Feinstaubbelastung: Italien hat gegen Unionsrecht zur Luftqualität verstoßen

10. November 2020 -

Der Europäische Gerichtshof hat am 10.11.2020 zum Aktenzeichen C-644/18 entschieden, dass Italien gegen das Unionsrecht zur Luftqualität verstoßen hat, weil die Grenzwerte für die Konzentrationen von PM10-Partikeln zwischen 2008 und 2017 systematisch und andauernd überschritten wurden.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 136/20 vom 10.11.2020 ergibt sich:

Die Europäische Kommission leitete 2014 wegen systematischer und andauernder Überschreitung der in der Richtlinie „Luftqualität“ (RL 2008/50/EG über Luftqualität und saubere Luft für Europa, ABl. 2008, L 152, 1) festgelegten Grenzwerte für die Konzentrationen von PM10-Partikeln in einer Reihe von Gebieten in Italien gegen die Italienische Republik ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Zum einen habe die Italienische Republik seit 2008 in den betreffenden Gebieten die nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie „Luftqualität“ in Verbindung mit deren Anhang XI geltenden Tages- und Jahresgrenzwerte für die Konzentrationen von PM10-Partikeln systematisch und andauernd überschritten. Zum anderen habe sie gegen ihre Verpflichtung nach Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie in Verbindung mit deren Anhang XV verstoßen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um in allen betreffenden Gebieten die Einhaltung der Grenzwerte für PM10-Partikel zu gewährleisten. Da die Kommission die im Vorverfahren von der Italienischen Republik hierzu abgegebenen Erläuterungen für unzureichend hielt, hat sie am 13.10.2018 eine Vertragsverletzungsklage erhoben.

Der EuGH hat dieser Klage stattgegeben.

Nach Auffassung des EuGH ist die Rüge eines systematischen und andauernden Verstoßes gegen Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie „Luftqualität“ in Verbindung mit deren Anhang XI in Anbetracht der von der Kommission für die verfahrensrelevanten Zeiträume und Gebiete vorgetragenen Gesichtspunkte für begründet. Die Überschreitung der Grenzwerte für PM10-Partikel reiche für sich genommen aus, um einen Verstoß gegen die genannten Bestimmungen der Richtlinie „Luftqualität“ festzustellen. Von 2008 bis einschließlich 2017 seien die Tages- und Jahresgrenzwerte für PM10-Partikel in den betreffenden Gebieten mit großer Regelmäßigkeit überschritten worden. Die Tatsache, dass in bestimmten Jahren des geprüften Zeitraums die fraglichen Grenzwerte nicht überschritten wurden, stehe bei einer solchen Sachlage der Feststellung eines systematischen und andauernden Verstoßes gegen die fraglichen Bestimmungen nicht entgegen. Wie nämlich bereits aus der Definition von „Grenzwert“ in der Richtlinie „Luftqualität“ hervorgehe, müsse dieser, um schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und/oder die Umwelt insgesamt zu vermeiden, zu verhüten oder zu verringern, innerhalb eines bestimmten Zeitraums erreicht werden und dürfe danach nicht überschritten werden. Außerdem sei es, sobald dies – wie hier – feststehe, unerheblich, ob der Mitgliedstaat, dem diese Vertragsverletzung zuzurechnen sei, sie mit Absicht oder fahrlässig begangen habe oder ob sie auf aufgetretenen technischen oder strukturellen Schwierigkeiten beruhe, es sei denn, es werde nachgewiesen, dass außergewöhnliche Umstände vorlägen, deren Folgen sich trotz Anwendung aller gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermeiden lassen. Da die Italienische Republik im vorliegenden Fall diesen Beweis nicht erbracht habe, habe sie sich vergeblich auf die Vielfalt der Luftverschmutzungsquellen berufen, um geltend zu machen, dass einige von ihnen nicht ihr zuzurechnen seien, wie beispielsweise diejenigen, die von den europäischen Politiken bestimmter Bereiche beeinflusst würden, oder auf topographische und klimatische Besonderheiten bestimmter der betroffenen Gebiete. Schließlich sei auch der von der Italienischen Republik geltend gemachte Umstand irrelevant, dass die von der Rüge der Kommission betroffenen Gebiete im Vergleich zum gesamten Hoheitsgebiet einen begrenzten Umfang hätten. Insoweit genüge die Überschreitung der Grenzwerte für PM10-Partikel, und sei es auch nur in einem einzigen Gebiet, für sich allein, um einen Verstoß gegen die genannten Bestimmungen der Richtlinie „Luftqualität“ festzustellen.

