Kann der Arbeitgeber einem schwerbehinderten Arbeitnehmer kündigen?

17. November 2025 -

Kurz gesagt: Ja, aber nur unter strengen Voraussetzungen. Schwerbehinderte Menschen genießen in Deutschland besonderen Kündigungsschutz, der über den allgemeinen Kündigungsschutz hinausgeht. Arbeitgeber dürfen ein Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Mitarbeiter beenden, müssen dabei jedoch zahlreiche gesetzliche Vorgaben beachten. Nachfolgend ein Überblick über die wichtigsten Punkte, die sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer kennen sollten.

Allgemeiner Kündigungsschutz: Grundsätze nach KSchG

Zunächst gelten für alle Arbeitnehmer – auch für schwerbehinderte – die Regeln des allgemeinen Kündigungsschutzes. Das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) schreibt vor, dass eine Kündigung sozial gerechtfertigt sein muss, sofern das Arbeitsverhältnis länger als 6 Monate besteht und der Betrieb regelmäßig mehr als 10 Arbeitnehmer beschäftigt. Eine sozial gerechtfertigte Kündigung liegt nur vor, wenn sie durch dringende betriebliche Gründe, personenbedingte Gründe (z. B. dauerhafte Leistungsunfähigkeit) oder verhaltensbedingte Gründe des Arbeitnehmers bedingt ist (§ 1 Abs. 2 KSchG). Fehlt ein solcher Kündigungsgrund, ist die Kündigung rechtsunwirksam.

Wartezeit: In den ersten sechs Monaten eines Arbeitsverhältnisses (sowie in Kleinbetrieben mit 10 oder weniger Beschäftigten) greift das KSchG nicht. In dieser Wartezeit kann der Arbeitgeber prinzipiell ohne Angabe von Gründen kündigen. Aber Achtung: Auch während der Wartezeit dürfen schwerbehinderte Beschäftigte nicht diskriminiert werden. Eine Kündigung wegen der Behinderung ist unzulässig und nach § 164 Abs. 2 SGB IX i. V. m. § 134 BGB nichtig. So hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass eine Kündigung, die gegen das Diskriminierungsverbot verstößt, unwirksam ist (BAG, Urt. v. 26.03.2015 – 2 AZR 237/14). Arbeitgeber dürfen also keinen Mitarbeiter allein deshalb entlassen, weil er schwerbehindert ist.

Besonderer Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen

Neben dem allgemeinen Kündigungsschutz gilt für Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung ein besonderer Kündigungsschutz nach dem Sozialgesetzbuch IX (SGB IX). Als schwerbehindert im Sinne des Gesetzes gelten Arbeitnehmer mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50. Ebenso geschützt sind gleichgestellte Personen mit einem GdB von mindestens 30, sofern sie von der Agentur für Arbeit einem Schwerbehinderten gleichgestellt wurden.

Zustimmung des Integrationsamts (§ 168 SGB IX)

Kernstück des besonderen Kündigungsschutzes ist das Erfordernis der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. § 168 SGB IX bestimmt unmissverständlich: „Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes.“. Ohne diese behördliche Zustimmung ist eine Kündigung unwirksam – der Verstoß gegen das Zustimmungserfordernis führt zur Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BG. Das Integrationsamt (mancherorts Inklusionsamt genannt) prüft im Rahmen eines speziellen Verfahrens, ob der Kündigung zugestimmt wird oder nicht. Erst nach Erteilung der Zustimmung darf der Arbeitgeber die Kündigung aussprechen. Eine nachträgliche Genehmigung ist ausgeschlossen – liegt bei Zugang des Kündigungsschreibens keine Zustimmung vor, kann sie nicht mehr „geheilt“ werden; der Arbeitgeber müsste das ganze Verfahren nachholen und eine neue Kündigung aussprechen.

