Kein Präventionsverfahren vor Kündigung in der Probezeit erforderlich

28. Juli 2025 -

Worum geht es?

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 03.04.2025 – 2 AZR 178/24 klargestellt, dass ein Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, vor einer ordentlichen Kündigung während der Wartezeit (Probezeit) ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchzuführen. Konkret betraf der Fall die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers innerhalb der ersten sechs Monate seines Arbeitsverhältnisses. Der Arbeitnehmer machte geltend, die Kündigung sei unwirksam, weil kein Präventionsverfahren durchgeführt und kein behindertengerechter Arbeitsplatz angeboten wurde. Das BAG bestätigte jedoch die Wirksamkeit der Kündigung in der Probezeit – und lieferte wichtige Hinweise, was dies für Arbeitgeber und Arbeitnehmer bedeutet.

Hintergrund: Wartezeit, Kündigungsschutz und Präventionsverfahren

In Deutschland gilt das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) erst nach sechs Monaten Beschäftigungsdauer ununterbrochen beim selben Arbeitgeber (§ 1 Abs. 1 KSchG). Diese ersten sechs Monate werden als Wartezeit bezeichnet. Innerhalb dieser Zeit – oft vertraglich als Probezeit vereinbart – kann der Arbeitgeber in der Regel ohne Angabe sozialer Rechtfertigungsgründe kündigen. Für schwerbehinderte Menschen besteht zusätzlich ein besonderer Kündigungsschutz: Eine Kündigung bedarf nach § 168 SGB IX grundsätzlich der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts. Allerdings beginnt auch dieser Sonderkündigungsschutz erst nach sechs Monaten Beschäftigung (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Die Probezeit überschneidet sich also typischerweise mit der Wartezeit nach dem KSchG und dem verzögerten Beginn des Schwerbehindertenschutzes.

Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX: Stellt ein Arbeitgeber bei einem schwerbehinderten Mitarbeiter Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis fest (etwa leistungs- oder verhaltensbedingte Probleme), fordert das Gesetz eigentlich ein frühzeitiges Präventionsverfahren. Dabei sollen der Arbeitgeber zusammen mit der Schwerbehindertenvertretung, dem Betriebsrat und dem Integrationsamt Maßnahmen zur Problemlösung entwickeln, um eine Kündigung möglichst zu vermeiden. Dieses Präventionsverfahren ist präventiv ausgelegt und unabhängig vom formellen BEM (betrieblichen Eingliederungsmanagement). Strittig war bislang, ob diese Pflicht schon vom ersten Tag an gilt oder erst, wenn der allgemeine Kündigungsschutz greift. Der Gesetzeswortlaut knüpft nicht ausdrücklich an die Wartezeit an, weshalb einige Gerichte – etwa das LAG Köln – meinten, das Präventionsverfahren könne auch bereits während der Probezeit erforderlich sein. Andere Gerichte (und bislang das BAG) verneinten dies. Diese Unsicherheit hat das BAG nun aufgelöst.

Der Fall: Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters in der Probezeit

Im entschiedenen Fall war der Kläger zu 80 % schwerbehindert. Er begann am 1. Januar 2023 eine Stelle als Leiter der Haus- und Betriebstechnik, mit vereinbarter sechsmonatiger Probezeit. Die Arbeitgeberin kannte die Schwerbehinderung von Anfang an und berücksichtigte sie bei der Stellenbesetzung (das heißt, man stellte bewusst einen Schwerbehinderten ein und passte das Anforderungsprofil an sein Leistungsvermögen an). Einen Betriebsrat oder eine Schwerbehindertenvertretung gab es im Unternehmen nicht.

Bereits Ende März 2023 – also nach etwa drei Monaten Beschäftigung – kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis ordentlich innerhalb der Probezeit. Als Grund wurde die mangelnde fachliche Eignung des Klägers angegeben. Einen anderen freien Arbeitsplatz gab es laut Arbeitgeber nicht, auf den man den Kläger hätte umsetzen können. Der schwerbehinderte Mitarbeiter fühlte sich jedoch ungerecht behandelt und klagte gegen die Kündigung.

Die Argumente des Klägers: Er machte insbesondere geltend, die Kündigung verstoße gegen das Benachteiligungsverbot aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), weil sie im Zusammenhang mit seiner Behinderung stehe. Außerdem sei die Kündigung treuwidrig (§ 242 BGB), da der Arbeitgeber kein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt habe und es unterlassen habe, ihm einen behinderungsgerechten Arbeitsplatz anzubieten. Mit anderen Worten: Er argumentierte, dass der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung zunächst Maßnahmen hätte ergreifen müssen, um das Arbeitsverhältnis – trotz seiner Behinderung – zu erhalten.

