LAG München: Gekündigter Jurastudent erhält 100.000 € nach Betriebsratsgründung

21. Juli 2025 -

Ein Gastronomie-Betrieb hat einen Jurastudenten in seinem Nebenjob als Kellner fristlos gekündigt – offiziell wegen „beharrlicher Arbeitsverweigerung“, tatsächlich aber wegen seiner Initiative zur Gründung eines Betriebsrats. Der Student klagte auf umfassende Leistungen (insgesamt rund 100.000 € Schadensersatz, eine schriftliche Entschuldigung und sechs Monate bezahlten Urlaub). Nun hat das Bayerische Landesarbeitsgericht München (Az. 11 Sa 456/23, Teilurteil vom 16.04.2025, Schlussurteil vom 04.06.2025) dem Kläger weitgehend Recht gegeben.

Hintergrund und Prozessverlauf

Der Jurastudent war seit 2018 als geringfügig beschäftigter Kellner in einem Lokal tätig. Als er in der ersten Hälfte des Jahres 2021 Schritte zur Gründung eines Betriebsrats unternahm, setzte der Arbeitgeber ihn nicht mehr als Servicekraft ein. Nach einer gescheiterten Wahlversammlung verweigerte man ihm monatelang jegliche Beschäftigung. Als der Student auf Annahmeverzugslohn pochte, wurde er zwar zu einem Dienstplan zurückgerufen – allerdings zur Arbeit in der Küche statt im Service. Der Student lehnte dies ab. Daraufhin erhob der Arbeitgeber fristlos die Kündigung wegen angeblicher Arbeitsverweigerung.

Vor dem Arbeitsgericht München hatte der Student zunächst noch selbst geklagt. Das ArbG erklärte zwar die Kündigungsschutzklage für begründet, lehnte aber sämtliche finanziellen Forderungen ab (Teilurteil v. 05.09.2022, Az. 5 Ca 3538/22). Gegen diese Entscheidung legte der Jurastudent Berufung ein. Zwischenzeitlich meldete die ursprüngliche Arbeitgeberin Insolvenz an; der Kläger erweiterte daraufhin die Berufung auf den Geschäftsführer der GmbH, weil dieser vorsätzlich unerlaubt gehandelt habe. Zudem übernahm eine neue Gesellschaft das Gaststättengeschäft. Der Student stellte gerichtlich einen Betriebsübergang nach § 613a BGB fest (ArbG München, Urt. v. 10.07.2024, Az. 34 Ca 3310/24) und bezog nun auch den neuen Inhaber in seine Klage ein.

Entscheidung des LAG München

In der Berufung hob das LAG München die Entscheidung der ersten Instanz auf und gab dem Kläger in weiten Teilen recht. Zentrale Feststellung: Die fristlose Kündigung war rechtswidrig und schadensersatzpflichtig, weil sie tatsächlich auf den Betriebsratsinitiativen des Klägers beruhte. Das Gericht stellte klar, dass die angebliche Arbeitsverweigerung nur ein Vorwand war. Die Zuweisung in den Küchendienst diente allein dem Zweck, Druck auf den Kläger auszuüben und eine Kündigung herbeizuführen. Die erste Instanz hatte noch argumentiert, es fehle an einem zeitlichen Zusammenhang zwischen Wahlversammlung und Kündigung. Das LAG erwiderte, dass der Kläger de facto bereits seit August 2021 nicht mehr zum Dienst eingeteilt gewesen sei, als Folge seiner Betriebsratsaktivitäten. Dieser ursächliche Zusammenhang führe dazu, dass der Arbeitgeber den durch die Kündigung entstandenen Schaden ersetzen muss.

