Kein Anspruch auf Pflichtverteidiger im Ermittlungsverfahren

27. Mai 2022 -

Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 05.04.2022 zum Aktenzeichen 3 StR 16/22 entschieden, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO für sich genommen nicht eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO gebietet.

Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst nicht verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen.

Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung hat nicht grundsätzlich eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge.

Der Angeklagte wurde am 17. Oktober 2019, 20. Februar 2020 und 6. März 2020 als Beschuldigter polizeilich vernommen. Vor den beiden letzten Vernehmungen wurde er ebenso wie vor der ersten jeweils belehrt, dass er im Fall der notwendigen Verteidigung die Bestellung eines Pflichtverteidigers „beanspruchen“ könne. Im Folgenden äußerte er sich an beiden Tagen unter Einbeziehung eines Dolmetschers, ohne dass ihm zuvor ein Verteidiger bestellt worden oder ein solcher sonst anwesend war. Einer der an den Vernehmungen beteiligten Polizeibeamten wurde in der Hauptverhandlung als Zeuge gehört. Im Anschluss an dessen Aussage widersprach ein Verteidiger deren Verwertung, soweit der Zeuge Angaben über Inhalte der Vernehmungen vom 20. Februar und 6. März 2020 gemacht hatte. Das Oberlandesgericht stützte in den Urteilsgründen seine Kenntnisse von den Angaben des Angeklagten in der Vernehmung am 6. März 2020 auf die Bekundungen des Zeugen.

Es bedarf keiner vertieften Erörterung, ob die Verfahrensbeanstandung den Anforderungen nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt. Insofern hat die Revision nicht den Inhalt der Vernehmung vom 17. Oktober 2019 mitgeteilt, die zur Begründung einer ersichtlich sehr schwierigen Beweiswürdigung und der sich nach Ansicht des Beschwerdeführers daraus ergebenden Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO herangezogen wird. Ungeachtet dessen ist die Verwertung der durch einen Vernehmungsbeamten in die Hauptverhandlung eingeführten Beschuldigtenvernehmung nicht zu beanstanden.

Nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO in der seit dem 13. Dezember 2019 aufgrund des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2128, 2129) geltenden Fassung wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Ihm wird gemäß § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO unabhängig von einem Antrag in den Fällen der notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger bestellt, sobald im Vorverfahren ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte, insbesondere bei einer eigenen Vernehmung, nicht selbst verteidigen kann. Fehlt diese Voraussetzung, kommt nach der gesetzlichen Regelung eine Bestellung ohne Antrag von Amts wegen nicht in Betracht, sofern sie nicht nach sonstigen Vorschriften erforderlich ist. Entgegen anderer Ansichten gebieten weder systematische noch richtlinienbezogene oder verfassungsrechtliche Erwägungen eine abweichende Auslegung.

Aus der Regelungssystematik der §§ 140, 141 StPO nF ergibt sich, dass im Falle einer notwendigen Verteidigung ein Pflichtverteidiger nicht ohne Weiteres sofort bestellt wird, sondern die Bestellung gemäß § 141 Abs. 1 StPO grundsätzlich einen Antrag erfordert, sofern nicht die Voraussetzungen des § 141 Abs. 2 StPO gegeben sind. Diese klare Regelungsstruktur spiegelt das im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich geäußerte Ziel wider, „dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers, von den in Absatz 2 geregelten Ausnahmen abgesehen, nur dann zu erfolgen hat, wenn der Beschuldigte seinen Anspruch auf Zugang zu seinem Pflichtverteidiger ausdrücklich geltend macht“.

Die Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verlangt eine Bestellung ohne Antrag ebenfalls nicht.

