es, die Begründungsschrift bei einem unzuständigen Gericht einzureichen, in der Hoffnung, diese werde schon weitergeleitet. Zwar leiten Untergerichte fristgebundene Schriftsätze in der Praxis oft an die zuständige Stelle weiter, doch diese Weiterleitung kostet Zeit und entbindet nicht von der Fristwahrung. Wenn Sie – aus welchen Gründen auch immer – die Begründung beim falschen Gericht eingereicht haben, prüfen Sie umso mehr den rechtzeitigen Eingang beim richtigen Gericht. Im Zweifel sollte der Schriftsatz zusätzlich direkt an das zuständige Gericht geschickt werden. Im vorliegenden Fall hätte der Anwalt nach Ansicht des OLG die Begründung vorsorglich auch beim OLG selbst einreichen sollen. Eine doppelte Einreichung mag ungewöhnlich erscheinen, ist aber im Ausnahmefall besser als ein verlorenes Rechtsmittel.
  • Dokumentation und Wiedereinsetzung: Falls dennoch eine Frist versäumt wird und Wiedereinsetzung beantragt werden muss, ist eine lückenlose Dokumentation der Kanzleiorganisation und aller ergriffenen Maßnahmen entscheidend. Der Anwalt muss dem Gericht darlegen, warum ihn kein Verschulden trifft. Im Kontext dieses BGH-Beschlusses heißt das beispielsweise: Nachweis, dass die Frist korrekt notiert war, eine ausreichende Vorfrist gesetzt wurde, man frühzeitig versucht hat, das Aktenzeichen zu erhalten, und letztlich alles Zumutbare unternommen hat, um fristgerecht einzureichen. Fehlt ein solcher Vortrag (z.B. zur Einrichtung einer Vorfrist), stehen die Chancen für Wiedereinsetzung denkbar schlecht (vgl. bereits Homann/Toussaint, Anm. in FD-ZVR 2025 zu dieser Entscheidung).

Die Entscheidung des BGH vom 20.08.2025 führt Anwälten eindrücklich vor Augen, dass Fristversäumnisse rigoros zu Lasten der Mandantschaft gehen, wenn nicht wirklich alle Sorgfaltspflichten erfüllt wurden. Ein fehlendes Aktenzeichen oder ausbleibende Reaktion des Gerichts entbindet nicht von der eigenen Verantwortung. Für die Anwaltspraxis bedeutet dies: Die Fristenkontrolle muss absolut zuverlässig sein, und im Zweifel ist Eigeninitiative gefragt. Lieber einen Schritt zu viel (Telefonat beim Gericht, vorsorgliche Doppelübersendung) als einen zu wenig – denn im Nachhinein ist bei versäumten Fristen meist nichts mehr zu retten. Der Mandant muss sich Anwaltsfehler zurechnen lassen, sodass proaktive Fehlervermeidung oberstes Gebot ist.

Durch konsequente Organisation (Fristenkalender mit Vorfristen) und frühzeitige Kommunikation mit den Gerichten können Anwälte sicherstellen, dass sie auch ohne behördliche Erinnerungshilfen (wie Aktenzeichenzuteilung) alle Fristen wahren. Kurzum: Im Zweifel immer fristwahrend einreichen – notfalls ohne Aktenzeichen – denn auf Wiedereinsetzung sollte man nicht hoffen müssen.