Kostenentscheidung des Sozialgerichts ohne vorherige Anhörung der Partei ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 17. April 2020 zum Aktenzeichen 1 BvR 2310/19 entschieden, dass ein sozialgerichtlichen Beschluss über die Kostentragung in einem erledigten Klageverfahren verfassungswidrig ist.

In der Sache stritten der Beschwerdeführer und der Sozialhilfeträger um die Gewährung von Eingliederungshilfe (Begleitung in der offenen Ganztagsschule) für den schwerbehinderten Beschwerdeführer. Nachdem der Sozialhilfeträger mit Bescheid vom 6. Mai 2019 die ursprünglich auf das erste Schulhalbjahr befristeten Leistungen auch für das zweite Schulhalbjahr 2018/2019 bewilligt hatte, erklärte der Beschwerdeführer das Klageverfahren für erledigt. Der Sozialhilfeträger beantragte daraufhin eine Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG. Der Beschwerdeführer habe keinen Anspruch auf Erstattung seiner notwendigen Kosten, da der Sozialhilfeträger keinen Anlass für die Klageerhebung geboten habe. Die Entscheidung, die Eingliederungshilfe zunächst auf ein Schulhalbjahr zu befristen, sei rechtlich nicht zu beanstanden, da der Sozialhilfeträger zu prüfen habe, ob die Maßnahme weiterhin geeignet und passgenau sei.

Mit angegriffenem Beschluss vom 16. Juli 2019 stellte das Sozialgericht fest, dass der Sozialhilfeträger dem Beschwerdeführer keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten habe. Über die Kostentragung sei nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des Sach- und Streitstandes zu entscheiden. Danach habe der Sozialhilfeträger dem Beschwerdeführer keine außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten. Die Kammer habe schon erhebliche Zweifel, dass die Befristung zulässiger Streitgegenstand der Klage gewesen sei. Darüber hinaus habe die Kammer aber keinen Zweifel daran, dass die Befristung rechtmäßig erfolgt sei. Es sei zu beachten, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe zwingend regelmäßiger Überprüfung bedürften. Eine schulhalbjahresweise Betrachtung halte die Kammer für nachvollziehbar, auch das für die Befristung erforderliche Ermessen habe der Sozialhilfeträger zutreffend ausgeübt. Eine Ermessens-reduzierung auf Null – wie sie der Beschwerdeführer behaupte – sei abwegig. Der Beschluss wurde dem Beschwerdeführer zeitgleich mit dem Antrag des Sozial-hilfeträgers auf Kostenentscheidung am 24. Juli 2019 übersandt.

Mit Anhörungsrüge vom 5. August 2019 rügte der Beschwerdeführer die Verletzung rechtlichen Gehörs, da das Sozialgericht den Beschwerdeführer nicht vor Erlass der Entscheidung angehört habe. Im Rahmen seiner Abwägung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG hätte das Gericht berücksichtigen müssen, dass der noch streitgegenständliche Teil der begehrten Leistung durch den Sozialhilfeträger gewährt worden sei, der Beschwerdeführer mithin in vollem Umfang sein Klageziel erreicht habe. Die Befristungsentscheidung sei auch ermessensfehlerhaft gewesen, weil die sonderpädagogische Fachkraft des Sozialhilfeträgers einen Bedarf für das gesamte Schuljahr festgestellt habe.

