Der Einsatz von KI-Tools wie ChatGPT zur Erstellung juristischer Schriftsätze wird immer häufiger – und damit auch die Risiken. Ein aktueller Fall vor dem Oberlandesgericht (OLG) Celle zeigt eindrücklich, was passieren kann, wenn anwaltliche Sorgfaltspflichten vernachlässigt werden. In dem Beschluss vom 29. April 2025 (Az. 5 U 1/25) musste sich das Gericht mit KI-Halluzinationen (d.h. von der KI erfundenen Fundstellen) und einem insgesamt unschlüssigen und unsubstantiierten Parteivortrag auseinandersetzen. Bemerkenswert: Beide Parteien patzten erheblich – und das hatte überraschende prozessuale Folgen. Dieser Beitrag stellt den Sachverhalt und die rechtlichen Ausführungen des Gerichts vor und erläutert, welche Maßstäbe an den Sachvortrag im Zivilprozess gestellt werden. Abschließend geben wir Praxistipps für den Umgang mit KI-Tools im forensischen Alltag.
Sachverhalt: Wenn beide Seiten versagen
Im zugrundeliegenden Fall hatte die Klägerin an einer hochpreisigen Coaching-Veranstaltung („Costa Rica Masterclass“) teilgenommen und verlangte nach vorzeitiger Kündigung die Rückzahlung einer fünfstelligen Summe. Streitpunkt war, ob es sich bei dem Vertrag um einen Dienstvertrag höherer Art handelte, der gemäß § 627 BGB jederzeit kündbar ist (so die Klägerin), oder nicht (so die Beklagte). In erster Instanz hatte die Klägerin zumindest teilweise obsiegt. Doch in der Berufung vor dem OLG Celle präsentierte die Beklagtenseite einen Schriftsatz, der fast wie ein Fallbeispiel für die Tücken von KI-generierten Texten wirkt.
So zitierte der Beklagtenvertreter vier angebliche Entscheidungen verschiedener Oberlandesgerichte (München, Frankfurt, Düsseldorf, Koblenz) zugunsten seiner Rechtsauffassung – keine davon existierte tatsächlich. Die Richter am OLG Celle fanden deutliche Worte: „Die von der Beklagten genannte Fundstelle kann der Senat nicht überprüfen, da es sich insoweit um ein Fehlzitat handelt, das weder bei juris noch bei beck-online unter den genannten Parametern […] aufrufbar ist.“. Anders ausgedrückt: Die vorgelegten Fundstellen waren frei erfunden und ließen sich in keiner gängigen juristischen Datenbank finden. Auch inhaltlich überzeugten die zitierten Schein-Urteile nicht – sie widersprachen der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH).
Doch damit nicht genug: Widersprüche im Sachvortrag der Beklagtenseite führten dazu, dass bestimmte Behauptungen als unbeachtlich galten. So behauptete die Beklagte an einer Stelle, ihre Coaches und Berater hätten keinen Einblick in sensible Firmendaten der Teilnehmer – obwohl sie an anderer Stelle selbst vorgetragen hatte, dass ihre Beratung genau solche Einblicke erfordert. Das OLG stellte klar, dass diese Behauptung „im diametralen Widerspruch zu dem anderweitigen eigenen Sachvortrag der Beklagten“ stehe und deshalb prozessual unbeachtlich sei. Mit anderen Worten: Ein in sich widersprüchlicher Vortrag wird vom Gericht nicht berücksichtigt.
All dies hätte normalerweise dazu geführt, dass die Beklagte auf ganzer Linie unterliegt – „mit wehenden Fahnen untergeht“, wie ein Online-Beitrag pointiert formulierte. Außer: Die Klägerseite versagte ebenfalls. Und genau das war hier der Fall. Obwohl der verbleibende (unwidersprochen gebliebene) Sachvortrag der Beklagten eigentlich gereicht hätte, um die Klage schlüssig zu machen, hatte die Klägerin es versäumt, sich diesen Vortrag zu eigen zu machen. Tatsächlich hatte sie in erster Instanz die für sie günstigen Tatsachenbehauptungen der Gegenseite sogar ausdrücklich bestritten und auch im Berufungsverfahren nicht klar gestellt, dass sie diese hilfsweise als wahr unterstellt. Damit blieb sie strikt bei ihrem eigenen – lückenhaften – Vortrag. Die paradoxe Folge: Trotz eklatanter Fehler der Beklagtenseite war die Klage unschlüssig und die Berufung der Beklagten hatte Aussicht auf Erfolg. Das OLG gab beiden Parteien einen Hinweis und eine Frist zur Stellungnahme. Am Ende vermeideten beide Seiten ein Urteil, indem sie einen Vergleich schlossen.
