Jobcenter-Leistungen für Prostituierte, die ihr Gewerbe selbst aufgegeben hat – Fortführung der Tätigkeit objektiv unzumutbar

Das Sozialgericht Berlin hat mit Urteil vom 15. Juni 2022 zum Aktenzeichen S 134 AS 8396/20 entschieden, dass das Erbringen sexueller Dienstleistungen als selbständige Tätigkeit ein EU-Aufenthaltsrecht in Deutschland vermitteln kann. Es berührt jedoch in besonderer Weise die Intimsphäre und damit die Menschenwürde der Prostituierten und ist grundsätzlich unzumutbar. Das Aufgeben der Prostitution stellt deshalb keine freiwillige, selbstverschuldete Beendigung der Erwerbstätigkeit im Sinne der Vorschriften zum EU-Freizügigkeitsrecht dar. Die 32jährige bulgarische Klägerin behält aus diesem Grunde ihr Aufenthaltsrecht als ehemalige Selbständige, obwohl sie ihre Tätigkeit bewusst aufgegeben hat. Sie hat damit weiterhin Zugang zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende („Hartz IV“).

Aus der Pressemitteilung des SG Berlin vom 19.07.2022 ergibt sich:

Zum Hintergrund:

Bürgerinnen und Bürger aus der Europäischen Union dürfen sich zwar zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Sie sind jedoch von Jobcenter-Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht nur auf diese Arbeitsuche stützt.

Wer hingegen als Arbeitnehmer oder Selbständiger aufenthaltsberechtigt ist, kann aufstockend Leistungen beziehen. Das Aufenthaltsrecht besteht auch nach Beendigung der Tätigkeit fort, sofern die Arbeitslosigkeit unfreiwillig eingetreten ist bzw. die Beendigung der selbständigen Tätigkeit auf Umständen beruht, die die selbständige Person nicht maßgeblich beeinflussen kann und die es ihr unmöglich oder unzumutbar machen, die Tätigkeit fortzuführen.

Vor diesem Hintergrund kommt es vor den Sozialgerichten immer wieder zum Streit zwischen Jobcentern und Personen aus der EU um Umfang und Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen und selbständigen Tätigkeiten und um die Umstände, die zu deren Ende geführt haben.

Zum Fall:

Die 1990 geborene bulgarische Klägerin kam 2014 nach Berlin und war hier steuerlich gemeldet auf dem Straßenstrich als selbständige Prostituierte tätig. Im Juli 2019 gab sie die Tätigkeit auf, da sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war und die Tätigkeit für sich als nicht mehr zumutbar empfand. Bis September 2020 bezog sie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom beklagten Jobcenter Berlin Lichtenberg. Eine Weiterbewilligung lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, die Klägerin habe nur noch ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche und sei deshalb vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Es fehle insbesondere an einer unfreiwilligen Arbeitsaufgabe, da sie sich bewusst und freiwillig entschieden habe, sich beruflich neu zu orientieren. Hiergegen hat die Klägerin im November 2020 Klage erhoben.

Mit Urteil vom 15. Juni 2022 hat die 134. Kammer des Sozialgerichts Berlin (in der Besetzung mit einem Berufsrichter und zwei ehrenamtlichen Richterinnen) den Beklagten verurteilt, der Klägerin und ihren beiden 2008 und 2020 geborenen Kindern für Oktober 2020 bis Mai 2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren.

Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt: Als EU-Bürgerin habe die Klägerin durch ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierte ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erworben. Dieses habe auch nach Beendigung der Tätigkeit fortbestanden, da diese unfreiwillig erfolgt sei. Es könne objektiv keinem Menschen zugemutet werden, sich unter den von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geschilderten Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren. Doch auch generell sei die willentliche Beendigung der Prostitution keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit. Das Erbringen sexueller Dienstleistungen berühre die Intimsphäre und die Menschenwürde der betroffenen Person in besonderer Weise. Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folge, dass Prostitution als unzumutbar anzusehen sei und von der betroffenen Person nicht ausgeübt werden müsse, um die Hilfebedürftigkeit zu verringern. Beende ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution, weil er die Tätigkeit als nicht zumutbar empfindet, beruhe die Aufgabe der Tätigkeit auf der Unzumutbarkeit der Prostitution an sich und damit auf Umständen, die er nicht zu vertreten habe.

Dem lasse sich nicht entgegenhalten, dass die betreffende Person die Arbeit zuvor ausgeübt habe. Eine objektiv zumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen kann, werde nicht deshalb zumutbar, weil die Person sie zeitweise ertragen hat.

Wegen des fortwirkenden Aufenthaltsrechts aus ihrer ehemaligen selbständigen Tätigkeit hat die Klägerin nicht nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche. Sie und ihre Kinder sind deshalb auch nicht von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ausgeschlossen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es kann vom Beklagten mit der Berufung zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg angefochten werden.