Jahressonderzahlung trotz langer Krankheit – was das Urteil des Arbeitsgerichts Würzburg bedeutet
Hintergrund: Tarifvertrag und Jahressonderzahlung in der Branche
In der Geld- und Werttransport-Branche existiert ein Manteltarifvertrag, der eine jährliche Sonderzahlung (vergleichbar mit Weihnachtsgeld) für langjährig Beschäftigte vorsieht. Die Höhe dieser Jahressonderzahlung richtet sich nach der Betriebszugehörigkeit: Nach 5 Jahren sind es 20%, nach 8 Jahren 30% und nach 10 Jahren 40% des tariflichen Monatsgrundlohns, jeweils ausgezahlt mit dem Oktobergehalt. Wichtig: Der Tarifvertrag stellt ausdrücklich klar, dass auch bei Krankheit ein Anspruch besteht – wörtlich heißt es: „Dies gilt auch dann, wenn für den Arbeitnehmer z. B. wegen Erkrankung kein tatsächlicher Lohnanspruch bestand.“. Mit anderen Worten: Selbst wenn derdie Arbeitnehmerin im Oktober keine Arbeitsleistung erbracht hat und deshalb keinen Lohn erhielt (z. B. wegen längerer Krankheit), soll die Jahressonderzahlung in voller Höhe berechnet und gezahlt werden. Diese tarifliche Regelung zeigt, dass die Sonderzahlung hier als echte Zusatzleistung und Treueprämie gedacht ist – nicht bloß als anteilige Vergütung für geleistete Arbeit.
Der Fall: Krankheit und einbehaltene Sonderzahlung
Vor dem Arbeitsgericht Würzburg wurde im April 2023 über genau so einen Fall verhandelt. Ein langjähriger Mitarbeiter eines Werttransportunternehmens war seit Januar 2022 langfristig erkrankt und arbeitsunfähig. Bis einschließlich Oktober 2022 bezog er kein reguläres Gehalt mehr vom Arbeitgeber – nach Auslaufen der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber erhielt er Krankengeld von der Krankenkasse. Trotz der oben genannten Tarifregelung verweigerte der Arbeitgeber dem Mitarbeiter die Jahressonderzahlung für 2022 in Höhe von über 1.000 €. Der Arbeitgeber war der Ansicht, ein Anspruch auf die Sonderzahlung bestehe nur, wenn auch ein Entgeltanspruch im Oktober vorliege – da der Mitarbeiter im Oktober kein Arbeitsentgelt und nur Krankengeld erhielt, solle auch kein Bonus gezahlt werden. Außerdem argumentierte die Firma, die Tarifregelung in Bayern („Dies gilt auch dann, wenn…“) sei lediglich eine Klarstellung und ändere nichts daran, dass die Sonderzahlung an tatsächliche Arbeitsleistung gekoppelt sei.
Der Arbeitnehmer sah dies anders. Mit Unterstützung der Gewerkschaft ver.di und des DGB Rechtsschutz machte er seinen Anspruch geltend und klagte vor dem Arbeitsgericht Würzburg auf Auszahlung der Jahressonderzahlung. Es ging um einen Betrag von etwa einem Monatsgrundlohnanteil, hier über eintausend Euro, der dem Arbeitnehmer trotz Krankheit zustehen sollte.
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Würzburg
Das Arbeitsgericht Würzburg gab dem Arbeitnehmer vollumfänglich Recht. Die Richter*innen stellten bei der Auslegung des Tarifvertrags fest, dass es sich bei der jährlichen Sonderzahlung nicht um eine zusätzliche Vergütung für tatsächlich geleistete Arbeit handelt, sondern um eine Prämie für Betriebstreue und den fortbestehenden Bestand des Arbeitsverhältnisses. Entscheidend war also die ungekündigte Betriebszugehörigkeit und nicht die Arbeitsleistung im Kalenderjahr. Folglich ist die Jahressonderzahlung kein gewöhnlicher Lohnbestandteil, der automatisch entfällt, wenn zeitweise kein Gehalt gezahlt wurde. Im Klartext: Die Sonderzahlung „teile nicht das Schicksal des Entgeltanspruchs“ – sie muss auch gezahlt werden, wenn im betreffenden Jahr (oder Monat) zeitweise kein Lohnanspruch bestand. Der letzte Satz der Tarifregelung für Bayern (zur Krankheit) bestätige genau dies ausdrücklich.
