Ingewahrsamnahme eines ausreisepflichtigen Ausländers ohne richterliche Anordnung

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. Februar 2022 zum Aktenzeichen 2 BvR 2247/19 entschieden, dass die Ingewahrsamnahme eines ausreisepflichtigen Ausländers ohne richterliche Anordnung verfassungswidrig ist.

Dem Beschwerdeführer ist die Freiheit entzogen worden, ohne dass die Freiheitsentziehung zuvor von einem Richter angeordnet worden ist. Zwar hatte die Ausländerbehörde die richterliche Anordnung der Freiheitsentziehung cirka zwei Stunden vor der Ingewahrsamnahme beantragt. Zu einer Entscheidung über diesen Antrag kam es vor der Ingewahrsamnahme aber nicht mehr.

Die Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers ohne richterliche Anordnung war hier nicht ausnahmsweise zulässig. Nach Maßgabe des Fachrechts ist eine behördliche Ingewahrsamnahme nach § 62 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nur dann zulässig, wenn die richterliche Entscheidung über die Anordnung von Sicherungshaft nicht vorher eingeholt werden konnte. Dabei ist den norminternen Direktiven von Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG Rechnung zu tragen. Ob eine vorherige richterliche Entscheidung eingeholt werden konnte, ist daher danach zu bestimmen, ob dadurch der Zweck gefährdet worden wäre, dem die Freiheitsentziehung zu dienen bestimmt ist. Das war hier nicht der Fall.

Die Ausländerbehörde beabsichtigte, den Beschwerdeführer in Sicherungshaft zu nehmen. Aus der gesetzlichen Regelung des § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ergibt sich, dass die Anordnung der Haft „zur Sicherung der Abschiebung“ erfolgt. Die Sicherung der Abschiebung ist danach der Zweck, dessen Gefährdung es erlauben kann, von einer vorherigen richterlichen Entscheidung abzusehen.

Weder das Amts- noch das Landgericht haben sich ausdrücklich mit der Frage befasst, ob dieser Zweck der Freiheitsentziehung durch eine vorherige richterliche Entscheidung gefährdet worden wäre. Das Amts- und das Landgericht stützen ihre ablehnenden Entscheidungen allerdings darauf, es sei „ungewiss“ gewesen, ob die Überstellung des Beschwerdeführers aus der Schweiz nach Deutschland auch tatsächlich stattfinden würde. Diese Ausführungen sind zwar einem konkreten Tatbestandsmerkmal oder Obersatz nicht zugeordnet. Bei verständiger Würdigung gehen die Fachgerichte aber davon aus, es habe sich hier um eine ungeplante Festnahme oder jedenfalls um eine solche Situation gehandelt, die mit der ungeplanten Festnahme vergleichbar sei.

Dass eine vorherige richterliche Haftanordnung in Fällen der ungeplanten Festnahme eines untergetauchten Betroffenen nicht erforderlich ist, ist fachrechtlich anerkannt. Gegen diese Rechtsauffassung bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken, solange das Untertauchen des Betroffenen mit Unklarheiten hinsichtlich des Vorliegens der Abschiebungs- oder Abschiebungshaftvoraussetzungen, insbesondere der Möglichkeit einer zeitnahen Abschiebung, einhergeht. Die Situation einer ungeplanten Festnahme stellt sich unter dieser Voraussetzung als eine solche Situation dar, bei der die Einholung einer richterlichen Haftanordnung vor der Festnahme den Zweck der Maßnahme – die Sicherung der Abschiebung – gefährden würde: Erst in diesem und für diesen Moment verdichtet sich die Erkenntnislage für die zuständige Behörde dahingehend, dass das Vorliegen der Abschiebungs- und Abschiebungshaftvoraussetzungen feststeht. Gleichzeitig kann die Behörde des Betroffenen typischerweise nur in diesem Moment habhaft werden. Der Umstand allein, dass eine Festnahme ungeplant erfolgt, rechtfertigt die Ingewahrsamnahme verfassungsrechtlich jedoch noch nicht. Vielmehr bleibt maßgeblich, ob der Zweck der Freiheitsentziehung durch die Einholung einer richterlichen Entscheidung gefährdet worden wäre.

Die Ausländerbehörde hätte eine Haftanordnung bereits deutlich vor dem 24. Juli 2018 erwirken können. Maßgeblich ist dabei die Situation, die sich bei einer frühzeitigen Stellung des Haftantrags ergeben hätte.