6-Monatsfrist: Dieser besondere Schutz greift – wie auch der allgemeine Kündigungsschutz – erst nach sechs Monaten Betriebszugehörigkeit. Kündigt der Arbeitgeber innerhalb der ersten 6 Monate, ist keine Zustimmung des Integrationsamts erforderlich (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Weitere Ausnahmen: Keine Zustimmung benötigt der Arbeitgeber beispielsweise, wenn der schwerbehinderte Mitarbeiter das 58. Lebensjahr vollendet hat und aufgrund eines Sozialplans eine Abfindung erhält (Voraussetzung: rechtzeitige Mitteilung der Kündigungsabsicht und kein Widerspruch des Arbeitnehmers, § 173 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX). Ebenfalls ausgenommen sind Entlassungen aus Witterungsgründen mit garantierter Wiedereinstellung sowie Fälle, in denen zum Kündigungszeitpunkt die Schwerbehinderteneigenschaft nicht nachgewiesen ist (etwa weil das Versorgungsamt noch keinen Bescheid erteilen konnte, § 173 Abs. 3 SGB IX).

Hinweis: Maßgeblich ist stets, ob der Schwerbehindertenstatus im Zeitpunkt des Kündigungszugangs anerkannt oder zumindest beantragt ist. Hat der Arbeitnehmer vor Erhalt der Kündigung bereits einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung gestellt (mindestens drei Wochen vorher), und wird ihm der Status später rückwirkend zuerkannt, genießt er Rückwirkend Kündigungsschutz. In besonderen Ausnahmefällen kann sogar eine offenkundige Schwerbehinderung ohne offiziellen Bescheid genügen, um das Zustimmungsverfahren erforderlich zu machen – z. B. wenn für jedermann erkennbar ist, dass der Betroffene einen GdB von mindestens 50 hat.

Zustimmungsverfahren durch das Integrationsamt (§§ 168–174 SGB IX)

Das Zustimmungsverfahren beim Integrationsamt ist ein zusätzliches vorgeschaltetes Verfahren vor der eigentlichen Kündigung. Es soll sicherstellen, dass jede Kündigung gründlich auf ihre Auswirkungen für den schwerbehinderten Menschen geprüft wird. Das Verfahren läuft im Wesentlichen wie folgt ab:

  • Antrag des Arbeitgebers: Der Arbeitgeber muss schriftlich oder elektronisch einen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung beim zuständigen Integrationsamt stellen (§ 170 Abs. 1 SGB IX). Dieser Antrag soll die Gründe für die geplante Kündigung darlegen. Bei einer außerordentlichen (fristlosen) Kündigung ist Eile geboten – hier muss der Antrag innerhalb von 2 Wochen nach Kenntnis des Kündigungsgrundes gestellt werden (§ 174 Abs. 2 SGB IX).
  • Beteiligung und Anhörung: Das Integrationsamt führt ein Ermittlungsverfahren durch. Es holt Stellungnahmen beim Betriebs- oder Personalrat und bei der Schwerbehindertenvertretung ein und hört den schwerbehinderten Arbeitnehmer an (§ 170 Abs. 2 SGB IX). Zudem soll das Amt jederzeit auf eine gütliche Einigung hinwirken (§ 170 Abs. 3 SGB IX) – oft wird versucht, alternativen Lösungen den Vorzug vor einer Kündigung zu geben (z. B. Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz).
  • Prüfungskriterien: Das Integrationsamt überprüft insbesondere, ob die Kündigung im Zusammenhang mit der Behinderung steht und ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung des Betroffenen (ggf. zu geänderten Bedingungen) zumutbar wäre. Bei einer betriebsbedingten Kündigung zum Beispiel wird geprüft, ob eine Weiterbeschäftigung ggf. nach zumutbarer Umschulung möglich ist. Bei verhaltensbedingter Kündigung schaut man, ob die Pflichtverletzung aus der Behinderung resultiert und wie der Arbeitgeber zukünftige Fehltritte verhindern könnte. Insbesondere bei personenbedingten Kündigungen (z. B. häufige Krankheit) betrachtet das Amt Alternativen – etwa die Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz – und bezieht auch ein, ob der Arbeitgeber ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) durchgeführt hat. Wichtig zu verstehen: Das Integrationsamt ersetzt nicht die arbeitsgerichtliche Prüfung nach dem KSchG, sondern trifft eine eigenständige Ermessensentscheidung aus Sicht des Schwerbehindertenschutzes.
  • Entscheidung und Fristen: Bei ordentlichen Kündigungen soll das Integrationsamt innerhalb eines Monats nach Antragseingang seine Entscheidung treffen (§ 171 Abs. 1 SGB IX). Bei fristlosen Kündigungen muss die Entscheidung innerhalb von 2 Wochen erfolgen (§ 174 Abs. 3 SGB IX). Wird diese Frist überschritten, gilt die Zustimmung jeweils als erteilt (gesetzliche Genehmigungsfiktion). Die Entscheidung ergeht schriftlich und wird sowohl dem Arbeitgeber als auch dem Arbeitnehmer zugestellt (§ 171 Abs. 2 SGB IX).
  • Kündigungsausspruch nach Zustimmung: Liegt die Zustimmung des Integrationsamts vor, muss der Arbeitgeber innerhalb von 1 Monat nach Zustellung der Zustimmungserklärung die Kündigung aussprechen (§ 171 Abs. 3 SGB IX). Die Kündigungserklärung (das Kündigungsschreiben) muss dem Arbeitnehmer also spätestens einen Monat nach Erteilung der behördlichen Zustimmung zugehen, sonst verfällt die Zustimmung und der Prozess müsste von vorn beginnen. Bei außerordentlicher Kündigung ist die Kündigung unverzüglich nach Erhalt der Zustimmung auszusprechen (§ 174 Abs. 5 SGB IX)
  • Rechtsmittel: Gegen den Bescheid des Integrationsamts können zwar Widerspruch und Anfechtungsklage (vor den Verwaltungsgerichten) eingelegt werden. Allerdings haben solche Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung (§ 171 Abs. 4 SGB IX). Das bedeutet, der Arbeitgeber darf – und muss, will er die Frist wahren – die Kündigung trotz laufenden Widerspruchsverfahren zunächst aussprechen. Stimmt das Integrationsamt nicht zu, kann der Arbeitgeber keine Kündigung aussprechen; ihm bleibt dann nur, ggf. gegen die Versagung vorzugehen.

Folge bei Missachtung: Kündigt der Arbeitgeber ohne erforderliche Zustimmung, ist die Kündigung nichtig und unwirksam. Eine solche Kündigung kann nicht nachträglich genehmigt werden. Der Arbeitgeber müsste erneut (mit Zustimmung) kündigen, sofern die Voraussetzungen dann noch vorliegen.

Erhöhte Anforderungen an die Wirksamkeit der Kündigung

Ist die behördliche Zustimmung eingeholt, sind die Hürden aber noch nicht überwunden. Zusätzlich müssen bei einer Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer weitere Form- und Verfahrensvorschriften beachtet werden, die über das normale Maß hinausgehen. Diese erhöhten Anforderungen dienen dem besonderen Schutz der Betroffenen:

  • Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung: Existiert im Betrieb eine Schwerbehindertenvertretung (SBV), so muss diese vor Ausspruch der Kündigung gehört werden. Der Arbeitgeber ist gesetzlich verpflichtet, die SBV in alle Angelegenheiten einzubeziehen, die einen Schwerbehinderten betreffen – insbesondere unverzüglich und umfassend zu unterrichten, anzuhören und ihr die Entscheidung mitzuteilen (§ 178 Abs. 2 SGB IX). Seit 2016 ist ausdrücklich geregelt: Eine Kündigung, die ohne ordnungsgemäße Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung erfolgt, ist unwirksam (§ 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX). Das BAG hat dies bestätigt und klargestellt, dass die Anhörung der SBV bei jeder Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen erfolgen muss – auch während der ersten 6 Monate und selbst wenn die Kündigungsgründe nicht behinderungsbedingt sind (BAG, Urt. v. 13.12.2018 – 2 AZR 378/18). Wichtig ist lediglich, dass die SBV vor der endgültigen Kündigungserklärung angehört wurde. Inhaltlich und zeitlich gelten ähnliche Maßstäbe wie bei der Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG – die SBV ist über den Kündigungsgrund, den Behinderungsgrad und die sozialen Daten zu informieren und hat in der Regel eine Woche Zeit für eine Stellungnahme (analog § 102 Abs. 2 BetrVG). Versäumt der Arbeitgeber diese Anhörung, ist die Kündigung „unheilbar nichtig“.
  • Anhörung des Betriebsrats: Neben der SBV ist selbstverständlich – wie bei jeder Kündigung – auch der Betriebsrat (sofern vorhanden) vorher anzuhören (§ 102 BetrVG). Dies ist zwar kein spezielles Schwerbehindertenschutz-Thema, aber eine formale Voraussetzung jeder Kündigung. Eine ohne Betriebsratsanhörung ausgesprochene Kündigung ist ebenso unwirksam.
  • Kündigungsfrist: Für ordentliche Kündigungen schwerbehinderter Menschen gilt gesetzlich eine Mindestkündigungsfrist von 4 Wochen (§ 169 SGB IX). Das bedeutet, selbst wenn ansonsten (z. B. im Arbeitsvertrag oder Tarifvertrag) eine kürzere Kündigungsfrist zulässig wäre, muss der Arbeitgeber hier mindestens 4 Wochen einhalten. In vielen Fällen greifen jedoch ohnehin längere vertragliche oder gesetzliche Kündigungsfristen (etwa nach BGB §622 je nach Betriebszugehörigkeit). Für außerordentliche (fristlose) Kündigungen gilt keine besondere Frist – diese sind bei Vorliegen eines wichtigen Grundes unverzüglich auszusprechen, wie allgemein üblich (vgl. § 174 Abs. 5 SGB IX).
  • Strenger Maßstab der Verhältnismäßigkeit: Eine Kündigung soll ultima ratio sein, also das letzte Mittel, nachdem alle milderen Optionen ausgeschöpft sind. Bei schwerbehinderten Arbeitnehmern wird dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders betont. Der Arbeitgeber muss vor einer Kündigung prüfen, ob es nicht alternative Beschäftigungsmöglichkeiten gibt – zum Beispiel einen anderen freien Arbeitsplatz im Betrieb, auf dem der Mitarbeiter (ggf. mit Anpassungen) weiterbeschäftigt werden kann. Das Integrationsamt wird eine Kündigung nicht genehmigen, wenn eine Umsetzung oder Weiterbeschäftigung auf einem anderen zumutbaren Arbeitsplatz des Unternehmens möglich ist und der Arbeitnehmer dem zustimmt. Auch die Gerichte erwarten