Lebensverlängerung als Schaden

29. November 2022 -

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 07. April 2022 zum Aktenzeichen 1 BvR 1187/19 entschieden, dass ein medizinrechtlicher Streit um die Behandlung eines dementen Schmerzpatienten, dessen Sohn diese Behandlung zu beenden versuchte, was ihm nicht gelang verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Ihr Gegenstand ist vor allem die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur „Lebensverlängerung als Schaden“.

Der Beschwerdeführer ist der in den USA lebende Sohn des im November 2011 verstorbenen Patienten und dessen Alleinerbe. Sein Vater stand von 1997 bis zu seinem Tod unter Betreuung; seit 2006 lebte er in einem Pflegeheim.

Der Verstorbene wurde seit September 2006 bis zu seinem Tod mittels einer PEG-Magensonde künstlich ernährt. Sein Hausarzt, gegen den der Beschwerdeführer im Ausgangsverfahren zivilrechtliche Ansprüche geltend machte, betreute ihn seit dem Frühjahr 2007. Bereits im Jahr 2003 war eine Demenz weit fortgeschritten und wegen einer mutistischen Störung war eine Kommunikation kaum mehr und seit dem Jahr 2008 gänzlich unmöglich. Seit November 2008 bis zu seinem Tod erhielt der Verstorbene durchgängig Schmerzmittel. Im streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 19. Oktober 2011 hatte er regelmäßig Fieber, Atembeschwerden und wiederkehrende Druckgeschwüre; viermal erlitt er eine Lungenentzündung. Ende Mai bis Mitte Juni 2011 wurde er wegen einer Gallenblasenentzündung stationär behandelt, aber aufgrund des schlechten Allgemeinzustandes keine operative Therapie durchgeführt. Am 8. Oktober 2011 wurde er wegen einer Aspirationspneumonie erneut stationär aufgenommen, auf eine intensivmedizinische Behandlung aber verzichtet. Am 19. Oktober 2011 verstarb er im Krankenhaus.

Der Verstorbene hatte weder eine Patientenverfügung errichtet noch ließ sich – ausweislich der fachgerichtlichen Feststellungen, an die das Bundesverfassungsgericht gebunden ist – sein Wille zum Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen anderweitig feststellen.

Nach dem Tod seines Vaters nahm der Beschwerdeführer den Hausarzt auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden wegen der künstlichen Ernährung in den Jahren 2010 und 2011 in Anspruch. Das Landgericht wies die Klage ab. Das Oberlandesgericht sprach dem Beschwerdeführer ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 Euro nebst Zinsen zu; im Hinblick auf den Ersatz materieller Schäden wies es die Klage ab.

Auf die Revision des beklagten Arztes hob der Bundesgerichtshof das Urteil des Oberlandesgerichts auf und wies die Berufung des Beschwerdeführers gegen das landgerichtliche Urteil sowie dessen Anschlussrevision zurück. Es sei zweifelhaft, könne aber dahinstehen, ob mit der Begründung des Oberlandesgerichts die Verletzung einer Aufklärungspflicht des Arztes angenommen werden könne. Auch könne offenbleiben, ob das Verhalten des Arztes als behandlungsfehlerhaft zu qualifizieren sei. Keiner Entscheidung bedürfe ferner die Frage, ob etwaige Pflichtverletzungen des Arztes zu einer Gesundheitsverletzung beim Verstorbenen geführt hätten, die dem Arzt zuzurechnen seien. Denn jedenfalls fehle es an einem immateriellen Schaden im Sinne des § 253 Abs. 2 BGB. Der Bundesgerichtshof argumentierte, menschliches Leben sei absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert stehe keinem Dritten zu. Deshalb verbiete es sich, ein Leben gegenüber dem Tod als Schaden anzusehen. Es entziehe sich auch menschlicher Erkenntnisfähigkeit, ob ein leidenbehaftetes Leben gegenüber dem Tod ein Nachteil sei.

Das menschliche Leben ist nach Maßgabe des Grundgesetzes höchstrangiges Rechtsgut und dem Grunde nach absolut erhaltenswürdig. Der Schutzauftrag des Staates zugunsten des Lebens (vgl. BVerfGE 142, 313 <337 Rn. 69> m.w.N.) endet aber dort, wo das Selbstbestimmungsrecht beginnt. Denn die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, ist von existentieller Bedeutung für die Persönlichkeit, Ausfluss des eigenen Selbstverständnisses und grundlegender Ausdruck der zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Person (vgl. BVerfGE 153, 182 <261 f. Rn. 209 f.> – Suizidhilfe). Die Schutzpflicht für das Leben erhält gegenüber dem Freiheitsrecht wiederum den Vorrang, wo Menschen Einflüssen ausgeliefert sind, die ihre Selbstbestimmung über das eigene Leben gefährden (vgl. BVerfGE 153, 182 <286 Rn. 275>).

Der Bundesgerichtshof setzt das Leben in der angegriffenen Entscheidung zwar in einer Weise absolut, die Zweifel daran wecken könnte, ob das Selbstbestimmungsrecht hinreichend Beachtung findet. Doch beruht die Entscheidung darauf nicht.

Hier war der tatsächliche oder mutmaßliche Wille als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Verstorbenen nicht feststellbar. Der Bundesgerichtshof konnte das Vorliegen der haftungsbegründenden Tatbestandsmerkmale des vertraglichen wie des deliktischen Schadensersatzanspruchs daher als Revisionsgericht dahinstehen lassen und allein einen kausalen Schaden verneinen. Er hat dabei ausdrücklich offengelassen, ob ein Schadensersatzanspruch auf die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Selbstbestimmungsrecht des Patienten gestützt werden könnte, wenn die lebenserhaltende Maßnahme gegen den Patientenwillen aufrechterhalten würde. Will der Patient – anders als im Streitfall – tatsächlich selbstbestimmt sterben, tritt die Schutzpflicht des Staates für das Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hinter dem Selbstbestimmungsrecht zurück. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist damit nicht gesagt, dass das Leben in jedem Fall absolut erhaltungswürdig sei. Es ist daher auch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass eine lebenserhaltende Maßnahme, die gegen den Willen des Betroffenen durchgeführt wird, haftungsrechtliche Folgen haben kann.

Auch im Übrigen ist nicht erkennbar, dass der Bundesgerichtshof verfassungsrechtliche Vorgaben verkannt hätte. Die Parallele zu früheren Entscheidungen – insbesondere zu dem Urteil im „Röteln-Fall“ vom 18. Januar 1983, BGHZ 86, 240 – liegt darin, dass weder ein Kind aus der eigenen Existenz Schadensersatzansprüche herleiten kann noch der Erbe aus dem Leid des verstorbenen Vaters. Zudem folgt aus der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Tod nicht zwingend, immer und in jeder Hinsicht einen Schaden anzuerkennen, der zivilrechtlich geltend gemacht werden könnte. Wenn der Bundesgerichtshof meint, Leiden könne nicht in monetären Summen bewertet werden und daher einen Anspruch auf immateriellen Schadensersatz ablehnt, stellt dies die grundrechtlich geschützte Selbstbestimmung über das eigene Leben nicht in Frage. Der Bundesgerichtshof hat es insbesondere nicht ausgeschlossen, die wirtschaftlichen Belastungen, die mit dem Leben verbunden sind, unter bestimmten Umständen als materiellen Schaden zu begreifen. So können Kosten für Pflege, Behandlung und Unterhalt ersatzpflichtig sein, wenn sie ohne eine lebensverlängernde Behandlung, Information oder Aufklärung, die sich als fehlerhaft erweisen, nicht entstanden wären.