Instanzenzug: Das Arbeitsgericht wies die Klage ab, ebenso das Landesarbeitsgericht (LAG) Thüringen in der Berufung. Auch die Revision vor dem BAG blieb ohne Erfolg – das BAG hat die Kündigung als rechtswirksam bestätigt. Der Kläger hat somit in allen Instanzen verloren.

Entscheidung des BAG: Präventionsverfahren in der Wartezeit nicht erforderlich

Das BAG stellte klar, dass weder das AGG noch das SGB IX dem Arbeitnehmer während der Wartezeit einen Anspruch auf Durchführung eines Präventionsverfahrens gewähren. Ein Arbeitgeber muss also in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses kein formelles Präventionsverfahren einleiten, bevor er einem schwerbehinderten Menschen ordentlich kündigt. Die Kündigung im konkreten Fall wurde vom BAG daher als wirksam erachtet, obwohl kein Präventionsgespräch stattgefunden hatte.

Wichtig dabei: Die Kündigung verstieß nach Auffassung des Gerichts nicht gegen das Diskriminierungsverbot. Zwar schützt § 7 Abs. 1 i.V.m. §§ 1, 3 AGG auch Beschäftigte, die noch keinen KSchG-Schutz genießen, vor benachteiligenden Kündigungen (eine Kündigung aus einem diskriminierenden Motiv wäre nach § 134 BGB nichtig). Doch im vorliegenden Fall sah das BAG keinen Zusammenhang zwischen der Behinderung des Klägers und der Kündigungsentscheidung. Entscheidend war, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer trotz Behinderung eingestellt hatte und die Entlassung ausdrücklich mit fehlender Eignung begründete – fachliche Ungeeignetheit, die nicht auf der Behinderung beruhte. Es gab keine Indizien, dass die Behinderung im Hintergrund das Motiv für die Kündigung war. Deshalb lag weder eine unmittelbare noch mittelbare Benachteiligung wegen Behinderung vor. Der Kläger konnte auch nicht darlegen, dass seine Leistungsprobleme in untrennbarem Zusammenhang mit der Behinderung standen oder durch zumutbare Vorkehrungen (z.B. technische Hilfen, Umgestaltung des Arbeitsplatzes) hätten behoben werden können.

Folglich scheiterte der Kündigungsschutz des Klägers in der Probezeit auf ganzer Linie. Weder das Fehlen des Präventionsverfahrens noch das Unterlassen besonderer Anpassungsmaßnahmen machten die Kündigung unwirksam. Das BAG ließ zwar offen, ob ein krasses Unterlassen angemessener Vorkehrungen im Einzelfall außerhalb des AGG doch eine Kündigung treuwidrig machen könnte. Im vorliegenden Fall gab es dazu jedoch keinen Anlass, da die Leistungsmängel des Klägers nichts mit seiner Behinderung zu tun hatten und kein alternativer Arbeitsplatz vorhanden war.

Begründung des Gerichts: Warum entfällt das Präventionsverfahren in der Probezeit?

Der Kern der BAG-Begründung liegt in der Auslegung des § 167 Abs. 1 SGB IX und dessen systematischer Stellung im Kündigungsschutzrecht. Das Gericht verweist auf folgende Punkte:

