Gericht muss mögliche Befangenheit prüfen

12. Dezember 2022 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 09. November 2022 zum Aktenzeichen 1 BvR 2263/21 entschieden, dass eine berufsgerichtliche Entscheidung mangels gerichtlicher Prüfung der möglichen Besorgnis der Befangenheit verfassungswidrig ist.

Die Beschwerdeführerin ist selbständige Ärztin und betrieb im hier relevanten Zeitraum eine Gemeinschaftspraxis mit einem Kollegen.

Im Anschluss an drei Kontrollen der Praxis durch das örtliche Ordnungsamt und das Gesundheitsamt verpflichtete der Landkreis die Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 19. Mai 2020, verschiedene Hygienemaßnahmen zu beachten, insbesondere ausreichende Abstände im Wartezimmer der Praxis zu gewährleisten und das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen durch Mitarbeiter und Patienten sicherzustellen. Sie wurde zudem aufgefordert, keine Schilder des Inhalts, dass in den Räumlichkeiten keine Maskenpflicht gelte, aufzuhängen. In der Praxis seien bei den Kontrollen keine hinreichenden Abstände zwischen den Stühlen im Wartezimmer gewährleistet gewesen. Mehrere anwesende Personen hätten keine Mund-Nase-Bedeckungen getragen. Vielmehr hätten Schilder darauf hingewiesen, dass in der Praxis keine Maskenpflicht gelte. Der Mitinhaber der Praxis habe in einem Gespräch versichert, allein die Beschwerdeführerin, deren Auffassung er nicht teile, sei dafür verantwortlich. In der Begründung des Bescheids wird weiter ausgeführt, die Beschwerdeführerin habe die geltende Verordnung zur Bekämpfung des Coronavirus mit „den Machenschaften der Gestapo“ verglichen und sich gegenüber den kommunalen Bediensteten bedrohlich geäußert.

Der Landkreis informierte die Landesärztekammer vom Ergebnis der Kontrollen. Daraufhin kam es zu einem persönlichen Gespräch der Beschwerdeführerin mit dem Präsidenten und dem Hauptgeschäftsführer der Landesärztekammer. In dessen Verlauf erklärte der Präsident, es werde ein berufsrechtliches Verfahren gegen die Beschwerdeführerin eingeleitet werden, wenn sie sich nicht bei „allen Beteiligten, zu denen der Vergleich mit der Gestapo gezogen wurde,“ schriftlich entschuldige, was die Beschwerdeführerin ablehnte.

Im Rahmen ihrer schriftlichen Anhörung zur Einleitung berufsrechtlicher Maßnahmen sowie zu einer beabsichtigen Erteilung einer Rüge und Verhängung eines Ordnungsgelds lehnte die Beschwerdeführerin den Präsidenten und den Geschäftsführer der Landesärztekammer wegen der Besorgnis der Befangenheit ab. Hierbei bezog sie sich unter anderem auf den Verlauf des vorangegangenen Gesprächs.

Nach einstimmigem Beschluss des Vorstands vom 4. November 2020 erließ die Landesärztekammer – unter dem Briefkopf und mit Unterschrift des Präsidenten – den angegriffenen Bescheid vom 12. November 2020, mit dem der Beschwerdeführerin gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Heilberufsgesetz <Rheinland-Pfalz> (HeilBG) eine Rüge erteilt und ein Ordnungsgeld in Höhe von 15.000 Euro auferlegt wurde. Die Beschwerdeführerin habe gegen § 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 5 der Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Rheinland-Pfalz (BerufsO) verstoßen, indem sie die nach der jeweils geltenden Corona-Bekämpfungsverordnung Rheinland-Pfalz (CoBeLVO) erforderlichen Hygienemaßnahmen nicht ergriffen und durch Aushänge darauf hingewiesen habe, dass in ihrer Praxis „keine Maskenpflicht“ gelte. Bei einer Kontrolle habe die Beschwerdeführerin Vergleiche „mit den Machenschaften der Gestapo“ gezogen. Der Präsident und der Hauptgeschäftsführer seien nicht befangen. Den dagegen gerichteten Einspruch wies die Landesärztekammer mit Bescheid vom 25. Februar 2021 zurück.

Die Beschwerdeführerin beantragte daraufhin die Entscheidung des Berufsgerichts für Heilberufe. Das Berufsgericht bestätigte mit Beschluss vom 8. Juli 2021 die durch die Landesärztekammer erteilte Rüge und das verhängte Ordnungsgeld. Soweit die Beschwerdeführerin den Präsidenten wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt habe, habe der Vorstand der Landesärztekammer das Gesuch als Ausschuss im Sinne des § 88 VwVfG gemäß § 21 Abs. 2 (in Verbindung mit § 20 Abs. 4) VwVfG abgelehnt.

