Das Arbeitsgericht Köln hat am 18.11.2025 (Az. 13 Ca 3566/25) in einem Verfahren, in dem der klagende Arbeitnehmer von Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Usebach von der Kanzlei JURA.CC vertreten wurde, eine ordentliche krankheitsbedingte Kündigung für unwirksam erklärt. In dem Fall hatte ein langjähriger Arbeitnehmer eines großen Paket- und Logistikunternehmens (Beklagte) aufgrund häufiger Kurzerkrankungen die Kündigung erhalten. Der Arbeitnehmer wehrte sich mit einer Kündigungsschutzklage – mit Erfolg. Das Gericht stellte fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht beendet wurde und der Arbeitgeber den Arbeitnehmer weiterbeschäftigen muss, weil die Kündigung sozial ungerechtfertigt und unverhältnismäßig war.
Worum ging es konkret? Der Kläger war seit 2017 beschäftigt und in den Jahren 2021–2025 immer wieder arbeitsunfähig erkrankt – teils mit Attest, teils kurzfristig ohne Attest. Insgesamt summierten sich diese Fehlzeiten auf deutlich mehr als sechs Wochen pro Jahr. Der Arbeitgeber hatte ihm deshalb im Mai 2025 ordentlich zum 31.08.2025 gekündigt. Zwar hatte der Arbeitgeber zuvor ein Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) angeboten, dieses wurde jedoch auf Wunsch des Arbeitnehmers abgebrochen. Wichtig ist: Bereits zum 01.08.2024 hatten beide Seiten vereinbart, den Mitarbeiter aus der belastenden Nachtschicht im Freien in eine Büro-Tageschicht umzusetzen. In den rund 9 Monaten nach diesem Wechsel gingen die Fehlzeiten des Arbeitnehmers deutlich zurück – auf nur noch 23 Krankheitstage (hochgerechnet unterhalb der kritischen 6-Wochen-Grenze pro Jahr). Dennoch sprach der Arbeitgeber die Kündigung aus. Dies wertete das Gericht als voreilig und unverhältnismäßig, weil der Arbeitgeber dem neuen Arbeitsmodell nicht ausreichend Zeit zur Bewährung gegeben hatte.
Im Folgenden erklären wir die rechtlichen Grundlagen der krankheitsbedingten Kündigung und geben praxisnahe Tipps – getrennt nach Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Perspektive. Dabei gehen wir insbesondere auf die Rolle des BEM-Verfahrens und die Darlegungs- und Beweislast im Kündigungsschutzprozess ein.
Rechtliche Grundlagen: Kündigung wegen Krankheit und dreistufige Prüfung
Eine Kündigung aus Gründen in der Person des Arbeitnehmers (hier: Krankheit) ist nach dem Kündigungsschutzgesetz (KSchG) nur unter strengen Voraussetzungen sozial gerechtfertigt. Die Rechtsprechung – insbesondere das Bundesarbeitsgericht (BAG) – hat hierfür ein dreistufiges Prüfschema entwickelt:
- Negative Gesundheitsprognose: Zunächst muss zum Kündigungszeitpunkt eine negative Prognose hinsichtlich des Gesundheitszustands vorliegen. Das bedeutet, es bestehen objektive Tatsachen, die befürchten lassen, dass der Arbeitnehmer auch in Zukunft in ähnlichem Umfang krankheitsbedingt fehlen wird. Als Faustregel gilt: häufige Kurzerkrankungen, die insgesamt mehr als sechs Wochen pro Jahr in den letzten Jahren ausmachten, indizieren eine negative Prognose. Wichtig: Es kommt nicht unbedingt auf einen zusammenhängenden Krankheitsblock an – auch viele kurze Ausfälle können genügen. Entscheidend ist die Situation im Zeitpunkt der Kündigung; spätere gesundheitliche Entwicklungen ändern die Prognose grundsätzlich nicht. Die Darlegungs- und Beweislast für diese Prognose liegt beim Arbeitgeber.
- Erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen: Die prognostizierten künftigen Fehlzeiten müssen zu erheblichen betrieblichen oder wirtschaftlichen Beeinträchtigungen führen. Dazu zählen z.B. Störungen im Betriebsablauf (Produktionsausfälle, verstärkte Belastung des restlichen Personals) oder erhebliche Entgeltfortzahlungskosten. Die Rechtsprechung sieht regelmäßig eine wirtschaftliche Belastung als kritisch an, wenn der Arbeitgeber wegen der Krankheit jährlich länger als sechs Wochen Lohnfortzahlung leisten muss. Im vorliegenden Urteil hatte der Arbeitgeber etwa im Jahr vor der Kündigung 72 Fehltage und fast 9.500 € an Entgeltfortzahlungskosten aufzählen können – grundsätzlich also ein gewichtiges betriebliches Interesse. Gleichwohl muss der Arbeitgeber zumutbare Überbrückungsmaßnahmen prüfen (Einsatz von Reserven, Umverteilung von Arbeit), bevor er kündigt.
- Interessenabwägung und Ultima Ratio: Schließlich – auf der dritten Stufe – ist eine umfassende Interessenabwägung durchzuführen. Dabei wird geprüft, ob die Kündigung als letztes Mittel (ultima ratio) wirklich unvermeidbar war oder ob der Arbeitgeber die Beeinträchtigungen nicht anderweitig zumutbar hinnehmen bzw. durch mildere Mittel beheben konnte. Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist eine krankheitsbedingte Kündigung nämlich unwirksam, solange der Arbeitgeber nicht alle zumutbaren, milderen Mittel ausgeschöpft hat, um zukünftige Fehlzeiten zu vermeiden. Zu diesen milderen Mitteln kann z.B. eine Anpassung des Arbeitsplatzes, Versetzung auf einen anderen geeigneten Arbeitsplatz oder Änderung der Arbeitsbedingungen gehören. Konkret gehört zu den „kündigungsrelevanten“ Tatsachen auch, dass keine alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten für den Arbeitnehmer bestehen, mit denen ein störungsfreier Einsatz künftig möglich erscheint. Die Darlegungslast für dieses Fehlen von Alternativen trägt der Arbeitgebe. Kurz gesagt: Der Arbeitgeber muss vor einer Kündigung alle sinnvollen Maßnahmen erwägen (und möglichst ergreifen), die den Arbeitsplatz trotz Krankheit erhalten könnten – die Kündigung darf wirklich nur das allerletzte Mittel sein.
Im Ergebnis scheiterte die Kündigung im Kölner Urteil an dieser dritten Stufe: Selbst wenn man dem Arbeitgeber die negative Prognose und erhebliche Beeinträchtigung zugutehielt, war die Kündigung unverhältnismäßig. Der Arbeitgeber hatte bereits durch die Umsetzung des Mitarbeiters ins Büro einen weniger belastenden Arbeitsplatz geschaffen – dieses mildere Mittel hätte weiter erprobt werden müssen, statt vorschnell zu kündigen. Die nur noch geringen Fehlzeiten nach dem Wechsel deuteten darauf hin, dass künftig die kritische Schwelle von 6 Wochen Krankheit pro Jahr nicht mehr überschritten würde. Daher hätte der Arbeitgeber diese Entwicklung abwarten müssen.
Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) und Darlegungslast des Arbeitgebers
Eine zentrale Rolle bei krankheitsbedingten Kündigungen spielt das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) nach § 167 Abs. 2 SGB IX. Dieses gesetzlich vorgesehene Verfahren soll – in Zusammenarbeit von Arbeitgeber, Arbeitnehmer und ggf. Interessenvertretungen (Betriebsrat, Schwerbehindertenvertretung) – Möglichkeiten ermitteln, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden und künftigen Erkrankungen vorgebeugt werden kann, um das Arbeitsverhältnis möglichst zu erhalten. Kurz gesagt ist das BEM ein ergebnisoffener Suchprozess nach Lösungen, z.B. Umgestaltung des Arbeitsplatzes, Anpassung der Arbeitsbedingungen oder Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz, um eine Kündigung zu vermeiden.
Wann ist ein BEM durchzuführen? Immer dann, wenn ein Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen am Stück oder wiederholt arbeitsunfähig ist, muss der Arbeitgeber dem Mitarbeiter ein BEM anbieten. Das gilt unabhängig davon, ob eine Schwerbehinderung vorliegt. Im vorliegenden Fall waren die Voraussetzungen dafür eindeutig erfüllt. Wichtig: Die Durchführung des BEM setzt das Einverständnis des Arbeitnehmers voraus. Der Arbeitgeber muss den Mitarbeiter über Ziele und Ablauf aufklären und um Zustimmung bitten. Lehnt der Arbeitnehmer ein ordnungsgemäß angebotenes BEM ab, ist das Unterbleiben des BEM rechtlich “kündigungsneutral”. Das heißt, dem Arbeitgeber erwächst daraus kein unmittelbarer Nachteil im Kündigungsschutzprozess – er hat seiner Pflicht genügt, das Verfahren anzubieten. Im entschiedenen Fall hatte der Kläger das BEM im April 2025 auf eigenen Wunsch abgebrochen; der Arbeitgeber durfte dies grundsätzlich als Ablehnung werten und muss sich den Abbruch nicht vorwerfen lassen.
Allerdings bedeutet ein unterbliebenes oder abgebrochenes BEM nicht, dass der Arbeitgeber nun ohne Weiteres kündigen kann. Ohne ein durchgeführtes BEM hat der Arbeitgeber im Prozess eine erhöhte Darlegungslast: Er kann sich nicht einfach pauschal darauf berufen, es gebe keine anderen Einsatzmöglichkeiten, und zur Tagesordnung übergehen. Vielmehr muss er *konkret von sich aus mögliche Alternativen prüfen und im Prozess darlegen, warum weder der bisherige Arbeitsplatz durch zumutbare Anpassungen noch ein anderer leidensgerechter Arbeitsplatz in Betracht kommen. Denkbare – oder vom Arbeitnehmer bereits außerhalb des Gerichts ins Spiel gebrachte – Alternativen muss der Arbeitgeber also durchgehen und nachvollziehbar ausschließen. Erst wenn der Arbeitgeber diese Konkretisierung geliefert hat, ist der Arbeitnehmer überhaupt in der Pflicht, aufzuzeigen, wie er sich seine Weiterbeschäftigung trotz Krankheit vorstellt.
Hat der Arbeitgeber hingegen ein ordnungsgemäßes BEM durchgeführt, ergeben sich Folgen für die Darlegungs- und Beweislast abhängig vom Ergebnis:
- BEM ergab keine Lösung (negatives Ergebnis): Dann kann der Arbeitgeber im Prozess einfach darauf verweisen – das BEM hat ergeben, dass es keine Möglichkeit gibt, die Krankheiten in den Griff zu bekommen oder anderweitig eine Weiterbeschäftigung zu ermöglichen. In diesem Fall genügt er seiner Darlegungslast schon mit dem Hinweis auf das ergebnislose BEM. Der Arbeitnehmer kann später nicht erfolgreich Alternativen ins Feld führen, die im BEM bereits diskutiert und verworfen wurden oder die er im BEM hätte ansprechen können. (Nur neue Umstände, die erst nach Abschluss des BEM entstanden sind, darf der Arbeitnehmer dann noch vorbringen.)
- BEM ergab eine Lösung (positives Ergebnis): Dann ist der Arbeitgeber verpflichtet, die empfohlene Maßnahme zunächst umzusetzen, bevor er eine Kündigung ausspricht. Tut er das nicht, wird die Kündigung in der Regel unverhältnismäßig sein. – Genau hier setzte das Arbeitsgericht Köln in unserem Fall an: Auch wenn das formale BEM ergebnislos abgebrochen wurde, hatte man informell bereits eine Maßnahme umgesetzt (Versetzung ins Büro). Dieser “BEM-Erfolg außerhalb des BEM” – nämlich die Aussicht, dass der Arbeitnehmer am neuen Arbeitsplatz viel weniger ausfällt – hätte vom Arbeitgeber weiter verfolgt werden müssen, statt vorschnell zu kündigen. Die Ultima-Ratio-Maxime verlangt, dass erst nach Scheitern auch dieses letzten Mittels zur Verringerung der Fehlzeiten eine Kündigung ausgesprochen werden darf.
Zwischenergebnis: Ein ordnungsgemäß angebotenes BEM ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, aber keine formale Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung. Verzichtet der Arbeitnehmer darauf, darf der Arbeitgeber die Kündigung zwar rein rechtlich ohne BEM aussprechen. Er muss dann im Prozess jedoch umso genauer darlegen, dass ein BEM vermutlich auch keine zum Erhalt des Arbeitsverhältnisses geeignete Lösung gebracht hätte – praktisch indem er genau die Überlegungen anstellt, die ein BEM bezweckt hätte. Arbeitgeber sind daher gut beraten, das BEM nicht bloß pro forma anzubieten, sondern ernsthaft zu betreiben. Denn jede realistische Chance auf Weiterbeschäftigung unter angepassten Bedingungen muss genutzt werden, um der Kündigung standzuhalten.
Tipps für Arbeitnehmer: Wie verhalte ich mich bei häufiger Krankheit und Kündigungsgefahr?
Kooperation im BEM-Verfahren: Wenn Ihnen ein BEM angeboten wird, nutzen Sie die Chance! Dieses Verfahren soll Ihnen helfen, im Job zu bleiben. Stimmen Sie der Durchführung zu und bringen Sie sich aktiv ein: Besprechen Sie ehrlich, welche gesundheitlichen Probleme bestehen und welche Anpassungen des Arbeitsplatzes oder Änderungen der Tätigkeit helfen könnten. Tipp: Bringen Sie eigene Vorschläge ein (z.B. Versetzung an einen weniger belastenden Arbeitsplatz, technische Hilfsmittel, flexible Arbeitszeiten). Nur was im BEM besprochen wird, kann später auch berücksichtigt werden. Alternativen, die Sie im BEM nicht erwähnen, können Sie im Kündigungsschutzprozess nur schwer nachträglich ins Spiel bringen. Ihr Arbeitgeber muss zwar von sich aus Möglichkeiten prüfen, aber Ihre Mithilfe erhöht die Erfolgschancen.
Wenn Sie dem BEM ohne guten Grund fernbleiben oder es abbrechen, verschenken Sie möglicherweise eine wichtige Möglichkeit. Zwar wird Ihnen das vor Gericht nicht direkt als „Schuld“ angelastet (das Unterlassen des BEM ist neutral), aber bedenken Sie: Ohne BEM fehlt ein strukturierter Suchprozess nach Lösungen. Dann ist es für den Arbeitgeber leichter, pauschal zu sagen, es gebe keine Alternative – und Sie müssen mühsam im Prozess darlegen, wie es doch gegangen wäre. Also: Zusammenarbeit kann Ihren Arbeitsplatz retten.
Medizinische Unterlagen und Prognose entkräften: Bei einer Kündigung wegen Krankheit sollten Sie möglichst nachweisen, dass keine negative Zukunftsprognose gerechtfertigt ist. Befreien Sie Ihre behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht und legen Sie Atteste oder Berichte vor, die zeigen, dass Ihre Erkrankungen ausgeheilt sind oder sich nicht chronisch verfestigen. Im besprochenen Fall argumentierte der Arbeitnehmer z.B., seine vielen Fehlzeiten 2024 stammten im Wesentlichen aus einem einmaligen Ereignis (Verdacht auf Herzinfarkt, depressive Episode), das überwunden sei. Wenn Ihre Krankheiten der Vergangenheit angehören oder erfolgreich behandelt werden, sinkt die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Fehlzeiten – und damit entfällt eine wichtige Voraussetzung für die Kündigung. Sie müssen zwar nicht beweisen, dass Sie garantiert gesund bleiben (das wäre unmöglich), aber je konkreter Sie eine positive Gesundheitsprognose untermauern, desto schwerer tut sich der Arbeitgeber mit dem Gegenargument.
Veränderungen am Arbeitsplatz nutzen: Oft hängen häufige Krankheiten mit den Arbeitsumständen zusammen – sei es körperliche Belastung, Schichtarbeit oder psychischer Stress. Zögern Sie nicht, mit Ihrem Arbeitgeber über leidensgerechte Anpassungen zu sprechen. Das können kleine Änderungen sein (ergonomischer Stuhl, Lärmschutz, Klimatisierung) oder größere (Wechsel der Abteilung/Schicht, andere Aufgaben). Im Kölner Fall zeigte sich, dass der Wechsel von der kalten Nachtschicht draußen ins Büro am Tag ein echter Game-Changer für die Gesundheit des Mitarbeiters war. Solche Änderungen außerhalb eines BEM können genauso wertvoll sein. Wichtig für Arbeitnehmer: Lassen Sie sich solche Abmachungen möglichst schriftlich geben und dokumentieren Sie, falls sich Ihre Gesundheitssituation dadurch verbessert. Diese Informationen sind im Streitfall Gold wert, um zu belegen, dass eine Kündigung nicht mehr notwendig war, weil bereits erfolgreich gegengesteuert wurde.
Kündigungsschutzklage nicht scheuen: Wenn Ihnen dennoch gekündigt wird, prüfen Sie umgehend die Möglichkeit einer Kündigungsschutzklage. Innerhalb von 3 Wochen nach Zugang der Kündigung müssen Sie Klage erheben (§ 4 KSchG), sonst wird die Kündigung wirksam – egal wie ungerechtfertigt sie war. Mit anwaltlicher Hilfe können Sie vor Gericht darlegen, warum die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist. Im Prozess kommt es auf die oben genannten Punkte an: Ist die Prognose wirklich so schlecht? Sind die betrieblichen Beeinträchtigungen wirklich erheblich? Hätte der Arbeitgeber nicht doch etwas anders machen können? Hier zahlt es sich aus, wenn Sie mit Belegen (Atteste, Schriftwechsel zum BEM, interne Mails über Versetzungen etc.) argumentieren können. Die Gerichte schauen genau hin: Ist die Kündigung als letztes Mittel unvermeidbar gewesen oder gab es eine andere Lösung? Wenn Zweifel bestehen, entscheidet das Arbeitsgericht im Zweifel zugunsten des Arbeitnehmers – wie im geschilderten Urteil geschehen.
Anspruch auf Weiterbeschäftigung nutzen: Wurde eine Kündigung vom Gericht für unwirksam erklärt (oder bestehen im laufenden Verfahren gute Aussichten dafür), haben Arbeitnehmer ein Recht auf Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens. Das bedeutet, Sie können verlangen, vorläufig weiter im Betrieb zu arbeiten. Auch im aktuellen Fall musste der Arbeitgeber vom Gericht verpflichtet werden, den Kläger über das Kündigungsdatum hinaus zu unveränderten Bedingungen weiterzubeschäftigen. Dieses Recht ergibt sich aus dem Arbeitsvertrag und der Rechtsprechung (BAG, Großer Senat, Beschl. v. 27.02.1985 – GS 1/84) und gilt jedenfalls, sobald ein erstinstanzliches Urteil zu Ihren Gunsten vorliegt. Nutzen Sie dies, um nicht in eine lange Erwerbslosigkeit zu geraten, während der Prozess eventuell in die nächste Instanz geht.
Tipps für Arbeitgeber: Wie lässt sich eine krankheitsbedingte Kündigung rechtssicher gestalten?
Voraussetzungen streng prüfen (KSchG-Bereich): Eine Kündigung wegen Krankheit ist nur in Betrieben mit regelmäßig >10 Beschäftigten und bei Arbeitnehmern mit >6 Monaten Betriebszugehörigkeit überhaupt nach den strengen Maßstäben des KSchG zu rechtfertigen. Außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes (Kleinbetriebe, kurze Betriebszugehörigkeit) haben Sie zwar mehr Spielraum – doch Vorsicht: Auch dort können extrem ungewöhnliche Kündigungen sittenwidrig oder diskriminierend sein. Im Normalfall gilt: Wenn das KSchG anwendbar ist, bereiten Sie die drei Prüfungspunkte (siehe oben) sorgfältig auf. Dokumentieren Sie die Fehlzeiten des Mitarbeiters über die letzten Jahre detailliert (Daten, Dauer, ggf. Diagnosen soweit bekannt). Holen Sie bei Bedarf medizinische Einschätzungen ein, ob eine negative Gesundheitsprognose gegeben ist. Stellen Sie außerdem die betrieblichen Auswirkungen klar dar: Wie haben sich die Ausfälle auf den Betriebsablauf ausgewirkt? Mussten Kollegen ständig einspringen, gab es Produktionsengpässe, oder sind messbare Kosten durch Entgeltfortzahlung entstanden? Wenn möglich, beziffern Sie die Entgeltfortzahlungskosten (im besprochenen Fall wurden z.B. rund 11.600 € im Jahr 2023/24 und 9.500 € im Jahr 2024/25 als Kosten genannt). Solche Fakten untermauern im Prozess die erhebliche Beeinträchtigung Ihrer Interessen.
BEM stets anbieten und ordentlich durchführen: Überschreitet die Krankheitsdauer des Mitarbeiters 6 Wochen im Jahr, müssen Sie ein Betriebliches Eingliederungsmanagement anbieten. Tun Sie dies am besten schriftlich und klären Sie den Mitarbeiter über Zweck und Ablauf auf (Ziel: Gesundheit stabilisieren, Kündigung vermeiden). Kommt es zum BEM, nehmen Sie es ernst: Es ist kein bloßer Formalismus, sondern kann Ihnen helfen, eine Lösung zu finden und später vor Gericht zu zeigen, dass Sie alles versucht haben. Tipp: Laden Sie den Betriebsrat zum BEM-Gespräch ein (sofern der Mitarbeiter zustimmt) und dokumentieren Sie die besprochenen Inhalte und Vorschläge. Sollte der Mitarbeiter das BEM ablehnen oder abbrechen, ist dies seine Entscheidung – das BEM-Unterlassen ist dann kündigungsneutral. Aber Achtung: “Neutral” heißt nur, dass Ihnen kein prozessualer Nachteil allein daraus entsteht. Die Pflicht zur Suche nach milderen Mitteln bleibt! Es empfiehlt sich, auch ohne formelles BEM zu überlegen, welche Änderungen oder Einsätze denkbar sind, um die Fehlzeiten zu reduzieren. Diese Überlegungen sollten Sie vor Kündigungsausspruch anstellen und dokumentieren.
Mögliche Alternativen durchspielen (leidensgerechter Arbeitsplatz): Bevor Sie kündigen, fragen Sie sich: Kann der Mitarbeiter vielleicht an einem anderen Arbeitsplatz oder unter geänderten Bedingungen weiterbeschäftigt werden? Gibt es z.B. eine Umsetzung in eine Abteilung mit weniger körperlicher Belastung, einen Wechsel von Nacht- auf Tagarbeit, Teilzeitangebote, Homeoffice-Möglichkeiten oder technische Hilfen, die seine Fehlzeiten verringern könnten? Jede dieser Optionen ist ein milderes Mittel gegenüber der Kündigung. Sie müssen solche Alternativen nicht ins Unendliche ausdehnen – aber das Gericht erwartet, dass Sie alles, was betrieblich zumutbar und sinnvoll erscheint, zumindest erwogen haben. Falls Sie zu dem Schluss kommen, dass keine Alternative infrage kommt, sollten Sie dies im Kündigungsschreiben oder spätestens im Prozess substantiiert darlegen: Warum hilft z.B. auch ein anderer Arbeitsplatz nichts? Warum sind keine Anpassungen möglich? Nur wenn überhaupt keine zumutbare Weiterbeschäftigungsmöglichkeit besteht, ist die Kündigung wirklich letzte Maßnahme. Im Kölner Urteil wurde dem Arbeitgeber gerade vorgehalten, dass er eine funktionierende Alternative (Büroarbeit statt Außeneinsatz) bereits hatte, diese aber nicht lange genug fortführte. Lehre: Wenn eine Maßnahme zur Reduktion der Fehlzeiten in Reichweite ist, muss diese ausgeschöpft werden, bevor gekündigt wird.
Dokumentation der BEM-Ergebnisse oder Überlegungen: Sollte ein BEM durchgeführt worden sein, werten Sie dessen Ergebnis aus: – Wurden keine geeigneten Maßnahmen gefunden, um die Fehlzeiten zu senken? Dokumentieren Sie, wer daran teilgenommen hat und dass alle Beteiligten zu dem Schluss kamen, es gebe keine Lösung. Im Prozess können Sie sich dann darauf berufen. Der Vorteil: Der Mitarbeiter ist dann in Zugzwang, neue Aspekte vorzubringen – was schwierig ist, wenn im BEM schon alles ergebnislos versucht wurde. – Wurde im BEM eine Maßnahme vorgeschlagen (z.B. Anpassung Arbeitsplatz, Schulung, Reha)? Setzen Sie diese um! Eine vom BEM empfohlene Maßnahme nicht umzusetzen und stattdessen zu kündigen, bringt Sie vor Gericht praktisch auf die Verliererstraße. Das Gericht wird fragen, warum Sie nicht erst den Vorschlag umgesetzt haben (Stichwort: Kündigung nicht erforderlich, milderes Mittel vorhanden).
Wenn mangels BEM formelle Ergebnisse fehlen, protokollieren Sie Ihre eigenen Bemühungen: z.B. “Kein alternativer Arbeitsplatz vorhanden, weil Abteilung X schon voll besetzt und keine leichteren Tätigkeiten verfügbar” oder “Mitarbeiter lehnte Versetzungsvorschlag am <Datum> ab”. So etwas zeigt, dass Sie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beachtet haben.
Im Prozess: Darlegungslast erfüllen und überzeugend vortragen: Kommt es zum Kündigungsschutzprozess, tragen Sie als Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast für die sozialrechtfertigenden Gründe (§ 1 Abs.2 KSchG). Sie sollten also möglichst umfassend zu allen drei Prüfungsstufen vortragen: – Zur Prognose: Führen Sie die Fehlzeiten chronologisch auf (ggf. tabellarisch) und untermauern Sie die Wiederholungsgefahr. Gab es ärztliche Gutachten oder betriebsärztliche Einschätzungen? Legen Sie diese vor, falls vorhanden. Im Zweifel kann auch ein späterer Vortrag nach § 67 ArbGG mit ärztlichen Attesten nötig sein, wenn das Gericht Zweifel an der Prognose hat. – Zu den Beeinträchtigungen: Machen Sie deutlich, welche Belastungen die Ausfälle brachten. Zum Beispiel: “In 12 von 18 Monaten fielen Lohnfortzahlungskosten über dem üblichen Maß an, nämlich insgesamt X Euro. Außerdem musste der Schichtplan ständig geändert werden, Überstunden anderer Mitarbeiter stiegen um Y Stunden.” Solche Tatsachen zeigen, dass Sie die Fehlzeiten nicht einfach so auffangen konnten. – Zur Verhältnismäßigkeit: Hier kommt es besonders auf Ihre Bereitschaft zu milderen Mitteln an. Tragen Sie alles vor, was Sie versucht oder angeboten haben: BEM (mit Datum der Einladung, ggf. Gesprächsnotizen), vorgeschlagene Versetzungen, Gespräche mit dem Mitarbeiter über Teilzeit oder ähnliche Maßnahmen. Wenn der Mitarbeiter Vorschläge gemacht hat, erklären Sie, warum diese nicht umsetzbar oder erfolglos waren. Achtung: Haben Sie kein BEM angeboten (obwohl nötig) oder keine Alternativen geprüft, wird das Gericht sehr kritisch sein. In so einem Fall müssen Sie detailliert ausführen, warum auch ein BEM nichts geändert hätte – de facto eine schwierige Argumentation. Besser ist es, solche Schritte gar nicht erst auszulassen.
