Internationaler Familienschutz in Deutschland auch bei Flüchtlingsstatus in einem anderen EU-Mitgliedstaat

17. November 2020 -

Das Bundesverwaltungsgericht hat am 17.11.2020 zum Aktenzeichen 1 C 8.19 entschieden, dass die Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht die Zuerkennung internationalen Familienschutzes im Bundesgebiet hindert.

Aus der Pressemitteilung des BVerwG vom 17.11.2020 ergibt sich:

Dem Kläger, nach eigenen Angaben somalischer Staatsangehöriger, wurde in Italien internationaler Schutz zuerkannt. Hiernach reiste er in das Bundesgebiet ein, wo er einen weiteren Asylantrag stellte. Seinen drei minderjährigen Kindern, die nach ihm zusammen mit ihrer Großmutter nach Deutschland eingereist waren, wurde hier die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers unter Bezugnahme auf die Schutzgewährung in Italien als unzulässig ab.
Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hatte die gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegte Berufung der beklagten Bundesrepublik zurückgewiesen. Der Unzulässigkeitstatbestand des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG sei wegen des bestehenden Anspruchs des Klägers auf Gewährung internationalen Familienschutzes aus § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 AsylG nicht anwendbar.

Das BVerwG hat die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Nach Auffassung des BVerwG steht die Unzulässigkeit eines Asylantrages bei Schutzgewähr durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) einer (erneuten) Schutzgewährung wegen dem Ausländer selbst drohender Verfolgungs- oder anderer Gefahren entgegen. Sie hindere aber nicht die Zuerkennung des von einem schutzberechtigten Familienangehörigen abgeleiteten internationalen Familienschutzes nach § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 bis 3 AsylG.

Neben dem Ziel der Verfahrensvereinfachung diene § 26 AsylG dem Schutz der Familie und der Förderung der Integration der Familienangehörigen. Der deutsche Gesetzgeber habe die Vorgaben des Art. 23 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie (RL 2011/95/EU) bewusst überschießend durch die Einräumung eines Schutzstatus umgesetzt. Nach § 26 AsylG seien Familienangehörigen eines Schutzberechtigten nicht nur die in Art. 24 bis 35 RL 2011/95/EU genannten Leistungen, darunter die Erteilung eines Aufenthaltstitels, zu gewähren, sondern sei ihnen hierfür der asylrechtliche Status des Schutzberechtigten zuzuerkennen. Hiervon nehme § 26 AsylG Familienangehörige, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten hätten, unabhängig davon nicht aus, in welcher Reihenfolge die Familienmitglieder eingereist seien. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bezwecke zwar die Unterbindung unerwünschter Sekundärmigration; dieser könne aber im Falle der Weiterwanderung zum Zwecke der Wiederherstellung der Familieneinheit wegen der Rechte aus Art. 23 RL 2011/95/EU unionsrechtlich wirksam nicht begegnet werden. Ein Nichtgebrauchmachen von bestehenden Möglichkeiten der Familienzusammenführung im Zuständigkeitsbestimmungsverfahren (Dublin-Verfahren) (hier: Art. 9 Dublin III-VO) führe nach dem Unionsrecht nicht dazu, dass sich ein eigenmächtig weitergereistes Familienmitglied nicht mehr auf die Rechte aus Art. 23 RL 2011/95/EU berufen könnte. Die statusrechtliche Begünstigung des bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Schutzberechtigten stehe auch im Einklang mit Art. 3 RL 2011/95/EU, da seine Situation wegen des schutzwürdigen Interesses, den Familienverband zu wahren, grundsätzlich einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweise.