Lange Verfahrensdauer kann verfassungswidrig sein

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 10. Januar 2023 zum Aktenzeichen 1 BvR 1346/22 entschieden, dass die Dauer zweier sozialgerichtlicher Berufungsverfahren verfassungswidrig lang war.

Die Beschwerdeführerin begehrt die Gewährung höherer Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für vergangene Leistungszeiträume (Juni bis November 2014 und Dezember 2015 bis Mai 2016) unter Berücksichtigung einer Instandhaltungszulage als Miteigentümerin einer Haushälfte. Ihre im Jahr 2015 und 2016 erhobenen Klagen wurden mit Urteilen vom 18. Mai 2017 erstinstanzlich abgewiesen. Am 7. Juni 2017 legte die Beschwerdeführerin Berufung gegen die zwei sozialgerichtlichen Urteile ein.

Auf Anforderungen des Landessozialgerichts wurden Berufungserwiderungen, weitere Verwaltungsakten und Vollmachten des Vertreters der Beschwerdeführerin bis zum 16. Oktober 2017 übersandt. Die Beschwerdeführerin rügte am 31. Januar 2020 und 17. Mai 2020 die Verzögerung der Verfahren. Am 16. Februar 2020 beantragte sie die Gewährung von Prozesskostenhilfe und trug erneut zu ihren Berufungen vor.

Aufgrund zweier von der Beschwerdeführerin erhobener Verzögerungsklagen nach § 198 Abs. 1, 3 GVG forderte ein anderer Senat des Landessozialgerichts am 23. März 2020 die Akten der Verfahren an. Mit Beschluss vom 16. November 2020 setze das Landessozialgericht die Verzögerungsklagen bis zum rechtskräftigen Abschluss der verzögerten Verfahren aus.

Mit Schreiben vom 13. Juli 2021 teilte das Landessozialgericht mit, dass über die Prozesskostenhilfeanträge im September 2021 und über die Hauptsachen im vierten Quartal 2021 entschieden werden solle. Der Berichterstatter sei krankheitsbedingt ausgefallen und wegen der zwischenzeitlich aufgelaufenen Rückstände seien Entscheidungen noch nicht möglich gewesen. In der Folgezeit wurden die Verfahren nicht weiter betrieben.

Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Wirksam ist nur ein zeitgerechter Rechtsschutz. Art. 19 Abs. 4 GG fordert daher auch, dass Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit gewährt wird (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; 93, 1 <13>). Welche Verfahrensdauer noch angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; s. auch 93, 1 <13>). Entscheidend sind vor allem die Bedeutung der Sache, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit des Falles und das Verhalten der Beteiligten, insbesondere etwaige den Beteiligten selbst zuzurechnende Verzögerungen, sowie eine gerichtlich nicht zu beeinflussende Verzögerung durch die Tätigkeit von Sachverständigen oder sonstigen Dritten (vgl. BVerfGE 46, 17 <29>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 – 1 BvR 901/03 -; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. April 1999 – 1 BvR 467/99 -; vgl. auch EGMR, Urteil vom 8. Januar 2004, Nr. 47169/99 – Voggenreiter/Deutschland). Dem Gericht steht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen es aufgrund eigener Gewichtung dieser Faktoren Prioritäten in Abweichung von der Reihenfolge des Eingangs setzen kann (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. März 2005 – 2 BvR 1610/03 -, Rn. 12; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Oktober 2003 – 2 BvR 940/01 -, Rn. 4). Allerdings haben die Gerichte im Rahmen ihrer Verfahrensführung auch die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens insgesamt oder in der jeweiligen Instanz verdichtet sich die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 20. Juli 2000 – 1 BvR 352/00 -, Rn. 11).

Die Beschwerdeführerin klagt seit 2015 beziehungsweise 2016 auf existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II, konkret auf höhere Unterkunftskosten unter Berücksichtigung einer Instandhaltungsrücklage im Zeitraum Juni bis November 2014 und Dezember 2015 bis Mai 2016. Die Verfahren dauern damit jetzt schon außerordentlich lange Zeit. Verfahren, in denen es um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geht, sind für die Betroffenen von besonderer Bedeutung und durch die Gerichte besonders zu fördern (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 – 1 BvR 901/03 -, Rn. 11). Sachverständigengutachten oder eine sonstige Tätigkeit Dritter sind für die Beantwortung der Rechtsfrage, ob die Instandhaltungsrücklagen der Beschwerdeführerin als Kosten der Unterkunft im Sinne des § 22 SGB II anerkannt werden können, nicht erforderlich. Dass das Verfahren besondere Schwierigkeiten aufgeworfen hätte, geht aus den Akten nicht hervor.

Aus den beigezogenen Verfahrensakten ist ersichtlich, dass das Landessozialgericht die Verfahren seit Oktober 2017 in der Sache inhaltlich nicht gefördert hat. Es finden sich – mit Ausnahme der Weiterleitung eines Schriftsatzes – lediglich Wiedervorlageverfügungen. Die Beschwerdeführerin hat das Verfahren nicht verzögert, sondern auf die Aufforderungen des Landessozialgerichts stets zügig reagiert. Zwar lagen dem Landessozialgericht die Akten zwischenzeitlich nicht vor, weil diese anforderungsgemäß an einen anderen Senat wegen der erhobenen Entschädigungsklage übersandt worden waren. Angesichts der zum damaligen Zeitpunkt bereits erheblichen Dauer der Verfahren hätten jedoch nötigenfalls Kopien der Akten angelegt werden können.

Gründe, die es rechtfertigen könnten, dass in den Berufungsverfahren seit über fünf Jahren nicht entschieden wurde, sind nicht ersichtlich. Auf Umstände, die innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs liegen, wie etwa eine allgemein angespannte Personalsituation, kann sich der Staat zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht berufen. Der Staat muss alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit beendet werden können (vgl. BVerfGE 36, 264 <274 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2003 – 2 BvR 273/03 -, Rn. 13; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 14. Oktober 2003 – 1 BvR 901/03 -, Rn. 10; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 29. März 2005 – 2 BvR 1610/03 -, Rn. 13; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 17. Auflage 2022, Art. 19 Rn. 79). Dies gilt auch für die Auswirkungen auf das gerichtliche Verfahren im Falle der Erkrankung des zuständigen Richters. Es obliegt dem Gericht und damit dem Staat, die erforderliche Vertretung des erkrankten Richters sicherzustellen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen durch den krankheitsbedingten Ausfall auf ein Maß zu reduzieren, das dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit Rechnung trägt. Erkrankungen von Richtern gehören ebenso wie die sonstigen üblichen Ausfallzeiten etwa durch den gesetzlichen Jahresurlaub oder durch Fortbildung zum Alltag der Gerichte. Solche Ausfallzeiten haben die Justizbehörden und Gerichte zu verantworten, denn diese Umstände sind grundlegender Bestandteil der ihnen obliegenden Personal- und Ressourcenplanung (vgl. BSG, Urteil vom 24. März 2022 – B 10 ÜG 2/20 R, Rn. 43). Der Staat muss dabei gegebenenfalls auch auf längere Arbeitsunfähigkeitszeiten beim richterlichen Personal durch geeignete Maßnahmen reagieren (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 13. August 2012 – 1 BvR 1098/11 -, Rn. 19). Er kann sich nicht darauf berufen, dass er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen. Es ist seine Aufgabe, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen. Der Staat hat die dafür erforderlichen – personellen wie sächlichen – Mittel aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen. Diese Aufgabe folgt aus der staatlichen Pflicht zur Justizgewährung, die Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips ist (vgl. BVerfGE 36, 264 <274 f.>).