Zwar haben die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 5 PKH-Richtlinie sicherzustellen, dass Prozesskostenhilfe unverzüglich und spätestens vor einer Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde sowie vor bestimmten weiteren Maßnahmen bewilligt wird. Hieraus ergibt sich aber nicht, ob diese Bewilligung von Amts wegen oder auf Antrag zu geschehen hat. Dazu verhält sich die Begriffsbestimmung in Art. 3 PKH-Richtlinie ebenfalls nicht, nach der „Prozesskostenhilfe“ die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand bezeichnet, sodass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann. Eine anderweitige bindende Vorgabe lässt sich schließlich nicht aus Erwägungsgrund 18 der PKH-Richtlinie entnehmen. Danach „sollten“ die Mitgliedstaaten praktische Regelungen für die Bereitstellung von Prozesskostenhilfe einführen, in denen festgelegt werden könnte, dass Prozesskostenhilfe auf Antrag bewilligt wird; „insbesondere angesichts der Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen sollte ein Antrag jedoch keine materiellrechtliche Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sein“.

Insoweit ist zum einen zu berücksichtigen, dass dem Erwägungsgrund bereits nach Wortlaut und Systematik keine bindende Normwirkung zukommt. Zum anderen lässt der Erwägungsgrund  jedenfalls in seiner deutschen Fassung („materiellrechtliche Voraussetzung“; im Französischen „une condition de fond“; im Englischen „a substantive condition“)  offen, ob ein Antrag eine verfahrensrechtliche Voraussetzung für die Bewilligung darstellen kann. Die Möglichkeit, einen Antrag auf Prozesskostenhilfe vorzusehen, ergibt sich im Übrigen aus Art. 6 Abs. 2 PKH-Richtlinie. Ferner hat der deutsche Gesetzgeber den Bedürfnissen schutzbedürftiger Personen insofern Rechnung getragen, als in den Fällen des § 141 Abs. 2 Satz 1 StPO ein Pflichtverteidiger grundsätzlich unabhängig von einem Antrag bestellt wird.

Hinzu kommt, dass nach Erwägungsgrund 9 PKH-Richtlinie diese nicht zur Anwendung kommen soll, wenn eine beschuldigte Person auf ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verzichtet hat. Wenngleich ein Verzicht und das Absehen von einer Antragstellung zu unterscheiden sind, ist dem Erwägungsgrund zu entnehmen, dass die PKH-Richtlinie nicht von einer von Amts wegen ausnahmslos zu gewährenden „Prozesskostenhilfe“ ausgeht.

Es bestehen keine Bedenken dagegen, dass die in Rede stehende Gesetzesfassung dem Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung genügt. Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar. Der Beschuldigte darf nicht nur Objekt des Verfahrens sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Diese Gelegenheit erhält er, da er nach entsprechender Belehrung die Bestellung eines Verteidigers beantragen kann.

Es richtet sich maßgeblich nach der individuellen Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten, ob er sich selbst nicht verteidigen kann und ihm daher auch ohne Antrag ein Verteidiger sofort zu bestellen ist.

Der Wortlaut des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO greift insoweit auf die in § 140 Abs. 2 StPO gewählte, seit dem Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950 unveränderte Formulierung zurück. Bereits dies legt eine einheitliche Auslegung nahe. Eine solche wurde im Gesetzgebungsverfahren nach einer zunächst anderen Entwurfsfassung ausdrücklich angestrebt. In Bezug auf § 140 Abs. 2 StPO hat der Gesetzgeber angenommen, dass sich Beschuldigte aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit, insbesondere infolge ihres geistigen Zustandes, nicht selbst verteidigen können.

Der systematische Zusammenhang spricht ebenfalls dafür, bei der fehlenden Verteidigungsmöglichkeit besonders die persönlichen Fähigkeiten des Beschuldigten in den Blick zu nehmen. So stellt die weitere Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO auf die Schwere der Tat, die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge und die Schwierigkeit der Sach oder Rechtslage, mithin auf verfahrensbezogene Gesichtspunkte ab. Ein Bedarf für eine in dieselbe Richtung weisende zusätzliche Regelung liegt folglich nicht nahe.

Danach ist bei Prüfung der individuellen Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Hierbei kann zwar zu berücksichtigen sein, ob er die deutsche Sprache beherrscht. Allerdings begründen fehlende Sprachkenntnisse für sich genommen nicht die Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung, weil ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Beschuldigter gemäß § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann. Ebenso wenig ergibt sich aus der Bedeutung einer Beschuldigtenvernehmung für das weitere Verfahren im Allgemeinen die Unfähigkeit zur eigenen Verteidigung.