  • Wortlaut und Systematik: § 167 Abs. 1 SGB IX spricht von “personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis. Diese Begriffe lehnen sich erkennbar an die Kündigungsgründe des KSchG (§ 1 Abs. 2 KSchG) an. Damit – so das BAG – zeigt der Gesetzgeber, dass das Präventionsverfahren gerade dazu dienen soll, Kündigungen zu verhindern, für die im Anwendungsbereich des KSchG ein sozial gerechtfertigter Grund erforderlich wäre. Übersetzt: Nur wenn das KSchG gilt (also nach 6 Monaten und in hinreichend großen Betrieben), müssen vor einer Kündigung solche präventiven Schritte unternommen werden. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass das Präventionsverfahren immer und unabhängig vom KSchG durchgeführt werden muss, hätte er neutral von “Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis” sprechen können. Die Anknüpfung an die KSchG-Terminologie zeigt dagegen die gewollte Beschränkung auf dessen Geltungsbereich.
  • Kein formelles Wirksamkeitserfordernis: Selbst wenn ein Präventionsverfahren eigentlich geboten wäre, ist dessen Unterlassen keine formale Unwirksamkeitsfolge für eine Kündigung. Anders als etwa bei der nicht erfolgten Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung (§ 178 Abs. 2 S.3 SGB IX), nennt § 167 Abs. 1 SGB IX keine Sanktion, dass die Kündigung unwirksam wäre, wenn das Verfahren unterbleibt. Vielmehr versteht das BAG § 167 Abs. 1 SGB IX (ähnlich wie das betriebliche Eingliederungsmanagement in § 167 Abs. 2 SGB IX) als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen des allgemeinen Kündigungsschutzes. Außerhalb des KSchG (also vor Ablauf der Wartezeit oder im Kleinbetrieb) gilt der strenge Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aber nicht in gleicher Weise – der Arbeitgeber muss hier keine sozial gerechtfertigten Kündigungsgründe vorweisen, sondern kann im Rahmen der gesetzlichen oder vertraglichen Kündigungsfristen frei kündigen (solange keine anderen Unwirksamkeitsgründe vorliegen, z.B. Sittenwidrigkeit, Treu und Glauben, Maßregelungsverbot).
  • Historische und teleologische Auslegung: Das BAG verweist darauf, dass seine bisherige Rechtsprechung – wonach § 167 Abs. 1 SGB IX nur im Kündigungsschutzgesetz-Bereich gilt – vom Gesetzgeber nie korrigiert wurde. Obwohl § 167 Abs. 1 SGB IX in den letzten Jahren (durch Bundesteilhabegesetz 2016 und Teilhabestärkungsgesetz 2021) reformiert wurde, hat der Gesetzgeber die umstrittene Passage nicht geändert. Im Gegenteil hat er an anderer Stelle (etwa § 178 Abs. 2 SGB IX) ausdrücklich Unwirksamkeitsfolgen eingeführt. Das wertet das BAG als Indiz, dass der Gesetzgeber die gerichtliche Linie akzeptiert hat. Mit anderen Worten: Man geht davon aus, dass der Gesetzgeber bewusst keine Ausweitung des Präventionsverfahrens auf die Wartezeit wollte.
  • Vereinbarkeit mit EU-Recht und UN-Behindertenrechtskonvention: Kritiker eines eingeschränkten Präventionsverfahrens könnten argumentieren, dies verstoße gegen die Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen nach EU-Recht (Art. 5 der RL 2000/78/EG) und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Das BAG sieht jedoch keinen Konflikt. Die Durchführung eines Präventionsverfahrens sei an sich keine “angemessene Vorkehrung”, sondern nur ein Suchprozess, um solche Vorkehrungen zu finden. Einem Arbeitnehmer werde daher durch den Entfall des Verfahrens in den ersten sechs Monaten keine zumutbare Unterstützung vorenthalten, die ihm von höherrangigem Recht unbedingt garantiert wäre. Auch die Vorgaben des EuGH zu angemessenen Vorkehrungen zwingen nicht dazu, ein formales Verfahren während der Probezeit vorzuschreiben – insbesondere, wenn der Kündigungsentschluss nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht.

Zusammengefasst stützt das BAG seine Entscheidung also darauf, dass § 167 Abs. 1 SGB IX nur im voll greifenden Kündigungsschutz (nach Wartezeit/über Kleinbetriebsschwelle) von Bedeutung ist. In der Frühphase des Arbeitsverhältnisses besteht hingegen grundsätzlich kein einklagbarer Anspruch auf Durchführung eines Präventionsgesprächs. Ein bloßes Unterlassen dieser Maßnahme macht eine Kündigung in der Probezeit nicht unwirksam – sofern keine Diskriminierung wegen der Behinderung vorliegt.

Exkurs: Das LAG Köln hatte 2024 anders argumentiert und betont, das Präventionsverfahren könne auch in der Probezeit schon verpflichtend sein, wenn sich behinderungsbedingte Leistungseinbußen früh zeigen. Diese Ansicht zielte auf einen proaktiveren Schutz schwerbehinderter Arbeitnehmer ab. Das BAG hat dieser Linie jedoch nun eine Absage erteilt und die Auffassung des LAG Thüringen (keine Präventionspflicht in der Wartezeit) bestätigt. Damit ist klargestellt, dass Arbeitgeber in den ersten sechs Monaten hier keine rechtliche Pflicht trifft, so vorzugehen – jedenfalls so lange keine Anhaltspunkte für eine AGG-widrige Benachteiligung bestehen.