Zudem sei die Rüge des fehlenden Erlasses geeigneter Maßnahmen, um gemäß den Anforderungen von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie „Luftqualität“ allein und in Verbindung mit deren Anhang XV Abschnitt A die Einhaltung der Grenzwerte für PM10-Partikel zu gewährleisten, ebenfalls begründet. Der betreffende Mitgliedstaat müsse nach diesen Bestimmungen bei Überschreitung dieser Grenzwerte nach dem Verstreichen der Frist für ihre Einhaltung einen Luftqualitätsplan erstellen, der den Anforderungen der Richtlinie genüge, insbesondere der Anforderung, geeignete Maßnahmen vorzusehen, damit der Zeitraum der Nichteinhaltung dieser Grenzwerte so kurz wie möglich gehalten werden könne. Zwar reiche eine solche Überschreitung für sich allein nicht für die Feststellung aus, dass gegen die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus den genannten Bestimmungen der Richtlinie „Luftqualität“ verstoßen worden sei, und verfügten die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der zu erlassenden Maßnahmen über einen gewissen Handlungsspielraum, doch müssten diese Maßnahmen es jedenfalls ermöglichen, dass der Zeitraum der Nichteinhaltung der Grenzwerte so kurz wie möglich gehalten werde.

Die Italienische Republik habe offenkundig nicht rechtzeitig die somit erforderlichen Maßnahmen ergriffen. Der EuGH stütze seine Feststellung auf die Angaben in den Akten, woraus sich insbesondere ergebe, dass die Überschreitung der Tages- und Jahresgrenzwerte für PM10-Partikel in den betreffenden Gebieten mindestens acht Jahre lang systematisch und andauernd bestanden habe, dass trotz des in der Italienischen Republik laufenden Prozesses zur Erreichung der Grenzwerte die in den dem EuGH vorgelegten Luftqualitätsplänen vorgesehenen Maßnahmen, insbesondere diejenigen, die speziell im Hinblick auf die wichtigsten Verschmutzungsfaktoren zu strukturellen Veränderungen führen sollen, zumeist erst kürzlich vorgesehen worden seien, und dass mehrere dieser Pläne eine Verwirklichungsdauer für die Luftqualitätsziele vorsehen, die sich über mehrere Jahre, zuweilen sogar auf zwei Jahrzehnte nach Inkrafttreten der Grenzwerte erstrecken könne. Diese Sachlage belege aus sich selbst heraus, dass die Italienische Republik keine geeigneten und wirksamen Maßnahmen durchgeführt habe, damit der Zeitraum der Nichteinhaltung der Grenzwerte für PM10-Partikel so kurz wie möglich gehalten werden könne. Während die Italienische Republik der Ansicht ist, dass es insbesondere im Hinblick auf die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Subsidiarität und des Ausgleichs zwischen öffentlichen und privaten Interessen unerlässlich sei, über lange Fristen zu verfügen, damit die in den verschiedenen Luftqualitätsplänen vorgesehenen Maßnahmen ihre Wirkungen entfalten könnten, stellt der EuGH demgegenüber fest, dass diesem Ansatz sowohl die in der Richtlinie „Luftqualität“ für die Erfüllung der in ihr vorgesehenen Pflichten genannten Zeitvorgaben als auch die Bedeutung der mit der Richtlinie verfolgten Ziele des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Umwelt entgegenstehen. Der EuGH erkennt zwar an, dass Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie „Luftqualität“ nicht verlangen könne, dass die von einem Mitgliedstaat erlassenen Maßnahmen die sofortige Einhaltung dieser Grenzwerte gewährleisten, damit sie als geeignet angesehen werden könnten, doch hebt er hervor, dass der Ansatz der Italienischen Republik darauf hinauslaufen würde, eine generelle Verlängerung – gegebenenfalls auf unbestimmte Zeit – der Frist für die Einhaltung dieser Werte zuzulassen, obgleich sie gerade zur Erreichung dieser Ziele festgelegt worden seien.