Die Beschwerdeführerin habe schuldhaft gegen § 21 Abs. 1 HeilBG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 [gemeint wohl: Abs. 2] und 5 BerufsO verstoßen. Sie habe nach § 2 Abs. 5 BerufsO die für ihre Berufsausübung geltenden Vorschriften einzuhalten. § 1 Abs. 4 der 6. und 7. CoBeLVO verpflichte Einrichtungen des Gesundheitswesens zur Einhaltung der notwendigen Hygieneanforderungen. Patientinnen und Patienten seien zum Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen in Wartesituationen verpflichtet. Absatz 2 Satz 2 Nr. 3 [gemeint wohl: Nr. 4] derselben Vorschrift verpflichte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter grundsätzlich ebenfalls zum Tragen solcher Bedeckungen. Es gelte ein Mindestabstand von 1,5 m in Wartesituationen. Die Beschwerdeführerin habe gegen ihre Berufspflicht, die Einhaltung der Abstände und der Maskenpflicht sicherzustellen, schuldhaft verstoßen. Das verhängte Ordnungsgeld sei seiner Höhe nach angemessen.

Die Beschwerdeführerin erhob Anhörungsrüge, Gegenvorstellung und Beschwerde sowie eine Nichtigkeitsklage. Das Berufsgericht wies diese Rechtsbehelfe mit Beschluss vom 19. August 2021 zurück.

Der angegriffene Beschluss des Berufsgerichts vom 8. Juli 2021 verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits entschieden. Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen (BVerfGE 149, 407 <413 Rn. 19> mit Verweis auf BVerfGE 129, 1 <20> m.w.N.). Das schließt nicht aus, dass der Gesetzgeber die Rechtskontrolle durch die Gerichte einschränkt. Ob dies der Fall ist, muss sich jedoch ausdrücklich aus dem Gesetz ergeben oder durch Auslegung hinreichend deutlich zu ermitteln sein. Demgegenüber kann es weder der Verwaltung noch den Gerichten überlassen werden, ohne gesetzliche Grundlage durch die Annahme behördlicher Letztentscheidungsrechte die Grenzen zwischen Gesetzesbindung und grundsätzlich umfassender Rechtskontrolle der Verwaltung zu verschieben. Andernfalls könnten diese „in eigener Sache“ die grundgesetzliche Rollenverteilung zwischen Exekutive und Judikative verändern. Nimmt ein Gericht ein behördliches Letztentscheidungsrecht an, das mangels gesetzlicher Grundlage nicht besteht, und unterlässt es deshalb die vollständige Prüfung der Behördenentscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit, steht dies nicht nur in Widerspruch zur Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG), sondern verletzt vor allem das Versprechen wirksamen Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 129, 1 <21 f.> m.w.N.).

Danach verletzt der Beschluss des Berufsgerichts vom 8. Juli 2021 die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

Wird eine Behördenentscheidung durch einen Amtsträger getroffen, bei dem die Besorgnis der Befangenheit nach § 21 Abs. 1 VwVfG <Bund> (hier in Verbindung mit § 1 Abs. 1 VwVfG <Rheinland-Pfalz>) anzunehmen ist, so stellt dies einen Verstoß gegen Verfahrensvorschriften dar und hat die formelle Rechtswidrigkeit der behördlichen Entscheidung zur Folge (vgl. zu Sachverständigen BVerwG, Beschluss des 9. Senats vom 18. Juni 2007 – 9 VR 13/06 -, Rn. 6; vgl. im Übrigen Schuler-Harms, in: Schoch/Schneider, VwVfG, § 21 Rn. 41 <Juli 2020>; Ziekow, VwVfG, 4. Aufl. 2020, § 21 Rn. 8). Das gilt auch dann, wenn die Behördenleitung eine nach § 21 Abs. 1 Satz 1 VwVfG erforderliche Anordnung an den Amtsträger, sich der Mitwirkung an dem Verfahren zu enthalten, nicht erlassen hat. Steht die Besorgnis der Befangenheit des Mitglieds eines Ausschusses im Sinne von § 88 VwVfG im Raum, so entscheidet gemäß § 21 Abs. 2 in Verbindung mit § 20 Abs. 4 Satz 2 VwVfG anstatt der Behördenleitung der Ausschuss über den Ausschluss des betroffenen Mitglieds. Dem Ausschuss steht bei seiner Entscheidung über den Ausschluss eines Mitglieds kein Beurteilungs- oder Ermessensspielraum zu; seine Entscheidung ist gerichtlich voll überprüfbar (vgl. Heßhaus, in: Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, 53. Ed., § 20 Rn. 50 <Okt. 2021>; Fehling, in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2021, § 20 VwVfG Rn. 56 m.w.N.).