Mit angegriffenem Beschluss vom 23. August 2019 – dem Beschwerdeführer zugestellt am 11. September 2019 – wies das Sozialgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers als unbegründet zurück. Die Kammer lasse offen, ob vor der Entscheidung des Gerichts dem Beschwerdeführer noch Gelegenheit zur Stellungnahme zu gewähren gewesen wäre, da jedenfalls eine entscheidungserhebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht vorliege. Der sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebende Anspruch auf die Gewährung rechtlichen Gehörs garantiere jedem Verfahrensbeteiligten, dass eine gerichtliche Entscheidung nicht ergehen dürfe, ohne dass er Gelegenheit gehabt habe, sich zu allen dieser Entscheidung zugrunde gelegten tatsächlichen Umständen zu äußern. Eine Verletzung dieses Anspruchs könne also nur gegeben sein, wenn das Gericht seine Entscheidung auf Tatsachen stütze, zu denen sich der Betroffene nicht habe äußern können. Ein solcher Fall liege hier nicht vor. Das Gericht habe vielmehr aufgrund der zum Zeitpunkt der Entscheidung aktenkundigen und allen Beteiligten bekannten Tatsachen eine rechtliche Bewertung vorgenommen und die beanstandete Entscheidung getroffen. Dies sei auch dann keine entscheidungserhebliche Verletzung rechtlichen Gehörs, wenn diese Entscheidung rechtlich fehlerhaft wäre. Mit seiner Anhörungsrüge habe der Beschwerdeführer keine neuen Tatsachen eingeführt oder zu tatsächlichen Umständen Stellung genommen. Er wiederhole lediglich in ausführlicher Form seine rechtliche Beurteilung der schon bei Entscheidung gerichtsbekannten Tatsachen. Im Ergebnis greife der Beschwerdeführer also die rechtliche Bewertung des Gerichts an. Eine rechtliche Fehlbeurteilung bekannter Tatsachen stelle aber keine im Rahmen der Anhörungsrüge zu korrigierende Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Unstreitig habe er vor Beschlussfassung keine Möglichkeit gehabt, sich zu den relevanten rechtlichen Erwägungen zu äußern. Die Rechtsauffassung des Gerichts sei überraschend. Hierzu hätte es ihm Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen. Die Verletzung rechtlichen Gehörs sei auch im Anhörungsrügeverfahren nicht geheilt worden, da sich das Gericht mit den rechtlichen Ausführungen des Beschwerdeführers nicht inhaltlich auseinandergesetzt habe.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die angegriffene Entscheidung vom 16. Juli 2019 verletzt den Beschwerdeführer in seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits geklärt (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Art. 103 Abs.1 GG gibt den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem für die jeweilige gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern, und verpflichtet das Gericht, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 86, 133 <144>; 98, 218 <263>; stRspr). Das Äußerungsrecht gilt dabei grundsätzlich auch für jede dem Gericht unterbreitete Stellungnahme der Gegenseite und deren Rechtsauffassung (vgl. BVerfGE 60, 175 <210> m.w.N.).

Nach diesen Grundsätzen verletzt der angegriffene Beschluss des Sozialgerichts vom 16. Juli 2019 den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG. Der Beschwerdeführer hatte keine Gelegenheit, sich zu dem Kostenantrag des Sozialhilfeträgers und der nachfolgenden Kostenentscheidung des Gerichts zu äußern.

Die Entscheidung beruht auch auf dem Verfassungsverstoß, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sozialgericht nach Anhörung des Beschwerdeführers und Berücksichtigung seines Vorbringens anders entschieden hätte.

Eine Heilung des Gehörsverstoßes im Anhörungsrügeverfahren (vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 24. Februar 2009 – 1 BvR 188/09 -, Rn. 13 ff.) ist nicht erfolgt. Das Sozialgericht hat sich im Anhörungsrügeverfahren nicht mit dem (rechtlichen) Vorbringen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt, da es rechtsfehlerhaft davon ausgegangen ist, dass Art. 103 Abs. 1 GG rechtliches Gehör nur hinsichtlich der tatsächlichen Grundlage der Entscheidung gewähre.

Auch im Übrigen ist nicht ausgeschlossen, dass sich das Sozialgericht vom Vorbringen des Beschwerdeführers zur Ermessensfehlerhaftigkeit der Befristungsentscheidung hätte überzeugen lassen. Zwar hatte der Beschwerdeführer bereits im Klageverfahren auf die fachpädagogische Einschätzung der Maßnahme verwiesen; das Sozialgericht hat sich damit in seiner Kostenentscheidung aber nicht ausdrücklich auseinandergesetzt. Es ist auf die Besonderheiten des konkreten Falls nicht eingegangen, sondern hat nur allgemein eine schulhalbjahresweise Bewilligung für sachgerecht erachtet. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass der erneute Vortrag des Beschwerdeführers die Berücksichtigung der Besonderheiten des konkreten Einzelfalls – insbesondere auch des Zeitpunkts der Leistungsbewilligung nach Begutachtung und Ablauf von 2/3 des ersten Schulhalbjahres – hätte erreichen können. Zudem hat der Beschwerdeführer seine Ausführungen insoweit weiter ergänzt und auch zur Frage des Streitgegenstands im Widerspruchsverfahren Stellung genommen.