Kostenerstattung bei Auslandsbehandlung aus religiösen Gründen

Der Europäische Gerichtshof hat am 29.10.2020 zum Aktenzeichen C-243/19 entschieden, ob es eine unzulässige Diskriminierung aus Gründen der Religion darstellt, wenn die Kostenerstattung für eine im Ausland erfolgte Operation mit der Begründung verwehrt wird, sie könne auch im Inland durchgeführt werden (dies allerdings nur mit einer Bluttransfusion, die den Zeugen Jehovas nach ihrem Glauben verboten ist).

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 134/2020 vom 29.10.2020 ergibt sich:

Der Sohn des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens sollte am offenen Herzen operiert werden. Diese Operation hätte im Versicherungsmitgliedstaat des Rechtsmittelführers, Lettland, durchgeführt werden können, allerdings nicht ohne Bluttransfusion. Der Rechtsmittelführer lehnte diese Behandlungsmethode aber mit der Begründung ab, dass er Zeuge Jehovas sei, und beantragte deshalb beim Nacionālais veselības dienests (nationaler Gesundheitsdienst, Lettland) eine Genehmigung, die es seinem Sohn gestatten würde, geplante Gesundheitsdienstleistungen in Polen in Anspruch zu nehmen, wo die Operation ohne Bluttransfusion durchgeführt werden könnte. Sein Antrag wurde abgelehnt, woraufhin er gegen die ablehnende Entscheidung des Gesundheitsdienstes Klage erhob. Diese wurde mit erstinstanzlichem Urteil abgewiesen, das in der Berufungsinstanz bestätigt wurde. In der Zwischenzeit wurde der Sohn des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens in Polen ohne Bluttransfusion am Herzen operiert.

Die mit einer Kassationsbeschwerde befasste Augstākā tiesa (Senāts) (Oberster Gerichtshof, Lettland) hat Zweifel, ob die lettischen Gesundheitsdienste die Ausstellung des diese Behandlung gestattenden Formulars auf der Grundlage ausschließlich medizinischer Kriterien ablehnen durften oder ob sie verpflichtet waren, dabei auch die religiösen Überzeugungen des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens zu berücksichtigen. Da das vorlegende Gericht wissen möchte, ob ein System der Vorabgenehmigung wie das in Rede stehende mit dem Unionsrecht vereinbar ist, hat es dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Die erste Frage bezieht sich auf die Auslegung von Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2004, L 166, 1, berichtigt im ABl. 2004, L 200, 1), der die Voraussetzungen festlegt, unter denen der Wohnsitzmitgliedstaat eines Versicherten, der die Genehmigung beantragt, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen, verpflichtet ist, die Genehmigung zu erteilen und folglich die Kosten der im anderen Mitgliedstaat empfangenen Gesundheitsdienstleistungen zu übernehmen, während sich die zweite Frage auf die Auslegung von Art. 8 der Richtlinie 2011/24 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (ABl. 2011, L 88, 45) bezieht, der die Systeme der Vorabgenehmigung für die Erstattung der Kosten grenzüberschreitender Gesundheitsdienstleistungen betrifft, jeweils betrachtet im Licht von Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der u.a. jede Diskriminierung wegen der Religion verbietet.

Der EuGH hat entschieden, dass die Weigerung des Versicherungsmitgliedstaats eines Patienten, eine Vorabgenehmigung für die Erstattung von Kosten grenzüberschreitender Gesundheitsdienstleistungen zu erteilen, wenn in diesem Staat eine wirksame Krankenhausbehandlung verfügbar ist, der Versicherte die angewandte Behandlungsmethode aber aufgrund seiner religiösen Überzeugungen ablehnt, eine mittelbar auf der Religion beruhende Ungleichbehandlung begründet. Diese Weigerung verstößt nicht gegen das Unionsrecht, wenn sie objektiv durch das legitime Ziel gerechtfertigt ist, einen bestimmten Umfang der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder ein bestimmtes Niveau der Heilkunde zu erhalten, und ein geeignetes und erforderliches Mittel darstellt, mit dem dieses Ziel erreicht werden kann.

Nach Auffassung des EuGH verwehrt Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 im Licht von Art. 21 Abs. 1 der Charta es dem Wohnsitzmitgliedstaat des Versicherten nicht, diesem die Erteilung der in Art. 20 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Genehmigung zu verweigern, wenn in diesem Mitgliedstaat eine Krankenhausbehandlung verfügbar ist, deren medizinische Wirksamkeit außer Frage steht, dieser Versicherte aber aufgrund seiner religiösen Überzeugungen die angewandte Behandlungsmethode ablehnt. Der EuGH hat hierzu u.a. festgestellt, dass die Weigerung, die von der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Vorabgenehmigung zu erteilen, eine mittelbar auf der Religion oder den religiösen Überzeugungen beruhende Ungleichbehandlung darstelle. Bei Patienten, die sich einem medizinischen Eingriff mit Bluttransfusion unterziehen, werden die entsprechenden Kosten nämlich vom sozialen Sicherungssystem des Wohnsitzmitgliedstaats gedeckt, wohingegen bei Patienten, die sich aus religiösen Gründen dafür entscheiden, sich in diesem Mitgliedstaat einem solchen Eingriff nicht zu unterziehen und in einem anderen Mitgliedstaat eine mit ihren religiösen Überzeugungen in Einklang stehende Behandlung in Anspruch zu nehmen, diese Kosten im Wohnsitzmitgliedstaat nicht gedeckt werden.

Eine solche unterschiedliche Behandlung sei gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruhe und in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehe. Dies sei vorliegend der Fall. Der EuGH hat zunächst festgestellt, dass, falls in einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Sachleistungen zu Kosten führen, die höher sind als die der Leistungen, die im Wohnsitzmitgliedstaat des Versicherten erbracht worden wären, die Pflicht zu einer vollständigen Erstattung Mehrkosten für diesen letztgenannten Mitgliedstaat verursachen kann. Wäre der zuständige Träger gezwungen, religiöse Überzeugungen des Versicherten zu berücksichtigen, könnten solche Mehrkosten in Anbetracht ihrer Unvorhersehbarkeit und ihres möglichen Ausmaßes zu einer Gefahr für die Notwendigkeit führen, die finanzielle Stabilität des Krankenversicherungssystems zu schützen, die ein vom Unionsrecht anerkanntes legitimes Ziel darstelle. Daraus sei zu schließen, dass der Versicherungsmitgliedstaat dann, wenn ein auf ausschließlich medizinische Kriterien ausgerichtetes System der Vorabgenehmigung nicht bestünde, einer zusätzlichen finanziellen Belastung ausgesetzt wäre, die schwer vorhersehbar wäre und zu einer Gefahr für die finanzielle Stabilität seines Krankenversicherungssystems führen könnte. Folglich erweise sich die fehlende Berücksichtigung der religiösen Überzeugungen des Betroffenen als eine Maßnahme, die in Anbetracht des vorgenannten Ziels gerechtfertigt sei und das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit erfülle.

Zudem verwehre Art. 8 Abs. 5 und Abs. 6 Buchst. d der Richtlinie 2011/24 im Licht von Art. 21 Abs. 1 der Charta es dem Versicherungsmitgliedstaat eines Patienten, diesem die Erteilung der in Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Genehmigung zu verweigern, wenn in diesem Mitgliedstaat eine Krankenhausbehandlung verfügbar sei, deren medizinische Wirksamkeit außer Frage stehe, dieser Patient aber aufgrund seiner religiösen Überzeugungen die angewandte Behandlungsmethode ablehne. Anders verhielte es sich, wenn diese Weigerung objektiv durch das legitime Ziel gerechtfertigt wäre, einen bestimmten Umfang der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder ein bestimmtes Niveau der Heilkunde zu erhalten, und ein geeignetes und erforderliches Mittel darstellen würde, mit dem dieses Ziel erreicht werden könne, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts sei.

Insoweit hat der EuGH zunächst festgestellt, dass das Ziel, die finanzielle Stabilität des Systems der sozialen Sicherheit zu schützen, von der lettischen Regierung nicht geltend gemacht werden kann, um die Weigerung zu rechtfertigen, die in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2011/24 vorgesehene Genehmigung unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens zu erteilen. Das mit der Verordnung Nr. 883/2004 eingeführte Erstattungssystem unterscheide sich nämlich von dem der Richtlinie 2011/24, da zum einen die von dieser Richtlinie vorgesehene Erstattung auf der Grundlage der für die Gesundheitsversorgung im Versicherungsmitgliedstaat geltenden Gebührenordnung berechnet werde, und zum anderen nur die tatsächlich durch die Gesundheitsversorgung entstandenen Kosten erstattet werden, wenn die Kosten der im Empfangsmitgliedstaat erbrachten Gesundheitsversorgung niedriger seien als die der im Versicherungsmitgliedstaat erbrachten Gesundheitsversorgung. In Anbetracht dieser doppelten Begrenzung könne für das Gesundheitssystem des Versicherungsmitgliedstaats keine mit der Übernahme der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung zusammenhängende Gefahr von Mehrkosten bestehen, und dieser Mitgliedstaat werde im Fall einer grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung grundsätzlich keiner zusätzlichen finanziellen Belastung ausgesetzt sein.

Was sodann das legitime Ziel betreffe, einen bestimmten Umfang der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder ein bestimmtes Niveau der Heilkunde zu erhalten, sei festzustellen, dass die Weigerung, die in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2011/24 vorgesehene Vorabgenehmigung zu erteilen, weil die in den Abs. 5 und 6 dieses Artikels vorgesehenen Voraussetzungen nicht vorlägen, eine mittelbar auf der Religion beruhende Ungleichbehandlung begründe. Für die Beurteilung, ob diese Ungleichbehandlung in Bezug auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig sei, habe das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die Berücksichtigung der religiösen Überzeugungen der Patienten bei der Umsetzung von Art. 8 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2011/24 zu einer Gefahr für die Planung von Krankenhausbehandlungen im Versicherungsmitgliedstaat führen könne.