Ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) bringt Klarheit für Betriebsräte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer: Erfährt der Betriebsrat erst am Tag der Sitzung vom Ausfall eines Mitglieds, muss nicht hastig ein Ersatzmitglied geladen werden. In dem entschiedenen Fall durfte daher eine Betriebsvereinbarung, die die Gehälter einiger Mitarbeiter durch Kürzung eines Sockelbetrags senkte, als wirksam genehmigt gelten. Der klagende Arbeitnehmer – beschäftigt bis Ende 2021 bei einer nicht tarifgebundenen Metallfirma – hatte auf Weiterzahlung seines alten Entgelts nach der ursprünglichen Betriebsvereinbarung bestanden. Er hielt die neue Betriebsvereinbarung (BV 2020), die ab 2022 den Sockelbetrag um 25 % kürzte, für unwirksam. Zwar hatte das Landesarbeitsgericht (LAG) dem Mitarbeiter zunächst Recht gegeben und verlangt, dass bei kurzfristigem Ausfall telefonisch oder per E-Mail noch ein Ersatzmitglied eingeladen werden müsse. Doch das BAG hob dieses Urteil auf und wies die Klage ab: Die Entgeltkürzung war wirksam vereinbart, und der Betriebsratsbeschluss zur Genehmigung der BV 2020 war trotz des fehlenden Ersatzmitglieds gültig.
Nachträgliche Genehmigung – keine Ersatzladung bei kurzfristiger Absage
Betriebsvereinbarungen brauchen einen gültigen Betriebsratsbeschluss: Ohne ordnungsgemäßen Beschluss des Betriebsrats ist eine vom Vorsitzenden unterschriebene Betriebsvereinbarung zunächst schwebend unwirksam. Im Klartext: Sie entfaltet keine Wirkung, bis der Betriebsrat das Versäumte nachholt. Genau das geschah hier – wenn auch mit Verzögerung. Nachdem der Kläger gegen die Gehaltskürzung geklagt hatte, fasste der Betriebsrat im Juli 2023 vorsorglich einen Genehmigungsbeschluss zu der bereits 2020 unterschriebenen Nachtrags-BV. Diesen Schritt hat das BAG ausdrücklich gebilligt. Der zunächst formell fehlerhafte Abschluss der BV 2020 konnte rückwirkend geheilt werden, weil der Betriebsrat die Vereinbarung später ordnungsgemäß bestätigte. Die nachträgliche Genehmigung wirkte auf den Zeitpunkt der Unterzeichnung zurück.
Kurzfristiger Ausfall eines Mitglieds: Problematisch war jedoch die Zusammensetzung der Betriebsratssitzung im Juli 2023. Grundsätzlich gilt: Ist ein Betriebsratsmitglied verhindert, muss ein verfügbares Ersatzmitglied geladen werden (§ 29 Abs. 2 BetrVG). Nur ein vollständig und korrekt geladener Betriebsrat kann wirksam Beschlüsse fassen. Hier waren zunächst alle regulären Mitglieder eingeladen, und für zwei bereits feststehende Ausfälle waren Ersatzmitglieder geladen. Doch am Vormittag des Sitzungstags meldete sich ein weiteres Mitglied krank. Ohne das kurzfristig verhinderte Mitglied zu ersetzen, trat der Betriebsrat trotzdem nachmittags zur Beschlussfassung zusammen.
Das BAG hat diese Vorgehensweise gebilligt: Eine Nachladung am selben Tag war nicht mehr zumutbar. Der Senat stellte klar, dass der Betriebsratsvorsitzende in der Praxis regelmäßig davon ausgehen darf, eine kurzfristige Einladung sei „nicht mehr rechtzeitig“ möglich, wenn ihm die Verhinderung erst am Tag der Sitzung bekannt wird. In diesem Fall verletzt das Fehlen einer Ersatzladung nicht die Ladungspflicht, und der Betriebsratsbeschluss ist dennoch gültig.