Das Gericht wies die Argumentation des Arbeitgebers als unüberzeugend zurück. Insbesondere ergebe sich aus dem Gesamtzusammenhang des Tarifvertrags, dass die Jahressonderzahlung eine echte Zusatzleistung ist und gerade nicht an konkrete Arbeitsleistung gekoppelt wurde. Die Konstruktion als Stichtagsregelung (Auszahlung mit Oktoberlohn; Voraussetzung ungekündigtes Arbeitsverhältnis am 31.10.) spricht dafür, dass vergangene und zukünftige Betriebstreue honoriert werden sollen. Solche Treueprämien werden üblicherweise gezahlt, wenn das Arbeitsverhältnis am Stichtag besteht, und müssen nicht zurückgezahlt werden, solange ein gewisser Bindungszeitraum überdauert wird. Genau so eine Prämie liegt hier vor. Die Zahlung hängt nur am Bestand des Arbeitsverhältnisses und einer bestimmten Dauer der Betriebszugehörigkeit – nicht daran, ob im Oktober gearbeitet wurde.
Zudem hoben die Richter hervor, dass die gegenteilige Handhabung des Arbeitgebers zu sachfremden Ungleichbehandlungen führen würde. Alle tarifgebundenen Beschäftigten sind gleich zu behandeln. Die Auslegung des Arbeitgebers hätte aber dazu geführt, dass z. B. eine Mitarbeiterin, der*die kurz vor dem Stichtag erkrankt, leer ausgeht, während andere trotz ähnlich langer Abwesenheit (nur vielleicht in einem anderen Monat) die Prämie erhalten hätten. Ein derart willkürliches Ergebnis widerspricht dem Gleichbehandlungsgrundsatz im Tarifvertrag. Deshalb – und weil der Tarifwortlaut es hergibt – entschied das Gericht, dass die Sonderzahlung auch bei längerer Krankheit gezahlt werden muss.
Der Arbeitgeber wurde folglich verurteilt, dem Kläger die Jahressonderzahlung für 2022 auszuzahlen. Hinweis: Das Urteil vom 28.04.2023 (Az. 6 Ca 61/23) ist noch nicht rechtskräftig – das Gericht ließ die Berufung zum Landesarbeitsgericht Nürnberg zu. Die Berufung wurde zugelassen, weil es um die Auslegung eines Tarifvertrags mit Wirkung über den Bezirk des Arbeitsgerichts hinaus geht (gesetzlicher Zulassungsgrund). Ob der Arbeitgeber Rechtsmittel eingelegt hat und wie eine nächste Instanz entscheidet, bleibt abzuwarten. Doch bereits diese erstinstanzliche Entscheidung setzt ein deutliches Signal.
Bedeutung für Arbeitnehmer*innen
Für Arbeitnehmer*innen ist dieses Urteil ermutigend. Es zeigt: Auch bei langer Krankheit muss eine vertraglich oder tariflich zugesagte Sonderzahlung nicht verloren gehen, sofern sie nicht ausdrücklich an die tatsächliche Arbeitsleistung gekoppelt ist. Entscheidend ist der genaue Wortlaut im Arbeits- oder Tarifvertrag. Ist dort festgelegt, dass es sich bei einer jährlichen Sonderzahlung um eine Zusatzleistung unabhängig von der Arbeitsleistung handelt – etwa als Treuebonus für eine bestimmte Betriebszugehörigkeit oder als allgemeines Weihnachtsgeld –, dann besteht trotz Krankheitszeiten ein Anspruch auf die volle Zahlung. Längere Arbeitsunfähigkeit allein ist kein Grund, auf Jahressonderzahlung zu verzichten, solange man die im Vertrag genannten Voraussetzungen (z. B. Betriebszugehörigkeitsdauer, Stichtag im Unternehmen etc.) erfüllt.
