Gericht muss rechtzeitigen Fristverlängerungsantrag per beA zur Kenntnis nehmen

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. Mai 2023 zum Aktenzeichen 2 BvR 370/22 entschieden, dass eine amtsgerichtliche Übergehung eines Fristverlängerungsantrags wegen Verletzung rechtlichen Gehörs verfassungswidrig ist.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen ein klageabweisendes amtsgerichtliches Urteil und einen Beschluss über eine hiergegen erhobene Anhörungsrüge.

Die Beschwerdeführerin war 2020 zeitweise Mitglied des Unternehmens des Beklagten, eines Zusammenschlusses von Künstlerinnen und Künstlern, der musikalische Dienstleistungen anbietet.

Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 19. Oktober 2021 erhob die Beschwerdeführerin Teilklage auf Auszahlung von Beträgen, die der Beklagte im Rahmen eines – später stornierten – Gastspielvertrages vereinnahmt habe. Sie stellte sich auf den Standpunkt, die Anzahlungen stünden ihr und nicht dem Beklagten zu.

Der Beklagte trat der Forderung entgegen und erklärte, bei den von den Kunden geleisteten Anzahlungen handele es sich um eine Planungspauschale. Diese diene der Finanzierung der laufenden Ausgaben des Künstlerkollektivs; im Gegenzug verzichte man auf die Erhebung von Mitgliedsgebühren. Es bestehe eine „Zielvereinbarung“, die Grundlage für diese Praxis sei; zudem ergebe sich dies aus dem Gastspielvertrag selbst.

Das Amtsgericht leitete die Klageerwiderung mit Schreiben vom 1. Dezember 2021 weiter und setzte eine Frist zur Replik innerhalb von zwei Wochen. Das Schreiben ging am 6. Dezember 2021 bei dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin ein.

Mit Schreiben vom 20. Dezember 2021 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin Fristverlängerung. Aufgrund erheblicher Arbeitsüberlastung und urlaubsbedingter Ortsabwesenheit vom 6. bis 10. Dezember 2021 sei eine inhaltliche Rücksprache mit der Beschwerdeführerin nicht mehr rechtzeitig möglich. Das Schreiben wurde am 20. Dezember 2021 um 17:54 Uhr per besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) versandt.

Laut handschriftlichem Vermerk lag das Schreiben dem Richter zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht vor.

Mit Urteil vom 21. Dezember 2021 wies das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr die Klage ab. Aus dem Gastspielvertrag gehe hervor, dass die Planungspauschale in Höhe von 249 Euro nicht zugunsten der Beschwerdeführerin, sondern zugunsten des beklagten Kollektivs zu zahlen sei.

Das Urteil wurde der Geschäftsstelle am 21. Dezember 2021, 13:35 Uhr, übergeben und den Parteien aufgrund Verfügung vom selben Tag zugestellt.

Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 30. Dezember 2021 erhob die Beschwerdeführerin Anhörungsrüge. Das Urteil sei ohne vorherige Entscheidung über ihren Fristverlängerungsantrag ergangen. Wäre die Frist antragsgemäß verlängert worden, was im Falle der erstmaligen Verlängerung zu erwarten sei, zumal tragfähige Gründe anwaltlich versichert worden seien, so wäre das Bestehen einer Zielvereinbarung bestritten worden. Zudem wäre ausgeführt worden, warum der Beschwerdeführerin, die im Außenverhältnis allein das Risiko getragen habe, die Anzahlungen zustünden.

Mit Beschluss vom 20. Januar 2022 wies das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr die Anhörungsrüge als unbegründet zurück. Gegen Art. 103 Abs. 1 GG sei nicht in entscheidungserheblicher Weise verstoßen worden. Der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin hätte sein Fristverlängerungsgesuch früher stellen müssen. Er habe nicht erwarten können, dass nach Ablauf der üblichen Dienstzeiten noch über sein Gesuch entschieden werde und er habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass dem Antrag stattgegeben werden würde. Bei Abfassung des Urteils habe der Antrag noch nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nur bei plötzlicher und unvorhergesehener Arbeitsüberlastung gewährt werden.

Der Beschluss wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 28. Januar 2022 zugestellt.

Das Gericht überging den Fristverlängerungsantrag der Beschwerdeführerin und erließ sein den Rechtszug abschließendes Urteil, ohne darüber entschieden zu haben. Dies geht bereits aus den Gründen des Anhörungsrügebeschlusses hervor.