Hinweis für Betriebsräte: Bei angekündigten Ausfällen im Voraus muss natürlich stets ein Ersatzmitglied geladen werden. Wird ein Mitglied jedoch erst kurzfristig (z. B. am Morgen des Sitzungstags) krank oder verhindert, dürfen Sie den Beschluss meist auch ohne weiteres Ersatzmitglied fassen. Dokumentieren Sie den Zeitpunkt, an dem die Verhinderung bekannt wurde, um im Streitfall nachzuweisen, dass eine Nachladung tatsächlich nicht mehr rechtzeitig möglich war. Im Zweifel sollte der*die Vorsitzende versuchen, das Ersatzmitglied schnell zu erreichen – ist dies aber nicht machbar oder erscheint es unvernünftig (etwa wegen fehlender Vorbereitungszeit), bleibt der Beschluss gleichwohl wirksam.
Entgeltkürzung per Betriebsvereinbarung: zulässig und wirksam
Tarifvorbehalt vs. Betriebsvereinbarung: Der Kläger argumentierte, die Kürzung des Sockelbetrags verstoße gegen § 77 Abs. 3 BetrVG. Dieser Tarifvorbehalt verbietet Betriebsvereinbarungen über Arbeitsentgelte, die in Tarifverträgen geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden. Doch das BAG verneinte einen Verstoß. Zum einen war der Arbeitgeber gar nicht tarifgebunden, sodass keine Tarifregelung im Betrieb galt. Vor allem aber betraf die BV 2020 einen Bereich der zwingenden Mitbestimmung: Die Ausgestaltung der betrieblichen Entgeltstruktur fällt unter § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG (Mitbestimmung bei Lohngestaltung). Hier darf der Betriebsrat mitentscheiden, auch wenn ein Tarifvertrag existiert – der Tarifvorbehalt greift in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten nicht. Im Ergebnis durfte die Betriebsvereinbarung den Sockelbetrag und dessen Entwicklung regeln, ohne gegen gesetzliche Grenzen zu verstoßen.
Keine unzulässige Rückwirkung: Betriebsparteien können Vereinbarungen grundsätzlich jederzeit mit Wirkung für die Zukunft ändern, auch zu Ungunsten der Arbeitnehmer. Zwischen zwei gleichrangigen Betriebsvereinbarungen gilt die Zeitkollisionsregel („jung bricht alt“), nicht das Günstigkeitsprinzip. Allerdings können neue Regeln nicht schrankenlos in bereits erworbene Rechte eingreifen – Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit setzen Grenzen. Eine echte Rückwirkung (z. B. das nachträgliche Kürzen bereits verdienter Entgelte) wäre unzulässig. Im vorliegenden Fall lagen solche Bedenken aber fern: Die Kürzung war lange im Voraus vereinbart (Dezember 2020) und galt erst ab Januar 2022, also prospektiv. Die Arbeitnehmer hatten Gelegenheit, sich darauf einzustellen. Zudem wurde der Sockelbetrag nicht vollständig gestrichen, sondern nur zu 25 % reduziert und für die Zukunft eingefroren – eine Maßnahme, die das BAG für zumutbar hält. Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes oder der Verhältnismäßigkeit standen der Ablösung der alten BV 2007 daher nicht entgegen.