Rechtliche Würdigung des OLG Celle
Der Beschluss des OLG Celle offenbart harte Worte und wichtige Lehren. Zunächst wird an vier Stellen betont, dass die angeführten Urteile der Beklagten nicht auffindbar seien – offenkundig Fehlzitate. Obwohl das Gericht dem Anwalt nicht explizit unterstellte, er habe einen KI-Text ungeprüft übernommen, liegt dieser Verdacht in der Luft. Schließlich entsprechen derartige multiple erfundene Fundstellen genau dem Halluzinations-Phänomen, das bei KI-Generatoren bekannt ist. Für die juristische Bewertung ist jedoch entscheidend: Schein-Belege überzeugen nicht, zumal sie hier im Widerspruch zur BGH-Rechtsprechung standen. Ein Argument, das auf falschen Autoritäten aufbaut und gegen höchstrichterliche Linie läuft, “greift nicht durch”, wie das OLG formulierte.
Auch prozessual zeigt der Fall interessante Aspekte. Das OLG erinnert an den Grundsatz der Schlüssigkeit und Substantiierung: Ein Vortrag muss in sich stimmig und hinreichend konkret sein, um rechtlich beachtlich zu sein. Präsentiert eine Partei widersprüchliche Tatsachen, darf das Gericht diesen Teil des Vortrags ignorieren. Hier lag ein krasses Beispiel dafür vor – die Beklagte unterlief mit ihrem „Kein-Datenzugriff“-Argument ein offener Selbstwiderspruch, der ihr letztlich nichts nützte.
Noch bedeutsamer ist die Lehre für die klagende Partei: Nach ständiger BGH-Rechtsprechung kann die Klagepartei sich abweichende Behauptungen der Gegenseite hilfsweise zu eigen machen und darauf ihre Klage stützen – aber nur, wenn sie dies ausdrücklich tut. Bleibt sie untätig, darf das Gericht die gegnerischen Angaben nicht einfach zu ihren Gunsten verwerten. Dieses Prinzip der Gleichwertigkeit des Parteivorbringens (auch bekannt als Verhandlungs- oder Beibringungsgrundsatz) wurde der Klägerin im vorliegenden Fall zum Verhängnis. Weil sie trotz der offensichtlichen Schwächen des Gegners prozessuale Chancen liegen ließ, war ihre Klage auf Grundlage des eigenen Vortrags nicht schlüssig. Die klare Botschaft des OLG: Selbst wenn der Gegner Fehler macht, entbindet das nicht von den eigenen Anforderungen an einen vollständigen und konsistenten Sachvortrag.
Anforderungen an den Sachvortrag im Zivilprozess
Der Fall OLG Celle 2025 ist ein Lehrstück für einige zentrale Prozessgrundsätze im deutschen Zivilrecht:
- Schlüssigkeit: Eine Klage ist schlüssig, wenn der vorgetragene Sachverhalt – als wahr unterstellt – alle Elemente des geltend gemachten Anspruchs erfüllt. Fehlt ein erforderliches Element oder widerspricht sich die Darstellung, ist die Klage unschlüssig und abweisungsreif. Im Besprechungsfall war die Klage der Klägerin unschlüssig, weil sie für § 627 BGB nicht alle Tatsachen vortrug (z.B. den nötigen Einblick in vertrauliche Daten) und stattdessen auf falsche rechtliche Annahmen setzte.
- Substantiierung: § 138 ZPO verpflichtet die Parteien, tatsächliche Umstände substantiiert vorzutragen. Das bedeutet, sie müssen zu jedem anspruchsbegründenden oder anspruchsvernichtenden Tatbestand konkrete Fakten liefern. Pauschaler oder vager Vortrag reicht nicht. Im OLG-Celle-Fall monierte das Gericht etwa, dass die Klägerin wichtige Details schuldig blieb (sie hatte z.B. nicht näher dargelegt, warum es sich um „höhere Dienste“ handelt, sondern nur pauschal behauptet, ein Coachingvertrag sei als solcher höherer Art – was rechtlich unzutreffend ist). Ebenso beanstandete das Gericht, die Beklagte habe für eine behauptete individuelle Vertragsabrede (Absenkung der Anzahlung) kein Beweisangebot gemacht und damit kein Aushandeln im Sinne von § 305 Abs. 1 S. 3 BGB dargetan. Unsubstantiierter Sachvortrag läuft ins Leere.
- Widerspruchsfreiheit: Der innere Konsistenz des Parteivortrags kommt hohe Bedeutung zu. Trägt eine Partei im Laufe des Verfahrens verschiedene, einander widersprechende Versionen vor, so kann das Gericht die unglaubhaften oder widersprüchlichen Teile außer Betracht lassen. Hier hat das OLG die im Widerspruch stehende Behauptung der Beklagten kurzerhand gestrichen. Parteien sollten daher Widersprüche vermeiden oder – wenn sie alternativen Hilfsvortrag bringen – diesen klar als solchen kennzeichnen, um Missverständnisse zu vermeiden.