Eine solche gerichtliche Überprüfung ist hier nicht erfolgt. Das Berufsgericht führt zu der geltend gemachten Besorgnis der Befangenheit des Präsidenten lediglich aus, der Vorstand der Landesärztekammer habe das Gesuch in seiner Sitzung am 4. November 2020 abgelehnt. Insoweit ist schon nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage das Berufsgericht diese Feststellung trifft, da sich Ausführungen dazu lediglich in dem – offenkundig von dem Präsidenten selbst verfassten – angegriffenen Bescheid vom 12. November 2020 finden, nicht aber in dem Protokoll der in Bezug genommenen Vorstandssitzung am 4. November 2020. Jedenfalls aber sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen schon deshalb nicht gewahrt, weil das Berufsgericht keine eigenständige Prüfung der etwaigen Besorgnis der Befangenheit des Präsidenten vorgenommen hat, sondern durch seine bloße Bezugnahme erkennbar von einem Letztentscheidungsrecht des Vorstands der Landesärztekammer als dem zuständigen Ausschuss ausgegangen ist. Auch Anhaltspunkte dafür, dass das Berufsgericht sich nach einer eigenständigen inhaltlichen Prüfung der geltend gemachten Besorgnis der Befangenheit einer etwaigen Begründung des Vorstands der Landesärztekammer habe anschließen wollen, fehlen.

Das Berufsgericht ist offenkundig auch nicht der Ansicht gewesen, eine Entscheidung über den Ausschluss des Präsidenten der Landesärztekammer habe aus anderen rechtlichen Gründen dahinstehen können. Zwar kommt es grundsätzlich in Betracht, dass der etwaige Verfahrensfehler, der in der Mitwirkung des Präsidenten liegen könnte, nach § 46 VwVfG unbeachtlich sein könnte. Diese Auffassung vertritt das Berufsgericht aber gerade nicht.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG.

Dem steht nicht entgegen, dass ein die Annahme der Verfassungsbeschwerde begründender besonders schwerer Nachteil dann nicht anzunehmen ist, wenn deutlich abzusehen ist, dass Beschwerdeführende auch im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg hätten (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Das trifft hier aber nicht zu.

Gemäß § 46 VwVfG wäre eine etwaige Besorgnis der Befangenheit eines mitentscheidenden Mitglieds als Verfahrensfehler dann unbeachtlich, wenn offensichtlich wäre, dass sie die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Im Sinne des § 46 VwVfG offensichtlich ohne Einfluss auf die Entscheidung ist ein formeller Fehler aber nur, wenn bei einer hypothetischen Betrachtung zweifelsfrei anzunehmen ist, dass ohne den Fehler dieselbe Entscheidung getroffen worden wäre (vgl. BVerwGE 142, 205 <210 f. Rn. 20>; OVG Münster, Beschluss vom 26. Mai 2014 – 19 B 203/14 -, Rn. 29). Liegt ein nach § 46 VwVfG zu beurteilender Verfahrensfehler in der Teilnahme einer aufgrund der Besorgnis der Befangenheit ausgeschlossenen Person an einer Ausschussentscheidung, so lässt sich anhand des konkreten Beratungsverlaufs und des Abstimmungsergebnisses feststellen, ob und welchen Einfluss die betroffene Person auf die Entscheidung gehabt hat (vgl. OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Mai 2014 – 19 B 203/14 -, Rn. 31).

Danach ist nicht hinreichend deutlich abzusehen, dass die Beschwerdeführerin auch im Falle einer Zurückverweisung an das Berufsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben wird. Trotz Einstimmigkeit der Entscheidung des Vorstands kann nicht in der gebotenen Deutlichkeit davon ausgegangen werden, dass das Berufsgericht seinerseits zweifelsfrei annehmen wird, dass der Vorstand auch ohne Mitentscheidung des Präsidenten der Landesärztekammer nach Art und Höhe dieselbe Entscheidung getroffen hätte. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil aus der Ergebnisniederschrift der Landesärztekammer über das persönliche Gespräch des Präsidenten mit der Beschwerdeführerin sowie dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Transkript des Gesprächs hervorgeht, dass er es war, der über den weiteren Fortgang des Verfahrens bestimmen sollte.