Timing und “angespannte” Situationen beachten: Eine Kündigung unmittelbar nachdem der Arbeitnehmer aus längerer Krankheit zurückkehrt oder kurz nach einer Umsetzungs-/Rehabilitationsmaßnahme ist heikel. Fragen Sie sich, ob genügend Zeit war, um den Erfolg einer Maßnahme zu beurteilen. Im Kölner Urteil z.B. war der Mitarbeiter erst 9 Monate auf dem neuen Posten, und die Fehlzeiten sanken deutlich – hier hätte man zumindest ein volles Jahr abwarten sollen, um eine belastbare Prognose zu haben. Ein voreiliger Kündigungszeitpunkt kann Ihnen als Ungeduld oder mangelnde Rücksicht ausgelegt werden. Im Zweifel lieber noch ein paar Monate Beobachtung anhängen (solange die Fehlzeiten unter Kontrolle bleiben), als vorschnell kündigen und vor Gericht zu verlieren. Denn: Kündigt man zu früh, riskiert man eine gerichtliche Niederlage und muss den Mitarbeiter dann weiterbeschäftigen, was auch die Betriebsruhe belasten kann.
Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Köln zeigt eindrücklich, dass krankheitsbedingte Kündigungen kein Selbstläufer sind – weder für Arbeitgeber noch für Arbeitnehmer. Arbeitgeber müssen ein krankheitsbedingtes Fehlzeitenproblem mit Sorgfalt und Augenmaß angehen: Zunächst die gesetzlichen Pflichten wie BEM erfüllen, dann kreative Lösungen im Betrieb suchen und erst als wirklich letzte Option zur Kündigung greifen. Andernfalls halten Kündigungen einer gerichtlichen Überprüfung kaum stand. Arbeitnehmer wiederum sollten aktiv mitwirken, um ihren Arbeitsplatz trotz gesundheitlicher Probleme zu erhalten – sei es im BEM oder durch Kommunikation mit dem Arbeitgeber. Wichtig ist, die eigene Arbeitsfähigkeit glaubhaft zu machen und gemeinsam nach Wegen zu suchen, die Situation zu verbessern.
Für beide Seiten gilt: Eine Kündigung ist erst der Schlusspunkt, wenn wirklich keine Perspektive für eine leidensgerechte Weiterbeschäftigung besteht. Fälle wie der vor dem ArbG Köln machen deutlich, dass Gerichte sehr genau hinschauen, ob dieses Ultima-Ratio-Prinzip eingehalten wurde. Arbeitgebern, die vorschnell handeln, droht eine teure Rückabwicklung der Kündigung – und Arbeitnehmer, die vorschnell aufgeben, verspielen Chancen auf Weiterbeschäftigung. Im Zweifel lohnt es sich, fachanwaltliche Beratung einzuholen: für Arbeitgeber, um vor Ausspruch der Kündigung alle Schritte richtig zu planen, und für Arbeitnehmer, um ihre Rechte im Krankheitsfall effektiv zu wahren. Denn eins ist klar: Krank zu sein ist kein Kündigungsgrund, solange es Alternativen zur Kündigung gibt.