Keine individuellen Ansprüche auf alte Betriebsvereinbarungen: Häufig werden Inhalte von Betriebsvereinbarungen auch im Arbeitsvertrag erwähnt oder bestätigt. Dennoch begründet dies in der Regel keinen unabänderlichen Individualanspruch auf die fortwährende Anwendung einer bestimmten (älteren) BV. Auch das BAG betont, dass Verweisungen im Arbeitsvertrag auf Betriebsvereinbarungen typischerweise nur deklaratorisch gemeint sind. Heißt: Die Vertragsparteien wollen meist nur klarstellen, dass die jeweils geltenden Betriebsvereinbarungen Anwendung finden – einschließlich künftiger Änderungen. Selbst wenn der Kläger die ursprüngliche BV 2007 „stillschweigend akzeptiert“ hatte, konnte die Arbeitgeberin zusammen mit dem Betriebsrat diese Regelung durch die neue BV 2020 wirksam abändern. Ohne besondere Zusicherung im Vertrag besteht kein Anspruch darauf, dass eine günstige alte Regelung dauerhaft unverändert fortgilt
Was aus dem Urteil folgt
Für Arbeitgeber:
- Verfahrensvorgaben beachten: Stellen Sie sicher, dass der Betriebsrat jeder Betriebsvereinbarung durch ordentlichen Beschluss zustimmt. Fehler im Verfahren (z. B. fehlender Beschluss) lassen sich zwar heilen, bergen aber Rechtsunsicherheit und sollten vermieden werden.
- Gehaltsstrukturen anpassen: Als tarifungebundener Arbeitgeber dürfen Sie die betriebliche Vergütungsstruktur via Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat neu gestalten – auch mit Einschnitten. Solche Änderungen sind zulässig, solange sie zukünftige Entgeltansprüche betreffen und mitbestimmt geregelt werden.
- Vertrauensschutz wahren: Wollen Sie Leistungen kürzen oder streichen, planen Sie mit Augenmaß. Radikale, rückwirkende Einschnitte sind rechtlich riskant. Besser ist eine moderate Anpassung mit Vorlaufzeit (hier über ein Jahr), damit Mitarbeiter sich darauf einstellen können. So minimieren Sie Anfechtungsrisiken wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben.
- Kurzfristige Ausfälle managen: Fällt ein Betriebsratsmitglied am Tag der Sitzung aus, müssen Sie nicht in Panik verfallen: Der Betriebsrat kann dennoch beschließen, ohne dass ein weiteres Ersatzmitglied eingeladen wird. Dieses Urteil gibt Ihnen Rechtssicherheit, dass vereinbarte Beschlüsse und Betriebsvereinbarungen selbst dann Bestand haben, wenn ein Mitglied sehr kurzfristig ausfällt.
Für Betriebsräte:
- Ersatzmitglieder rechtzeitig laden: Stellt sich vor dem Sitzungstag heraus, dass jemand fehlt, laden Sie umgehend ein Ersatzmitglied ein. Nur ein vollzählig (oder zumindest ordnungsgemäß vertreten) besetzter Betriebsrat ist beschlussfähig.
- Kurzfristige Krankmeldungen: Erfahren Sie erst am Sitzungstag vom Ausfall, dürfen Sie laut BAG regelmäßig davon ausgehen, dass eine Nachladung nicht mehr rechtzeitig möglich ist. Ein Beschluss ist dann auch ohne nachträglich geladenes Ersatzmitglied gültig. Halten Sie fest, wann Ihnen der Ausfall gemeldet wurde. Sollte es die Umstände zulassen, können Sie zwar versuchen, noch schnell Ersatz zu laden – ist dies nicht realistisch, können Sie die Sitzung dennoch durchführen.
- Beschlüsse sauber fassen: Unterschreibt derdie Vorsitzende eine Betriebsvereinbarung ohne vorigen Beschluss, besteht Handlungsbedarf. Holen Sie die Beschlussfassung so bald wie möglich in einer Sitzung nach, um die Vereinbarung zu genehmigen* und den Mangel zu heilen. Die spätere Genehmigung wirkt rückwirkend – sie ersetzt aber nicht die sorgfältige Vorarbeit! Künftig sollten solche Fehler vermieden werden, etwa durch klare interne Abstimmungsprozesse.
- Änderungen mittragen: Seien Sie sich bewusst, dass Sie Betriebsvereinbarungen jederzeit gemeinsam mit dem Arbeitgeber ändern oder ablösen können – auch zugunsten des Betriebs oder der Arbeitgeberseite. Prüfen Sie bei Verschlechterungen für die Belegschaft genau, ob diese erforderlich und verhältnismäßig sind. Gegebenenfalls kann über Ausgleichsmaßnahmen oder Übergangsfristen verhandelt werden, um Härten abzumildern. Das Urteil zeigt jedoch, dass moderate, transparente Anpassungen Bestand haben können, selbst wenn sie eine Reduzierung von Ansprüchen bedeuten.