Entschädigungsumfang

Für den entstandenen Schaden setzte das LAG eine umfassende Entschädigung fest. Dazu rechnete es neben dem entgangenen Arbeitslohn auch die entgangenen Trinkgelder als Teil des Verdienstausfalls (vermindertes Einkommen) nach § 252 BGB. Konkret bemess es die durchschnittlichen Trinkgelder mit pauschal 100 € pro nicht geleisteter Schicht an. Zudem erkannte das Gericht die im Betrieb gewährten vergünstigten Speisen und Getränke als Sachlohn an und bewertete sie nach ihrem Marktwert. Diese freiwilligen Vergünstigungen trugen der Kläger bislang faktisch im Lohnkonto, weshalb sie als Teil der Vergütung zu ersetzen sind. Damit schafft die Entscheidung einen Präzedenzfall: Arbeitnehmer können bei unzulässiger Kündigung nun auch Ersatz für entgangene Trinkgelder und verbilligte Verpflegung verlangen.

Darüber hinaus sprach das LAG alle weiteren geltend gemachten Lohnansprüche zu. Der Kläger hatte umfangreiche Überstunden geltend gemacht und anhand der aktualisierten Dienstpläne (tagesaktuelle Schichtaufschriebungen) hinreichend belegt, dass er regelmäßig mehr Stunden arbeitete, als sein Mini-Jobvertrag vorsah. Das Gericht folgte dieser Nachweisführung und setzte die Überstundenvergütung fest. Auch Aufwendungen für die Reinigung der vorgeschriebenen Arbeitskleidung (Schürzen) erkannte es als zu erstattende Kosten an. Nach der Rechtsprechung des LAG hat der Arbeitgeber die Kosten für die hygienisch erforderliche Reinigung von Dienstkleidung zu tragen, wenn der Arbeitnehmer diese selbst verauslagen musste. Schließlich wurde dem Kläger Annahmeverzugslohn zugesprochen: Da er in den Streikmonaten nicht eingesetzt wurde, befand das LAG, dass ein förmliches Arbeitsangebot nicht nötig war (nach § 296 BGB). Die Einteilung erfolgte flexibel per Dienstplan allein in der Verantwortung des Arbeitgebers. Damit folgt das LAG dem Kläger und weicht von der jüngeren BAG-Rechtsprechung (Az. 5 AZR 22/23) ab, die bei flexiblen Abrufverhältnissen weiterhin ein ausdrückliches Angebot verlangt hatte. Das erhöhte Schichtvolumen (tatsächlich doppelter Einsatz als im Vertrag) wird nun der Berechnung des Verdienstausfalls zugrunde gelegt.

Sonstige Ansprüche

Erwartungsgemäß gab das LAG auch den weiteren Sonderansprüchen des Klägers statt: Der neue Arbeitgeber wurde verurteilt, dem Kläger sechs Monate bezahlten Urlaub zu gewähren (insgesamt 29 Wochen/72 Arbeitstage). Dies geschah, weil der ursprüngliche Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht über seine Urlaubsansprüche informierte. Nach aktueller EuGH-Rechtsprechung (u.a. C-684/16 „Max-Planck“, C-120/21) kann der Urlaub dann weder verfallen noch verjähren. Ferner verurteilte das LAG den Arbeitgeber zur schriftlichen Entschuldigung. Die Äußerungen im Schriftsatz (Hinweis auf „jung, kinderlos, Mini-Job“) wertete es als verbotene Altersdiskriminierung im Sinne des AGG. Das Gericht folgte hier den Argumenten des Klägers und aktueller EuGH-Rechtsprechung (C-507/23): Der Arbeitgeber müsse sich für diese diskriminierenden Formulierungen schriftlich entschuldigen.

Schließlich stellte das Gericht fest, dass der Geschäftsführer persönlich haftet. Durch sein bewusstes Verhalten (vorsätzliche Verletzung eines Schutzgesetzes, hier des Betriebsverfassungsgesetzes) sei die normalerweise in einer GmbH geltende Haftungsbeschränkung außer Kraft gesetzt. Die Hinzuziehung des Geschäftsführers als gesamtschuldnerisch haftendem Beklagten in der Berufung war dem LAG zufolge statthaft, weil dessen Verhalten rechtsmissbräuchlich war.

