Haftbefehl kann verfassungswidrig sein

14. Januar 2021 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 17.12.2020 zum Aktenzeichen 2 BvR 1787/20 entschieden, dass ein Haftbefehl verfassungswidrig ist.

Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Bei der vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung hat der Richter stets im Auge zu behalten, dass es der vornehmliche Zweck und der eigentliche Rechtfertigungsgrund der Untersuchungshaft ist, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen; ist sie zu einem dieser Zwecke nicht mehr nötig, so ist es unverhältnismäßig und daher grundsätzlich unzulässig, sie anzuordnen, aufrechtzuerhalten oder zu vollziehen. Der Haftgrund der Fluchtgefahr dient diesem Zweck.

Dass die Gerichte auf diese Gesichtspunkte bei der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers und dem Interesse des Staates an der Verfahrenssicherung abgestellt haben, lässt sich den angegriffenen Beschlüssen nicht entnehmen. Der Hinweis darauf, dass es für den Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des Verschonungsbeschlusses völlig offen gewesen sei, „ob, wann und in welchem Umfang“ die Ermittlungen zu einem Tatnachweis führten, ist letztlich nur ein Verweis auf die mit der Anklageerhebung eingetretene Konkretisierung der Tatvorwürfe. Auch die äußerst knappe und unkonkrete Bezugnahme auf „massive und belastende“ Angaben anderweitig verfolgter Personen genügt den Anforderungen an die Begründungstiefe nicht, da sie ohne weitere Ausführungen nicht erkennen lässt, inwieweit das Gericht von einer erheblichen Steigerung des Fluchtanreizes ausgegangen ist.

Zwar kann das Wohlverhalten eines Beschuldigten während der Vollzugsaussetzung Ausdruck von Prozesstaktik sein und deshalb den Schluss auf eine verminderte Fluchtneigung relativieren. Die Annahme einer solchen Situation bedarf aber einer gründlichen Erörterung aller Besonderheiten des Einzelfalls, zu denen die lange Verfahrensdauer und die private und berufliche Lebensgestaltung eines Beschuldigten in diesem Zeitraum gehören. Dass die Gerichte diese – von dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof in seiner Stellungnahme zutreffend angeführten – Gesichtspunkte bedacht hätten, lässt sich den angegriffenen Entscheidungen aber nicht entnehmen. Sie lassen auch in diesem Punkt die notwendige Begründungstiefe vermissen.