Für Arbeitnehmer:
- Keine Dauergarantie für Vergünstigungen: Betriebsvereinbarungen bieten kollektive Ansprüche, die der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat vereinbart. Sie ersetzen einander im Zeitverlauf – eine älteren, günstigeren BV können Sie nicht einfach deshalb beanspruchen, weil sie vorteilhafter ist. Die neue Vereinbarung gilt grundsätzlich auch für bestehende Arbeitsverhältnisse unmittelbar und zwingend weiter, selbst wenn sie weniger zahlt.
- Vertrauensschutz im Blick behalten: Dramatische Einschnitte ohne Vorwarnung wären angreifbar – hierauf können Arbeitnehmer im Streitfall pochen. Im entschiedenen Fall war die Änderung jedoch angekündigt und nur für die Zukunft wirksam, weshalb das BAG keinen Vertrauensschutzverstoß sah. Haben Sie Leistungen über lange Jahre erhalten, die plötzlich entfallen sollen, lohnt es sich zu prüfen, ob Übergangsregelungen oder Abmilderungen eingeführt werden müssen.
- Vertragliche Bezugnahmen verstehen: Steht in Ihrem Arbeitsvertrag, dass eine bestimmte Betriebsvereinbarung gilt, bedeutet das nicht, dass genau diese Fassung Ihnen ewig garantiert ist. In der Regel unterliegen solche Vereinbarungen der kollektiven Dynamik – sprich, Änderungen gelten auch für Sie, sofern nichts anderes vertraglich ausdrücklich festgelegt wurde. Es ist also meist rechtmäßig, wenn Ihr Arbeitgeber mit dem Betriebsrat eine neue BV schließt, die ältere Regelungen – sogar zu Ihrem Nachteil – ablöst.
- Verfahren beobachten: Falls Sie vermuten, dass bei der Einführung einer für Sie ungünstigen Betriebsvereinbarung Verfahrensfehler unterlaufen sind (z. B. Beschluss ohne korrekte Ladung aller Mitglieder), lassen Sie dies prüfen. Allerdings zeigt das Urteil, dass nicht jeder Formfehler zum Erfolg führt. Insbesondere kurzfristige Ausfälle heben die Beschlussfähigkeit nicht auf. Wirklich angreifbar wären z. B. Beschlüsse, bei denen der Betriebsrat versäumt hat, ein Ersatzmitglied zu laden, obwohl der Ausfall rechtzeitig bekannt war – in solchen Fällen könnte ein Verstoß gegen § 29 Abs. 2 BetrVG vorliegen, der die Wirksamkeit des Beschlusses beeinträchtigt.
Das BAG-Urteil vom 20.05.2025 (Az. 1 AZR 35/24) schafft wichtige Praxissicherheit. Entgeltsenkungen mittels Betriebsvereinbarung sind in tarifungebundenen Betrieben möglich, wenn sie als mitbestimmungspflichtige Entlohnungsgrundsätze ausgestaltet und fair eingeführt werden. Zugleich bestätigt der Senat die Handlungsfähigkeit von Betriebsräten bei unvorhergesehenen Ausfällen: Eine Sitzung muss nicht platzen, nur weil ein Mitglied am Tag der Beschlussfassung krankheitsbedingt ausfällt. Arbeitnehmer sollten wissen, dass kollektiv vereinbarte Vorteile keine Einbahnstraße sind – sie können mit Zustimmung des Betriebsrats auch wieder gekürzt werden, sofern dabei die rechtlichen Grenzen gewahrt bleiben. Insgesamt betont das Urteil die Bedeutung korrekter Verfahren und ausgewogener Lösungen, wenn es darum geht, betriebliche Veränderungen rechtssicher zu gestalten.