vom Arbeitgeber diesen ernsthaften Suchprozess nach einem leidensgerechten Arbeitsplatz. Nach § 164 SGB IX hat ein schwerbehinderter Arbeitnehmer sogar einen Rechtsanspruch auf eine behinderungsgerechte Beschäftigung, sofern dies für den Arbeitgeber zumutbar ist. Konkret heißt das: Kann der Arbeitnehmer seine bisherige Tätigkeit wegen der Behinderung nicht mehr voll erfüllen, muss der Arbeitgeber prüfen und ermöglichen, ob durch technische Hilfsmittel, Anpassung der Arbeitsorganisation oder Änderung der Arbeitsaufgaben eine Weiterbeschäftigung möglich ist. Denkbar sind z. B. ergonomische Arbeitsplatzanpassungen, Umverteilung von nicht leistbaren Aufgaben, Versetzung in eine andere Abteilung oder Umsetzung in eine Teilzeitstelle. Nur wenn all diese Maßnahmen nicht greifen oder unzumutbar sind, darf die Kündigung als letzte Konsequenz in Betracht gezogen werden.
  • Betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM): Ein zentrales Instrument, um den Arbeitsplatz zu erhalten, ist das betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) nach § 167 Abs. 2 SGB IX (früher § 84 Abs. 2 SGB IX). Dieses Verfahren greift, wenn ein Arbeitnehmer – egal ob schwerbehindert oder nicht – innerhalb eines Jahres länger als 6 Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig war. Der Arbeitgeber muss dann mit dem Betroffenen, dem Betriebsarzt und den Interessenvertretungen (Betriebsrat und bei Schwerbehinderten auch der SBV) nach Möglichkeiten suchen, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden und künftige Erkrankungen vermieden werden können, um das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Wichtig: Die Durchführung eines bEM ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung – eine Kündigung ist nicht allein deshalb unwirksam, weil kein bEM stattfand. Allerdings betont das BAG, dass § 167 Abs. 2 SGB IX „kein bloßer Programmsatz“ ist, sondern den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konkretisiert. Mit einem bEM lassen sich unter Umständen mildere Mittel als die Kündigung identifizieren. Unterlässt der Arbeitgeber das bEM, so hat er im Kündigungsschutzprozess erhebliche Nachteile: Er muss dann nämlich umfassend und detailliert darlegen, warum keine andere Weiterbeschäftigungsmöglichkeit – weder auf dem bisherigen noch auf einem angepassten oder anderen Arbeitsplatz – bestanden hat und ein bEM „in keinem Fall hätte dazu beitragen können“, das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Diese strenge Darlegungs- und Beweislast hat schon manche krankheitsbedingte Kündigung scheitern lassen. In einem Fall häufiger Kurzzeiterkrankungen entschied das BAG beispielsweise 2014, dass die Kündigung unverhältnismäßig war, weil die Arbeitgeberin kein bEM durchgeführt und folglich nicht ausreichend geprüft hatte, ob durch Umorganisation oder Anpassung des Arbeitsplatzes die Fehlzeiten hätten verringert werden können (BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 755/13). Arbeitgeber sollten daher spätestens bei erheblicher Krankheitsanfälligkeit eines (schwerbehinderten) Mitarbeiters ein bEM anbieten – nicht nur aus gesetzlichen Gründen, sondern auch um sich im Prozess nicht angreifbar zu machen.