Bedeutung für Arbeitgeber: Praxis-Tipps

Für Arbeitgeber – insbesondere solche, die schwerbehinderte Mitarbeiter beschäftigen oder einstellen möchten – bringt dieses Urteil Rechtssicherheit in der Probezeit. Dennoch sollte man die Entscheidung mit Bedacht umsetzen. Folgende Punkte sind wichtig:

  • Keine Pflicht zum Präventionsverfahren in den ersten 6 Monaten: In der Probezeit/Wartezeit müssen Arbeitgeber kein formelles Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchführen, bevor sie kündigen. Das bedeutet, eine Kündigung scheitert in dieser Phase nicht allein daran, dass man keine offizielle Runde mit Betriebsrat, Schwerbehindertenvertretung und Integrationsamt einberufen hat. Insbesondere in Kleinbetrieben (bis 10 Mitarbeiter) besteht diese Pflicht ebenfalls nicht, da dort das KSchG generell nicht greift.
  • Diskriminierungsverbot unbedingt beachten: Auch wenn kein Kündigungsschutz nach KSchG gilt, dürfen Kündigungen nicht aus diskriminierenden Motiven erfolgen. Eine behinderungsbedingte Kündigung wäre unzulässig. Arbeitgeber sollten also genau dokumentieren, welche leistungsspezifischen oder verhaltensbedingten Gründe zur Kündigung führen, um im Streitfall belegen zu können, dass nicht die Behinderung der wahre Kündigungsgrund war. Im vorliegenden Fall konnte der Arbeitgeber z.B. die fachliche Ungeeignetheit benennen – etwas, das mit der Behinderung nicht zusammenhing. Solche nachvollziehbaren Gründe schützen vor dem Vorwurf der Benachteiligung.
  • Sonderkündigungsschutz und Verfahren nach 6 Monaten: Nach Ablauf der Wartezeit ändern sich die Spielregeln. Ab dem 7. Monat braucht der Arbeitgeber für eine Kündigung eines Schwerbehinderten die Zustimmung des Integrationsamts (§ 168 SGB IX) und es greift der volle Kündigungsschutz nach KSchG. Spätestens dann ist dringend zu empfehlen, präventive Maßnahmen ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn Schwierigkeiten auftreten. Zwar ist ein unterbliebenes Präventionsverfahren auch nach 6 Monaten für sich genommen keine formale Unwirksamkeitsursache, aber es kann im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Kündigung negativ ausgelegt werden. Ein Arbeitgeber, der frühzeitig gemeinsam mit dem Mitarbeiter und ggf. Behörden nach Lösungen sucht, zeigt damit, dass er seiner Fürsorgepflicht nachkommt – was im Streitfall vor Gericht Pluspunkte bringen kann.
  • Best Practice trotz fehlender Pflicht: Auch wenn das BAG hier keine Pflicht sieht, ist es aus Unternehmersicht klug, Probleme mit schwerbehinderten Mitarbeitern früh anzusprechen und nach vertretbaren Lösungen zu suchen. In vielen Fällen lassen sich durch kleine Anpassungen (Arbeitsplatzgestaltung, Arbeitszeitmodellen, Hilfsmittel) Leistungsschwächen kompensieren. Dies verbessert nicht nur die Chancen, das Arbeitsverhältnis doch noch erfolgreich fortzusetzen, sondern reduziert auch das Risiko späterer Rechtsstreitigkeiten (z.B. wegen behaupteter Verstöße gegen Treu und Glauben oder Maßregelungsverbot, falls der Mitarbeiter zuvor um Hilfen gebeten hatte). Kurzum: Fairness und Kommunikation zahlen sich aus. Eine freiwillige Inanspruchnahme des Integrationsamts oder Beratung durch die Schwerbehindertenvertretung kann auf freiwilliger Basis auch schon in der Probezeit erfolgen, wenn beide Seiten dem offen gegenüberstehen.
  • Klares Trennen von Leistungsfrage und Behinderung: Sollte sich herausstellen, dass ein Arbeitnehmer aufgrund seiner Behinderung bestimmte Aufgaben nicht erfüllen kann, ist der Arbeitgeber verpflichtet zu prüfen, ob es angemessene Vorkehrungen oder andere Einsatzmöglichkeiten gibt (§ 164 Abs. 4 SGB IX). Allerdings muss kein gänzlich neuer Arbeitsplatz “erfunden” werden, den der Betrieb nicht braucht. Die BAG-Entscheidung zeigt: Wenn die Eignung generell fehlt und kein Zusammenhang zur Behinderung besteht, darf auch in der Probezeit gekündigt werden, ohne vorherige Versetzungs- oder Anpassungsversuche. Dennoch sollte man im Zweifel den Mitarbeiter fragen, ob und welche Unterstützung er braucht – damit schließt man aus, vorschnell zu kündigen, wo vielleicht einfache Hilfsmittel genügt hätten.