- Gegnerische Angaben übernehmen: Deutsche Zivilgerichte folgen dem Beibringungsgrundsatz – sie verwerten grundsätzlich nur das, was die Parteien vortragen. Allerdings erlaubt es die Rechtsprechung, günstige Tatsachen aus dem Vortrag der Gegenseite in den eigenen Vortrag zu integrieren (hilfsweises Zu-Eigen-Machen). Tut man dies, erweitert man die eigene Tatsachengrundlage. Unterlässt man es, bleiben die gegnerischen Angaben „deren Problem“. Im Ergebnis kann es – wie in unserem Fall – dazu führen, dass beide Parteien aneinander vorbei argumentieren: Der Beklagte bestreitet die Klage nicht ausreichend, und die Klägerin stützt sich nicht auf den (unbestritten gebliebenen) Gegnervortrag. Die Konsequenz war hier, dass die wahre Sachlage (die eigentlich für die Klägerin sprach) nicht zur Entscheidung herangezogen werden durfte. Anwälte sollten daher stets prüfen, ob sie gegnerische Geständnisse oder hilfreiche Tatsachenübernahmen explizit in ihren Vortrag aufnehmen sollten, um den eigenen Anspruch zu untermauern.
Zusammengefasst zeigt der Beschluss des OLG Celle: Ein Zivilprozess ist nur so gut wie der Vortrag beider Seiten. Richter können – und dürfen – fehlenden oder fehlerhaften Vortrag der Parteien nicht von sich aus ersetzen. Jeder Baustein des Anspruchs bzw. der Verteidigung muss von den Parteien selbst geliefert werden, und zwar in belastbarer, widerspruchsfreier Weise. Andernfalls drohen prozessuale Überraschungen.
KI-generierte Schriftsätze und „Halluzinationen“
Der Fall warf unweigerlich die Frage auf, inwiefern künstliche Intelligenz hier eine Rolle spielte. Unter Juristen machte die Nachricht schnell die Runde; auf LinkedIn spekulierten einige, der Beklagtenanwalt habe „offensichtlich […] ChatGPT für einen Entwurf benutzt“. Zwar ist das nicht bewiesen – wie andere Kommentatoren anmerkten, gab es Fehlzitate auch schon vor der KI. Doch das Phänomen der „Halluzinationen“ ist typisch für generative Sprachmodelle: Sie erzeugen auf Prompt-Befehl Texte, die plausibel klingen, aber frei erfundene „Fakten“ enthalten. So werden z.B. Gerichtsurteile zitiert, die nie ergangen sind, oder Aufsätze mit erfundenen Titeln und Autoren angegeben. Genau das passierte in einem ähnlichen Vorfall vor dem Amtsgericht Köln (Beschluss vom 02.07.2025, Az. 312 F 130/25): Dort stellte das Gericht fest, dass „sämtliche […] aufgeführten Quellen im Schriftsatz […] schlichtweg erfunden waren“ – von Urteilen über Randziffern bis zu Literaturstellen. In deutlichen Worten heißt es, diese angeblichen Nachweise „sind offenbar mittels künstlicher Intelligenz generiert und frei erfunden“.
Solche Vorfälle alarmieren die Gerichte. Das Vertrauen in anwaltliche Schriftsätze wird erschüttert, wenn Anwälte ungeprüft KI-Texte einreichen. Das Amtsgericht Köln sparte dann auch nicht mit klaren Worten: Ein derartiges Vorgehen erschwere die Rechtsfindung und untergrabe das Vertrauen in anwaltliche Schriftsätze. Berufsrechtlich kann es ebenfalls heikel werden. Anwältinnen und Anwälte sind nach § 43a Abs. 3 BRAO verpflichtet, keine unwahren Tatsachen vorzutragen – zumindest nicht wissentlich. Bleibt es bei Fahrlässigkeit (also einem ungeprüften Irrtum), ist es zwar keine Lüge mit Vorsatz, doch selbst grobe Fahrlässigkeit kann berufsrechtlich sanktioniert werden. Die Debatte, ob bereits fahrlässig unwahre Behauptungen einen Verstoß darstellen, ist im Gange. Zudem steht bei bewusstem Einsatz falscher Informationen sogar der Vorwurf des versuchten Prozessbetrugs im Raum. Es gibt ältere Gerichtsentscheidungen, die hier noch Zurückhaltung üben, doch die Zunahme von KI-Tools dürfte diese Diskussion beleben.
Für die anwaltliche Praxis bedeutet dies: KI ist nur ein Werkzeug, kein Ersatz für gründliche juristische Arbeit. Eine generative KI spuckt mitunter Quellen oder „Fakten“ aus, die existieren könnten, aber tatsächlich frei erfunden sind. Wer das ungefiltert übernimmt, riskiert eine Blamage vor Gericht und gefährdet die eigenen Mandanteninteressen. Mittlerweile gibt es zwar legal-tech-Lösungen, die KI-gestützt arbeiten und angeblich verlässlicher sind (etwa spezialisierte Juristen-KI, die mit echten Datenbanken verknüpft ist). Doch auch hier gilt: Verantwortlich bleibt der Mensch. Die Richter in Celle haben letztlich das in den Vordergrund gestellt, was schon immer galt – nur dass es im KI-Zeitalter neue Relevanz gewinnt.
Praxistipps
Der Beschluss des OLG Celle vom 29.04.2025 führt eindrucksvoll vor Augen, dass im Zivilprozess beide Parteien höchste Sorgfalt an den Tag legen müssen – gerade auch beim Einsatz von KI-Tools. Fehlende Substantiierung, widersprüchliche Ausführungen oder gar erfundene Zitate können eine an sich berechtigte Klage zu Fall bringen oder umgekehrt einer eigentlich haltlosen Berufung zum Erfolg verhelfen. Im konkreten Fall haben sowohl Kläger- als auch Beklagtenseite nahezu „mit wehenden Fahnen“ ihre Position verspielt. Damit Ihnen so etwas nicht passiert, hier einige praktische Tipps:
- Sorgfältige Überprüfung von Quellen: Nutzen Sie KI-Entwürfe allenfalls als Ausgangspunkt. Jede zitierte Entscheidung oder Literaturstelle muss verifiziert werden, bevor sie in einem Schriftsatz landet. Unbekannte Fundstellen sollten in Juris/Beck-Online oder anderen Datenbanken gegengecheckt werden – existiert der Fall nicht, raus damit!.
- Substantiierter Vortrag: Stellen Sie sicher, dass Ihr Vortrag alle Tatsachen enthält, die für das rechtliche Anliegen erforderlich sind. Arbeiten Sie die Tatbestandsmerkmale des einschlägigen Anspruchs bzw. der Verteidigung systematisch ab und unterfüttern Sie jedes mit konkreten Fakten (Datum, Ort, Beteiligte, Inhalt von Abreden etc.). Bleiben Sie nicht im Allgemeinplatz (wie hier etwa „Coachingvertrag = Dienst höherer Art“ ohne weitere Erklärung).
- Widersprüche vermeiden: Prüfen Sie Ihren Schriftsatz auf innere Konsistenz. Entdecken Sie Widersprüche, lösen Sie diese auf – ggf. durch klarstellenden Hilfsvortrag. Ein „prozessual unbeachtlicher“ Vortrag hilft niemandem, am wenigsten Ihrer Mandantschaft.
- Gegnerische Aussagen nutzen: Lesen Sie auch den gegnerischen Vortrag genau. Gibt es dort Zugeständnisse oder hilfreiche Angaben, die Ihren Fall stützen? Zögern Sie nicht, diese hilfsweise zum eigenen Vortrag zu machen. Was der Gegner preisgibt, kann – richtig prozessual verwertet – Gold wert sein.
- KI gezielt und kontrolliert einsetzen: Wenn Sie KI-Tools verwenden, dann nur zur Unterstützung, nicht als Ersatz der eigenen Denkarbeit. Eine KI kann Standardformulierungen liefern oder bei der Struktur helfen, aber die juristische Bewertung und Endredaktion liegen bei Ihnen. Korrigieren Sie falsche oder unpassende Passagen konsequent.
- Berufsrecht beachten: Machen Sie sich bewusst, dass das Einreichen von durch KI „halluzinierten“ Inhalten nicht nur peinlich ist, sondern berufsrechtliche Folgen haben kann. Im Zweifelsfall drohen Haftungsfragen (Stichwort Anwaltshaftung) und Reputationsschäden. Die besten Vorsätze und technische Hilfsmittel ersetzen nicht die gewissenhafte anwaltliche Verantwortung.
KI kann den Anwaltsalltag erleichtern, aber sie verleitet auch zu gefährlichen Abkürzungen. Der OLG-Celle-Beschluss mahnt zur Besonnenheit: Gründlichkeit vor Geschwindigkeit. Am Ende zählt im Gerichtssaal ein juristisch sauberer, wahrheitsgemäßer und durchdachter Sachvortrag – ob mit oder ohne KI-Unterstützung erstellt. Den sollte man nicht einer Maschine überlassen. Die Devise lautet also: KI nutzen, aber mit kühlem Kopf – und im Zweifel lieber klassisch selbst recherchieren und formulieren. So vermeiden Sie „anwaltliches Totalversagen“ und sichern Ihren Mandanten den bestmöglichen Vortrag.