Die in dem Beschluss vom 20. Januar 2022 dargelegten Gründe rechtfertigen seine Vorgehensweise nicht.

Maßgebliche Vorschrift für die Verlängerung gerichtlich gesetzter Stellungnahmefristen ist § 224 Abs. 2 ZPO. Nach § 224 Abs. 2 ZPO können richterliche Fristen verlängert werden, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind. Es wird dabei als zulässig angesehen, auf eine eidesstattliche Versicherung zu verzichten und eine bloße anwaltliche Versicherung ausreichen zu lassen, insbesondere dann, wenn es sich um eine erstmalige Verlängerung handelt. Über einen Antrag auf Fristverlängerung kann nach § 225 Abs. 1 ZPO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.

Ein Antrag auf Fristverlängerung muss innerhalb der noch laufenden Frist bei Gericht eingegangen sein. Nicht erforderlich ist dagegen, dass über ihn noch während des Fristlaufs entschieden wird. Für den Eingang eines Schreibens bei Gericht ist nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet wird oder dass es der Geschäftsstelle übergeben wird, sondern allein, dass es in den Machtbereich des Gerichts gelangt.

Nach diesem Maßstab muss der Fristverlängerungsantrag als am 20. Dezember 2022, 17:54 Uhr, gestellt gelten, denn zu diesem Zeitpunkt gelangte das per beA übermittelte Schreiben in den Machtbereich des Gerichts. Soweit das Amtsgericht in seinem Beschluss über die Anhörungsrüge ausführte, der Fristverlängerungsantrag habe zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen, verfehlt es die prozessrechtlichen Anforderungen. Das Gericht hätte noch über den Antrag befinden müssen; Verzögerungen bei der Weiterleitung des Antrags innerhalb des Gerichts können nicht zu Lasten der Beschwerdeführerin gehen.

Das Amtsgericht konnte auch nicht verlangen, dass der Prozessbevollmächtigte seinen Fristverlängerungsantrag zu einem früheren Zeitpunkt hätte stellen müssen. Fristen dürfen einem gesicherten prozessrechtlichen Grundsatz zufolge, der seine Stütze im Verfassungsrecht findet, vollständig ausgeschöpft werden. Lediglich bei der Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax ist zu beachten, dass mit der Übermittlung so rechtzeitig begonnen wird, dass in der Regel mit einem rechtzeitigen Abschluss des Sendungsvorgangs gerechnet werden kann.

Zuletzt spielt auch keine Rolle, ob den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin Verschulden trifft, ob er damit rechnen durfte, dass seinem Antrag stattgegeben werden würde und wann er mit einer Entscheidung rechnen durfte. Da es hier nicht um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geht, sind diese Fragen unerheblich. Maßgeblich ist nach oben Dargestelltem allein, ob der Fristverlängerungsantrag rechtzeitig bei Gericht einging und ob ein erheblicher Grund dafür glaubhaft gemacht wurde. Von beidem ist hier auszugehen. Es ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen das Amtsgericht den erstmaligen Fristverlängerungsantrag wegen Arbeitsüberlastung und Ortsabwesenheit hätte ablehnen können.

Das Amtsgericht Mülheim an der Ruhr überging nicht nur den Fristverlängerungsantrag der Beschwerdeführerin, sondern schnitt ihr auf diesem Wege auch die Möglichkeit ab, zu dem Vorbringen der Beklagtenseite Stellung und damit Einfluss auf die gerichtliche Entscheidung zu nehmen. Dies war entscheidungserheblich.

Im Wesentlichen streiten die Beteiligten darum, ob dem Beklagten ein Rechtsgrund für die Vereinnahmung der als „Reservierungs- und Buchungspauschale“ bezeichneten Anzahlungen zustand oder ob es diese lediglich für die Künstlerinnen und Künstler – und mit der Bestimmung zur Weiterleitung – in Empfang nehmen sollte. Die Beklagtenseite trug hier das Bestehen diverser Vereinbarungen vor, die Beschwerdeführerin wünschte dies auf die Klageerwiderung hin zu bestreiten. Der durch das Vorgehen des Amtsgerichts abgeschnittene Vortrag hätte also von der Beklagtenseite eingeführte Tatsachen streitig gestellt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass daraufhin eine andere Entscheidung zu treffen gewesen wäre.