Bedeutung für Arbeitnehmer: Praxis-Tipps

Für Arbeitnehmer – insbesondere Schwerbehinderte oder ihnen Gleichgestellte – macht dieses Urteil deutlich, dass die ersten sechs Monate eines neuen Jobs eine besonders kritische Phase sind. Folgendes sollten Arbeitnehmer wissen und beachten:

  • Probezeit bleibt Risikozeit: Während der Wartezeit greift der gesetzliche Kündigungsschutz nicht. Eine Kündigung kann relativ frei erfolgen, ohne dass personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Gründe nachgewiesen werden müssen. Schwerbehinderte genießen erst nach 6 Monaten den vollen Schutz, d.h. vorher kann der Arbeitgeber auch ohne Zustimmung des Integrationsamts kündigen. Das heißt: Auch für behinderte Arbeitnehmer gibt es in der Probezeit keinen “Freifahrtschein” – Leistung und Verhalten sollten stimmen, da man sonst wenig rechtliche Handhabe gegen eine Entlassung hat.
  • Kein automatischer Anspruch auf Präventionsgespräch: Viele schwerbehinderte Arbeitnehmer wissen gar nicht, dass es das Instrument des Präventionsverfahrens gibt. Nun hat das BAG klargestellt: In den ersten sechs Monaten haben Arbeitnehmer keinen einklagbaren Anspruch, dass der Chef so ein Verfahren durchführt. Man kann also nicht darauf vertrauen, dass vor einer Probezeitkündigung zunächst eine offizielle Hilferunde einberufen wird. Tipp: Warten Sie nicht passiv darauf, dass der Arbeitgeber aktiv wird. Suchen Sie selbst frühzeitig das Gespräch, wenn Sie merken, dass es Probleme gibt (sei es mit den Arbeitsanforderungen oder dem Arbeitsumfeld).
  • Eigeninitiative bei behinderungsbedingten Problemen: Sollte Ihre Behinderung im Arbeitsalltag zu Schwierigkeiten führen (z.B. gesundheitliche Einschränkungen bei bestimmten Aufgaben, erhöhte Fehlzeiten, technische Barrieren), kommunizieren Sie das offen und möglichst früh. Weisen Sie den Arbeitgeber auf konkrete Lösungsmöglichkeiten hin: etwa Hilfsmittel, Umverteilung von Aufgaben, flexible Arbeitszeiten oder einen leidensgerechten Arbeitsplatz. Arbeitgeber sind nach § 164 SGB IX verpflichtet, prüfen, ob solche angemessenen Vorkehrungen machbar sind. In der Probezeit mag der Arbeitgeber dazu nicht verpflichtet sein, ein formales Präventionsverfahren durchzuführen, aber Ihr Hinweis kann ihn trotzdem dazu bewegen, Unterstützung zu leisten statt vorschnell zu kündigen. Sie zeigen damit auch guten Willen und Kooperationsbereitschaft.
  • Dokumentation und Beratung: Sollte es trotz aller Bemühungen zur Kündigung kommen, ist es wichtig, Beweise für etwaige Diskriminierung zu sichern. Notieren Sie sich Vorfälle oder Äußerungen, die darauf hindeuten könnten, dass Ihre Behinderung doch eine Rolle spielte. Zwar konnte der Kläger im BAG-Fall keinen solchen Anhaltspunkt liefern, aber in anderen Fällen gibt es mitunter Indizien (z.B. Bemerkungen des Vorgesetzten). Für eine Klage nach dem AGG haben Sie nur 2 Monate Zeit ab Zugang der Kündigung, also zögern Sie nicht, fachkundigen Rat (Anwalt, Interessenvertretung) einzuholen. Beachten Sie: Sie müssten darlegen, dass die Kündigung wahrscheinlich wegen der Behinderung erfolgte – z.B. weil der Arbeitgeber keinerlei Versuch unternommen hat, eine behinderungsbedingte Leistungsschwäche durch Anpassungen zu mildern, und die Umstände den Schluss nahelegen, dass ihm Ihre Behinderung “ungelegen” war. Allerdings hat das BAG signalisiert, dass das Allein-Unterlassen von Präventions- oder Anpassungsmaßnahmen noch keine Diskriminierung beweist. Man braucht weitere Indizien.
  • Hilfe suchen: Auch wenn das Integrationsamt in den ersten 6 Monaten eine Kündigung nicht verhindern kann, dürfen Sie sich als schwerbehinderter Mensch jederzeit an das Integrationsamt wenden. Es kann oft vermittelnd tätig werden oder beraten, welche Unterstützungen im Betrieb möglich sind. Ebenso kann ein vorhandener Betriebsrat oder Schwerbehindertenvertreter auch in der Probezeit als Ansprechpartner dienen. Gerade in der Probezeit gilt: lieber früh Unterstützung mobilisieren als spät. Das zeigt dem Arbeitgeber auch, dass Sie gewillt sind, an einer Lösung mitzuwirken.
  • Realistisch bleiben: Zuletzt ist es wichtig zu wissen, dass eine Kündigung in der Probezeit rechtlich nur in Ausnahmefällen angreifbar ist. Wer neu in einem Job ist, hat in den ersten Monaten keinen vollumfänglichen Schutz vor sozial ungerechtfertigten Kündigungen. Das heißt nicht, dass man rechtlos ist – Offenbarungspflichten und Diskriminierungsschutz gelten vom ersten Tag an. Aber wenn die Probezeitkündigung letztlich auf mangelnder Eignung oder anderen nicht-diskriminierenden Gründen beruht, wird sie Bestand haben. Konzentrieren Sie sich daher in der Probezeit darauf, Ihre Fähigkeiten zu zeigen und eventuelle behinderungsbedingte Einschränkungen durch geeignete Hilfen auszugleichen. So erhöhen Sie die Chance, die kritischen ersten sechs Monate zu überstehen.