Kernaussagen des Urteils und Praxistipps

Aus dem Urteil lassen sich mehrere wichtige Leitsätze und Handlungsempfehlungen ableiten:

  • Verbot der Betriebsratsbehinderung: Kündigungen oder nachteilige Maßnahmen zur Unterbindung von Betriebsratsinitiativen sind rechtswidrig. Die gezielte Umzuteilung des Arbeitnehmers in ungünstige Tätigkeiten wurde hier als Druckmittel entlarvt. Arbeitgeber sollten bei Konflikten um Mitbestimmung besonders vorsichtig sein – jegliche Benachteiligung wegen Betriebsratsvorhaben kann hohe Schadensersatzansprüche nach sich ziehen.
  • Berechnung der Entschädigung: Der Ersatzanspruch umfasst auch indirekte Vergütungsbestandteile. Das LAG rechnet entgangene Trinkgelder als entgangenen Gewinn und vergünstigte Sachbezüge (wie kostenloses Essen und Trinken) mit in die Schadensberechnung ein. Selbst wenn diese Extras bisher „Gewohnheitsrecht“ waren, müssen Arbeitgeber sie als Wert ersetzten, wenn sie unrechtmäßig ausgeschaltet wurden.
  • AGG und Schriftsatz: Auch Äußerungen im Gerichtsverfahren können das AGG berühren. Im vorliegenden Fall mussten sich Arbeitgeber für die Formulierung „24 Jahre, kinderlos, keine Unterhaltspflichten, Minijob“ schriftlich entschuldigen, weil das LAG darin eine mittelbare Altersdiskriminierung sah. Arbeitgeber sollten bei Schriftsätzen diskriminierende Merkmale (Alter, Familienstand, Beschäftigungsumfang etc.) vermeiden, um zusätzliche Entschädigungsansprüche nicht zu riskieren.
  • Persönliche Haftung bei Schutzgesetzverstoß: Wird ein Schutzgesetz vorsätzlich verletzt (z.B. Kündigung wegen Betriebsratsinitiative), kann der Geschäftsführer persönlich haftbar gemacht werden. Es besteht also ein sogenannter „Durchgriff“ auf das Privatvermögen, wenn die Schutzpflicht verletzt wurde. Arbeitgeber sollten daher stets die speziellen Kündigungsschutzvorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes (§§ 78 ff. BetrVG) beachten.
  • Urlaubsansprüche und Mitwirkungspflichten: Unterlässt der Arbeitgeber die Urlaubsinformation, bleiben die Ansprüche des Arbeitnehmers lange bestehen. Nach europäischem Recht kann nicht genommener Urlaub selbst über Jahre erhalten bleiben, wenn keine Belehrung erfolgte. Arbeitgeber sollten ihre Mitarbeiter regelmäßig über Resturlaub informieren und Freistellung ermöglichen, um hohe Nachzahlungsansprüche zu vermeiden.

Dieses Urteil verdeutlicht, wie umfassend Entschädigungsansprüche ausfallen können, wenn eine Kündigung unzulässig ist. Arbeitgeber sollten Betriebsratswahlen aktiv unterstützen oder zumindest nicht behindern, genaue Arbeitszeitabrechnungen führen und für ordnungsgemäße Urlaubshinweise sorgen. Arbeitnehmer gewinnen hier Zuspruch: Sie können nicht nur Lohnnachzahlungen verlangen, sondern auch Ersatz für Trinkgelder, Sachleistungen und sogar eine Entschuldigung einfordern. Die Entscheidung setzt neue Maßstäbe im Kündigungsschutz.

Quellen: Urteil des LAG München (Az. 11 Sa 456/23, Teilurteil v. 16.04.2025, Schlussurteil v. 04.06.2025) und Berichterstattung in LTO