Die Erkenntnislage der Ausländerbehörde und ihre Festnahmeabsicht hatten sich hier bereits in der Zeit ab dem 11. Juli 2018 dahingehend verdichtet, dass der Beschwerdeführer nach der Überstellung festgenommen werden sollte. Am 11. Juli 2018 hatte das BAMF der Ausländerbehörde mitgeteilt, dass die Schweiz die Überstellung des Beschwerdeführers beabsichtige. Die Ausländerbehörde hatte im Anschluss an diese Mitteilung bereits organisatorische Anstrengungen unternommen, um nach erfolgter Überstellung des Beschwerdeführers die Abschiebung durchzuführen. So ergibt sich aus dem Haftantrag, dass die Ausländerbehörde mit anderen Behörden in Kontakt stand. Dort heißt es insbesondere, die Landesaufnahmebehörde habe bereits mitgeteilt, dass die marokkanischen Behörden die Identität des Beschwerdeführers bestätigt und die Ausstellung von Passersatzpapieren zugesichert hätten. Zudem habe das Landeskriminalamt bereits bestätigt, dass die begleitete Abschiebung am 12. September 2018 stattfinden könne. Auch ist dem Haftantrag nicht zu entnehmen, dass sich zwischen der Mitteilung der Überstellungsabsicht durch das BAMF am 11. Juli 2018 und dem 24. Juli 2018 an der Erkenntnislage der Ausländerbehörde über die tatsächliche Durchführung der Überstellung etwas geändert hätte.

Die Erkenntnislage der Ausländerbehörde und ihre Festnahmeabsicht waren auch nicht deswegen mit rechtlich relevanten Zweifeln behaftet, weil die Überstellung noch hätte scheitern können. Wenn eine richterliche Haftanordnung vor der Ingewahrsamnahme eines Betroffenen ergeht, ist vielmehr typischerweise unsicher, ob die Vollstreckung der Haftanordnung gelingen wird. Dies ändert aber nichts daran, dass die Ausländerbehörde hier eine nach Zeit und Ort konkret bestimmte Festnahmeabsicht verfolgt hat, bei der die vorherige Einholung einer richterlichen Entscheidung möglich war.

Es ergeben sich keine Anhaltpunkte dafür, dass eine vorherige richterliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung deren Zweck gefährdet hätte, wenn der Haftantrag rechtzeitig gestellt worden und eine richterliche Haftanordnung ergangen wäre. Daher lagen die Voraussetzungen von § 62 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht vor. Hätte die Ausländerbehörde bereits vor dem 24. Juli 2018 die Sicherungshaft beantragt und hätte das Amtsgericht daraufhin eine entsprechende Entscheidung getroffen, hätte der Beschwerdeführer ebenso nach seiner Ankunft in Deutschland festgenommen werden können, wie dies hier – allerdings ohne richterliche Entscheidung – geschehen ist. Gegen eine Zweckgefährdung spricht auch, dass dem Beschwerdeführer die Entscheidung über die Haftanordnung nicht vorab hätte mitgeteilt werden müssen, wenn dies den Zweck des Verfahrens gefährdet hätte, § 431 Satz 1 in Verbindung mit § 308 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 FamFG.

Dass rechtliche Hindernisse einer früheren Antragstellung entgegengestanden hätten, ist den fachgerichtlichen Entscheidungen nicht zu entnehmen. Selbst wenn die Haftvoraussetzungen nach Maßgabe des Fachrechts erst dann vorgelegen haben sollten, als die Überstellung auf deutsches Staatsgebiet erfolgt war, hätte dies eine frühere Entscheidung nicht erkennbar gehindert.

Bereits nach Auffassung der Ausländerbehörde selbst stand einer früheren richterlichen Haftanordnung nicht entgegen, dass es nicht möglich gewesen wäre, den Beschwerdeführer vor der Entscheidung anzuhören. So heißt es in dem Haftantrag, dass Eile geboten sei, da der Antragsgegner am 24. Juli 2018 aus der Schweiz überstellt werde. Für eine Festnahme sei daher „der vorherige Beschluss über die Sicherungshaft (…) erforderlich.“ Demnach hat die Ausländerbehörde am Morgen des 24. Juli 2018 eine richterliche Haftanordnung gerade (doch) noch vor der Ingewahrsamnahme angestrebt, wenngleich eine entsprechende Entscheidung nicht mehr ergangen ist.

Das Fachrecht sieht zudem in § 427 Abs. 2 FamFG die grundsätzliche Möglichkeit vor, die Haft bereits vor der persönlichen Anhörung anzuordnen. Auch der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs und das Bundesinnenministerium haben in ihren Stellungnahmen eine entsprechende Rechtsauffassung vertreten. Ob die Voraussetzungen dieser Vorschrift im vorliegenden Fall gegeben waren, haben indessen zunächst die Fachgerichte zu beurteilen. Dasselbe gilt für die Frage, auf welchen Zeitraum sich eine vorläufige Haftanordnung ohne vorherige persönliche Anhörung hätte beziehen dürfen.