Aus dem Gesetzeswortlaut und der Systematik des § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO folgt, dass die Beschuldigtenvernehmung als solche nicht bereits Anlass für eine vorherige Bestellung eines Pflichtverteidigers ist, sondern nur, wenn der Beschuldigte sich ersichtlich nicht selbst verteidigen kann. Hierbei handelt es sich sowohl nach dem Zusammenhang als auch nach der dem Gesetz zugrundeliegenden Intention um einen Ausnahmefall. Gerade weil die Regelung ausschließlich auf die Unfähigkeit zur eigenen Verteidigung entsprechend § 140 Abs. 2 StPO aE abstellt, führen die weiteren in der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO genannten Fälle einer notwendigen Verteidigung nicht dazu, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann und ein Verteidiger auch ohne Antrag zu bestellen ist. Die sonstigen Umstände können lediglich dann Bedeutung erlangen und bei einer Gesamtwürdigung zu berücksichtigen sein, wenn sich Einschränkungen von Beschuldigten in ihrer Verteidigungsfähigkeit aus der Persönlichkeit oder den persönlichen Fähigkeiten ergeben.

Selbst in dem Fall, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers vor einer Beschuldigtenvernehmung zu Unrecht unterblieben ist, ergibt sich daraus nicht generell deren Unverwertbarkeit.

Prinzipiell kennt das Strafverfahrensrecht keinen allgemein geltenden Grundsatz, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht. Ob ein solches eingreift, ist vielmehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Deshalb handelt es sich bei einem Beweisverwertungsverbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Angeklagten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde. Zudem darf eine Verwertbarkeit von Informationen, die unter Verstoß gegen Rechtsvorschriften gewonnen wurden, nicht bejaht werden, wenn dies zu einer Begünstigung rechtswidriger Beweiserhebungen führen würde. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen geboten sein, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind.

Diese Maßstäbe sind auch bei einem etwaigen Verstoß gegen das Gebot zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu beachten.

Ein Verwertungsverbot ist gesetzlich nicht geregelt. Die PKH-Richtlinie verhält sich ebenfalls nicht zu solchen Folgen eines möglichen Verstoßes gegen die Verpflichtung, einen Anspruch von Beschuldigten auf Prozesskostenhilfe sicherzustellen. Dem nationalen Gesetzgebungsverfahren liegt die Erwägung zugrunde, dass ein Verstoß nicht automatisch zu einem Verwertungsverbot führen soll, sondern die allgemeinen Grundsätze zur Anwendung gelangen sollen.

Nach den konkreten Umständen und dem zuvor Dargelegten ist nicht zu beanstanden, dass dem Angeklagten vor seinen Beschuldigtenvernehmungen nicht gemäß § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO ein Pflichtverteidiger bestellt wurde. Ein Grund, aus dem er nicht in der Lage war, sich bei den Vernehmungen selbst zu verteidigen, war und ist nicht ersichtlich. Wie bereits ausgeführt, reichen dafür grundsätzlich weder etwaige Sprachunkenntnisse noch die Schwere der Tatvorwürfe oder Schwierigkeiten bei der Beweiswürdigung aus. Aus einer Zusammenschau der Umstände ergibt sich nichts anderes.

Kognitive oder sonstige Einschränkungen des erwachsenen Angeklagten sind nicht ersichtlich. Ausweislich der Urteilsfeststellungen absolvierte er in Syrien ein Gymnasium sowie eine Ausbildung zum Informatiker, erlernte nach seiner Ankunft in Deutschland 2014 die deutsche Sprache und machte eine Weiterbildung zum IT-Netzwerktechniker. Vor diesem Hintergrund ergibt sich zudem nicht, dass er wegen seiner Herkunft aus einem arabischen Land außerstande war, sich bei den Beschuldigtenvernehmungen im Jahr 2020 selbst zu verteidigen.