Beschäftigungspflicht des Arbeitgebers und Präventionsmaßnahmen

Arbeitgeber haben nicht nur reaktive Pflichten im Kündigungsfall, sondern auch proaktive Verpflichtungen, um Arbeitsverhältnisse mit Schwerbehinderten möglichst zu erhalten:

  • Beschäftigungsquote (§ 154, 164 SGB IX): Unternehmen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen sind gesetzlich verpflichtet, mindestens 5 % der Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten zu besetzen. Wird die Quote nicht erfüllt, ist eine Ausgleichsabgabe zu zahlen. Diese Beschäftigungspflicht unterstreicht das gesetzgeberische Ziel, Schwerbehinderte in Arbeit zu halten. Eine Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters kann dazu führen, dass der Arbeitgeber unter die Quote fällt und höhere Abgaben leisten muss. Das allein verhindert zwar eine Kündigung nicht, setzt aber einen Anreiz, nach Möglichkeit andere Lösungen als die Entlassung zu finden. Zudem müssen Arbeitgeber freie Stellen stets daraufhin prüfen, ob sie mit einem Schwerbehinderten besetzt werden können (§ 164 Abs. 1 SGB IX) – intern wie extern.
  • Kein Sonderkündigungsschutz bei Pflichtverletzungen: Schwerbehinderte Arbeitnehmer haben Pflichten wie alle anderen. Begehen sie schwere Pflichtverstöße oder sind sie selbst Ursache erheblicher Störungen, kann trotz Behinderung eine Kündigung gerechtfertigt sein (mit behördlicher Zustimmung). Allerdings ist stets zu fragen, ob die Behinderung die Ursache des Verhaltens oder der Leistung war. Zum Beispiel: Hat ein schwerbehinderter Arbeitnehmer häufig Fehlzeiten, weil seine Erkrankung dies verursacht, muss der Arbeitgeber vor einer personenbedingten Kündigung ausreichend Abhilfeversuche (etwa Teilzeit, Umsetzungen, BEM) unternommen haben. Ist ein Fehlverhalten auf die Behinderung zurückzuführen, wird das Integrationsamt genau abwägen, ob eine Kündigung verhältnismäßig ist. Eine Behinderung entbindet nicht von arbeitsvertraglichen Pflichten, führt aber zu einer intensiveren Prüfung, ob eine Kündigung wirklich unumgänglich ist.
  • Präventionsverfahren (§ 167 Abs. 1 SGB IX): Bereits vor einer Kündigung schreibt das Gesetz ein sog. Präventionsverfahren vor. Sobald Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten Menschen auftreten, die den Arbeitsplatz gefährden könnten (sei es leistungsbedingt, verhaltensbedingt oder betriebsbedingt), soll der Arbeitgeber frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung, den Betriebsrat und das Integrationsamt einschalten, um gemeinsam Möglichkeiten zur dauerhaften Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu erörtern (§ 167 Abs. 1 SGB IX). Dieses Präventionsgespräch dient dazu, Probleme zu identifizieren und Lösungen (wie Anpassungen oder Unterstützungsangebote) zu finden, bevor es zur Kündigung kommt. Derzeitige Rechtslage: Nach bisheriger BAG-Rechtsprechung war ein solches Präventionsverfahren während der sechsmonatigen KSchG-Wartezeit nicht zwingend erforderlich (BAG, Urt. v. 21.04.2016 – 8 AZR 402/14). Jedoch gibt es neue Tendenzen: Das Arbeitsgericht Köln hat Ende 2023 entschieden, dass ein Arbeitgeber auch während der Probezeit das Präventionsverfahren durchführen muss – unter Berufung auf eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 167 Abs. 1 SGB IX (ArbG Köln, Urt. v. 20.12.2023 – 18 Ca 3954/23). Unterlässt der Arbeitgeber dies, könne dies eine Diskriminierung wegen der Behinderung indizieren und zur Unwirksamkeit der Probezeitkündigung führen. Zudem hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass ein Arbeitgeber vor Ausspruch einer Probezeitkündigung wegen mangelnder Eignung infolge einer Behinderung prüfen muss, ob der Arbeitnehmer auf einem anderen freien Arbeitsplatz eingesetzt werden kann (EuGH, Urt. v. 10.02.2022 – C‑485/20). Diese Entwicklungen zeigen: Arbeitgeber sind gut beraten, frühzeitig alle Register zu ziehen, um schwerbehinderte Mitarbeiter möglichst im Betrieb zu halten – sei es durch technische Hilfen, Anpassungen des Arbeitsplatzes, Versetzung oder Unterstützungsangebote.

Wichtige Urteile zum Kündigungsschutz Schwerbehinderter

Abschließend einige prägende Gerichtsentscheidungen, die die oben genannten Grundsätze bestätigen und konkretisieren:

  • BAG, 13.12.2018 (Az. 2 AZR 378/18): Kündigungen ohne Anhörung der Schwerbehindertenvertretung sind unwirksam. Das BAG stellte klar, dass die SBV vor jeder Kündigung eines (gleichgestellten) Schwerbehinderten beteiligt werden muss – auch in der Probezeit. Eine fehlende oder verspätete Anhörung führt zur Nichtigkeit der Kündigung.
  • BAG, 20.11.2014 (Az. 2 AZR 755/13): Unterlassenes BEM kann eine Kündigung zu Fall bringen. In diesem Fall häufiger Kurzzeiterkrankungen hat das BAG entschieden, dass zwar ein bEM rechtlich keine zwingende Voraussetzung ist, das Fehlen aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung negativ zu Lasten des Arbeitgebers wirkt. Der Arbeitgeber konnte nicht beweisen, dass keine milderen Mittel als die Kündigung in Betracht kamen – auch weil er kein bEM durchgeführt hatte. Die Kündigung wurde daher als unverhältnismäßig und sozial ungerechtfertigt aufgehoben.
  • BAG, 26.03.2015 (Az. 2 AZR 237/14): Diskriminierungsverbot bestätigt. Eine Kündigung, die wesentlich wegen der Behinderung ausgesprochen wird, verstößt gegen § 164 Abs. 2 SGB IX (Benachteiligungsverbot) und ist gemäß § 134 BGB nichtig. Arbeitgeber müssen im Prozess klar darlegen können, dass die Behinderung nicht das Motiv der Kündigung war.
  • EuGH, 10.02.2022 (Rs. C‑485/20) und ArbG Köln, 20.12.2023 (Az. 18 Ca 3954/23): Pflicht zur Umsetzung/Prävention auch in der Probezeit. Der EuGH verlangt, dass zumindest größere Arbeitgeber als Teil der angemessenen Vorkehrungen nach EU-Recht prüfen, ob ein behinderten Arbeitnehmer statt Kündigung auf einem anderen Posten weiterbeschäftigt werden kann. Das ArbG Köln folgte diesem Gedanken und sieht im Unterlassen des Präventionsverfahrens einen Anhaltspunkt für Diskriminierung. Dies ist zwar (noch) keine höchstrichterliche deutsche Rechtsprechung, zeigt aber einen möglichen zukünftigen Weg auf.

Kündigung nur als letztes Mittel

Zusammengefasst: Ein Arbeitgeber kann einem schwerbehinderten Arbeitnehmer kündigen, aber nur unter strengsten Auflagen. Neben einem wichtigen Kündigungsgrund nach dem KSchG (sofern anwendbar) muss vorab die Zustimmung des Integrationsamts eingeholt werden. Formvorschriften wie die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung und die Einhaltung besonderer Fristen sind zwingend. Der Arbeitgeber muss außerdem alles Zumutbare getan haben, um den Arbeitsplatz des Betroffenen zu erhalten – von Arbeitsplatzanpassungen über Umsetzungen bis hin zum betrieblichen Eingliederungsmanagement. Eine Kündigung kommt wirklich erst als letzte Option in Betracht.

Für Arbeitgeber bedeutet dies: Höchste Sorgfalt ist geboten. Bereits kleine Fehler im Verfahren (fehlende Anhörungen, Fristversäumnisse, unvollständige Anträge) können die Kündigung unwirksam machen. Arbeitgeber sollten sich im Zweifel anwaltlich beraten lassen, um die komplexen Vorschriften einzuhalten. Für Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung heißt es: Sie genießen einen erweiterten Schutz, sollten aber im Kündigungsfall schnell reagieren. Eine Kündigungsschutzklage muss innerhalb von 3 Wochen nach Zugang der Kündigung beim Arbeitsgericht erhoben werden (§ 4 KSchG). In diesem Verfahren wird dann geprüft, ob alle oben genannten Voraussetzungen erfüllt wurden. War dies nicht der Fall, stehen die Chancen gut, dass die Kündigung kippt und das Arbeitsverhältnis fortbesteht – oder der Arbeitgeber zumindest eine Abfindung zahlen muss.

Im Ergebnis soll das Recht bewirken, dass eine Schwerbehinderung kein vorschnelles „Ausscheidungskriterium“ im Arbeitsleben ist. Arbeitgeber sind angehalten, für Integration und Erhalt von Arbeitsplätzen schwerbehinderter Menschen zu kämpfen. Gelingt dies trotz aller Bemühungen nicht, ist eine Kündigung zwar möglich, aber an hohe Hürden geknüpft – zum Schutz der besonders schutzbedürftigen Arbeitnehmergruppe.