Dieses BAG-Urteil schafft Klarheit: Arbeitgeber müssen in den ersten sechs Monaten keine formalisierten Präventionsmaßnahmen nach SGB IX ergreifen, bevor sie kündigen – die Probezeitkündigung eines schwerbehinderten Menschen ist nicht allein deswegen unwirksam, weil kein Präventionsverfahren durchgeführt wurde. Gleichzeitig erinnert die Entscheidung aber beide Seiten daran, dass die Probezeit für schwerbehinderte Beschäftigte eine Phase mit begrenztem Schutz ist.

Arbeitgeber können sich darauf verlassen, nicht durch Verfahrensfehler (unterlassenes Präventionsgespräch) frühzeitig in Kündigungsstreitigkeiten zu geraten, sollten aber trotzdem verantwortungsvoll handeln. Wer bereits in der Probezeit bemerkt, dass es behinderungsbedingte Leistungsprobleme gibt, tut gut daran, gemeinsam mit dem Mitarbeiter nach Lösungen zu suchen – nicht aus Zwang, sondern aus Fairness und zur Risikominimierung.

Arbeitnehmer wiederum müssen wissen, dass sie in der Anfangszeit selbst aktiv werden müssen, um ihren Arbeitsplatz zu sichern. Offenheit über benötigte Unterstützungen, Eigeninitiative und ggf. frühzeitige Hilfe von Stellen wie dem Integrationsamt können ausschlaggebend sein. Denn der formale Rechtsrahmen bietet in den ersten sechs Monaten nur eingeschränkten Halt.

Insgesamt bestätigt das BAG seine bisherige Linie und vermeidet eine Ausweitung des Kündigungsschutzes durch die Hintertür. Für Arbeitnehmer und Arbeitgeber bedeutet dies Rechtssicherheit: Die Spielregeln in der Probezeit bleiben, wie sie sind. Im Konfliktfall kommt es – wie dieses Urteil zeigt – entscheidend darauf an, ob eine Kündigung sachlich begründet und nicht durch die Behinderung motiviert ist. Ist das gegeben, wird eine Probezeitkündigung auch vor Gericht Bestand haben. Dennoch bleibt es im Interesse aller Beteiligten, Probleme frühzeitig anzupacken, um eine kündigungsvorbeugende Lösung zu finden, bevor es zum Äußersten kommt. So lässt sich der Geist des Präventionsgedankens umsetzen, auch wenn der Buchstabe des Gesetzes dies in der Probezeit (noch) nicht zwingend vorschreibt.