Arbeitnehmerinnen sollten daher ihren Arbeitsvertrag oder geltende Tarifverträge sorgfältig prüfen, wenn ihnen im Krankheitsfall Sonderzahlungen vorenthalten werden. Fehlt eine Klausel, die ausdrücklich eine Kürzung oder Streichung der Sonderzahlung bei Fehlen von Arbeitsleistung erlaubt, spricht vieles dafür, dass der Anspruch weiterbesteht. Pauschale Vorbehalte oder Freiwilligkeitsvorbehalte des Arbeitgebers müssen wirksam vereinbart sein und dürfen nicht gegen höherrangiges Recht oder Tarifrecht verstoßen. Im Zweifel – wie in diesem Fall – lohnt es sich, den Anspruch gerichtlich durchzusetzen. Tatsächlich hat auch das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit entschieden, dass selbst ein ganzjährig erkrankter Arbeitnehmer Weihnachtsgeld bekommen kann, wenn der Arbeitgeber die Sonderzahlung nicht einseitig kürzen durfte. Tipp: Dokumentieren Sie die bisherigen Zahlungen und eventuelle Regelungen. Bei Unsicherheit ziehen Sie einen Fachanwält*in für Arbeitsrecht hinzu, bevor Sie Ansprüche verfallen lassen.
Hinweise für Arbeitgeber
Auch für Arbeitgeber enthält dieses Urteil eine wichtige Lehre: Sonderzahlungen sollten nur dann verweigert oder gekürzt werden, wenn dies rechtlich eindeutig zulässig ist. Arbeitgeber sollten genau die vertraglichen Grundlagen kennen, bevor sie z.B. Weihnachtsgeld bei längerer Krankheit einbehalten. Wenn die Sonderzahlung – wie im vorliegenden Fall – erkennbar eine Treueprämie für die Betriebszugehörigkeit ist, darf sie nicht einfach wegen fehlender Arbeitsleistung im Auszahlungszeitraum gestrichen werden. Andernfalls riskiert man nicht nur Rechtsstreitigkeiten und Nachzahlungspflichten, sondern auch die Motivation der Belegschaft.
Es empfiehlt sich, Sonderzahlungsregelungen klar und fair zu gestalten. Ist beabsichtigt, dass z. B. Weihnachtsgeld als zusätzliches Entgelt für geleistete Arbeit dienen soll, muss das transparent vereinbart werden. In solchen Fällen kann eine anteilige Kürzung bei längerer Abwesenheit rechtmäßig sein – etwa durch Pro-rata-Regelungen oder Klauseln, die den Bonus an tatsächlich geleistete Arbeit koppeln. Allerdings müssen solche Klauseln eindeutig formuliert und mit geltendem Recht vereinbar sein (insbesondere dürfen sie Tarifverträge nicht unterlaufen und keine unzulässige Benachteiligung darstellen). Arbeitgeber in tarifgebundenen Branchen sind an die tariflichen Vorgaben gebunden – individuelle Abweichungen sind dann meist unwirksam.
Gerade im Lichte des Würzburger Urteils sollte ein Arbeitgeber im Zweifel zugunsten desder Arbeitnehmerin entscheiden oder rechtlichen Rat einholen, bevor er Sonderzahlungen einbehält. Die Gleichbehandlung aller Mitarbeitenden ist zu wahren. Unterschiedliche Behandlung von Krankheitsfällen – wie sie die Arbeitgeberseite im Prozess praktisch vorgeschlagen hatte – kann als willkürlich und tarifwidrig bewertet werden. Im Endeffekt vermeiden klare, rechtssichere Regelungen und eine vorausschauende Personalpolitik teure Prozesse und erhalten den Betriebsfrieden.
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Würzburg vom 28.04.2023 macht deutlich, dass der Zweck einer Sonderzahlung über ihren Ausfall bei Krankheit entscheidet. Ist die Jahressonderzahlung als Treue- oder Bindungsprämie ausgestaltet, bleibt der Anspruch auch bei langer Krankheit bestehen. Arbeitnehmer*innen sollten ihre Verträge kennen und Ansprüche notfalls durchsetzen, wenn Arbeitgeber Zahlungen zu Unrecht verweigern. Arbeitgeber wiederum sind gut beraten, Tarif- und Vertragsklauseln genau einzuhalten und Sonderzahlungen nur dann zu kürzen, wenn eine rechtskonforme Regelung dies erlaubt. Dieses Urteil stärkt die Rechte von Beschäftigten und schafft Klarheit: Krankheit allein rechtfertigt nicht den Wegfall eines vereinbarten Jahresbonus, sofern Loyalität und Betriebszugehörigkeit die Grundlage der Sonderzahlung sind. Der Fall unterstreicht damit, wie wichtig transparente Regelungen und fairer Umgang mit Sonderleistungen im Arbeitsverhältnis sind – im Interesse beider Seiten.