46 Jahre im Berufsleben – und trotzdem wird einem schwerbehinderten ehemaligen Beamten die vorzeitige Altersrente verweigert. Wie kann das sein? Ein aktuelles Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg vom 15.10.2025 macht deutlich, dass für eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen nicht die gesamte Lebensarbeitszeit zählt, sondern nur die Jahre mit tatsächlichen Beitragszahlungen in die gesetzliche Rentenkasse. Im Folgenden fassen wir den Sachverhalt und die Gerichtsentscheidung verständlich zusammen. Außerdem beleuchten wir die praktischen Konsequenzen für Arbeitnehmer und Beamte und geben Hinweise, worauf in ähnlichen Fällen zu achten ist.
Hintergrund: Altersrente für Schwerbehinderte vs. Beamtenpension
In Deutschland gibt es unterschiedliche Alterssicherungssysteme für Arbeitnehmer und Beamte. Arbeitnehmer sind in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert, Beamte erhalten hingegen vom Dienstherrn eine Beamtenpension (Ruhegehalt) und sind in der Regel nicht in der gesetzlichen Rentenkasse versichert. Für schwerbehinderte Menschen existieren in beiden Systemen Möglichkeiten, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen:
- In der gesetzlichen Rentenversicherung können Schwerbehinderte eine vorgezogene Altersrente für schwerbehinderte Menschen Gesetzlich ist dafür ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 und eine Mindestversicherungszeit (Wartezeit) von 35 Beitragsjahren erforderlich (§ 236a Abs. 1 Nr. 3 SGB VI). Das heißt, es müssen mindestens 35 Jahre lang Beiträge an die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt worden sein.
- Im Beamtenrecht gibt es entsprechende Regelungen für ein vorzeitiges Ruhegehalt bei Schwerbehinderung. Schwerbehinderte Beamte können – je nach geltendem Recht des Bundes oder Landes – auf Antrag einige Jahre vor der regulären Altersgrenze in den Ruhestand versetzt werden (häufig ab Vollendung des 60. Lebensjahres, perspektivisch teils ansteigend auf 62). Die Pension wird dann vom Dienstherrn bezahlt und nur anhand der Dienstzeit als Beamter berechnet, nicht basierend auf Zeiten in der Rentenversicherung.
Wichtig ist: Gesetzliche Rente und Beamtenversorgung sind zwei getrennte Systeme mit unterschiedlichen Regeln. Zeiten im Beamtenverhältnis zählen grundsätzlich nicht als Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung – und umgekehrt. Dieses getrennte Nebeneinander führt im vorliegenden Fall zu einem entscheidenden Problem.
Der Fall: 46 Arbeitsjahre, davon 17 Beitragsjahre in der Rentenversicherung
Im entschiedenen Fall klagte ein 1960 geborener Mann, der einen Grad der Behinderung von 60 hat. Nach seiner Berufsausbildung war er 17 Jahre lang sozialversicherungspflichtig beschäftigt und zahlte in dieser Zeit Beiträge an die gesetzliche Rentenversicherung ein. 1994 wechselte er in den Beamtenstatus zum Land Berlin und war dort bis 2023 – also weitere 29 Jahre – im aktiven Dienst tätig. Aufgrund seiner Schwerbehinderung konnte er beim Land Berlin mit über 60 Jahren vorzeitig in Pension gehen und erhielt ein entsprechendes Ruhegehalt für Schwerbehinderte, das jedoch ausschließlich auf seinen 29 Beamtenjahren beruhte. Seine früheren 17 Beitragsjahre spielten für die Beamtenpension keine Rolle.
Mitte 2023 beantragte der Mann zusätzlich bei der Deutschen Rentenversicherung die Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Diesen Antrag lehnte die Rentenversicherung ab, da die erforderliche Wartezeit von 35 Jahren nicht erfüllt war – im Versicherungskonto standen nur 17 Beitragsjahre. Gegen die Ablehnung erhob der Beamte Klage beim Sozialgericht Potsdam, das seine Klage jedoch abwies. Daraufhin ging er in Berufung zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg.
Seine Argumentation: Durch seine 46 Arbeitsjahre insgesamt habe er eine Lebensleistung erbracht, die anerkannt werden müsse. Der Wechsel ins Beamtenverhältnis dürfe ihn nicht benachteiligen – es könne nicht sein, dass die 17 Jahre Rentenbeiträge „verloren“ seien, nur weil er später Beamter wurde. Er fühlte sich gegenüber Versicherten, die kein Beamter geworden sind, unfair behandelt.
Die Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg
Das Landessozialgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Rechtsauffassung der Rentenversicherung bestätigt. Die Richter stellten klar:
- 35 Beitragsjahre sind zwingend: Die gesetzliche 35-Jahres-Wartezeit für die Schwerbehinderten-Altersrente muss erfüllt sein – eine lange Lebensarbeitszeit allein genügt nicht. Beamtenzeiten können dabei nicht als Beitragsjahre angerechnet werden, da es sich um ein anderes Versorgungssystem handelt.
- Kein Verstoß gegen Gleichheitsgrundsatz: Die Ungleichbehandlung ist rechtmäßig. Gesetzliche Rente und Beamtenversorgung sind von jeher getrennte Alterssicherungssysteme mit erheblichen strukturellen Unterschieden. Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz, dass beim Systemwechsel Nachteile entstehen – der Gesetzgeber muss unterschiedliche Systeme nicht gleich regeln oder ausgleichen.
- Beitragszeiten nicht komplett verloren: Die früheren 17 Beitragsjahre des Klägers bleiben nicht unberücksichtigt. Sobald er das reguläre Rentenalter (im Jahr 2027) erreicht, kann er eine Regelaltersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen. Für diese normale Altersrente sind nur fünf Beitragsjahre erforderlich, was er ja erfüllt. Sie fällt jedoch entsprechend der wenigen Jahre Beitragszeit geringer aus.
(Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig; eine Revision zum Bundessozialgericht wurde vom LSG nicht zugelassen. Der Kläger könnte aber eine Nichtzulassungsbeschwerde beim BSG einreichen.)
Konsequenzen für Arbeitnehmer
Für Arbeitnehmer – insbesondere solche mit Schwerbehinderung oder mit dem Wunsch einer vorzeitigen Rente – lassen sich aus dem Urteil folgende praktische Hinweise ableiten:
- 35 Beitragsjahre erforderlich: Wer von der Altersrente für schwerbehinderte Menschen Gebrauch machen möchte, muss die 35-jährige Mindestversicherungszeit erfüllen. Erreichen Sie diese Wartezeit nicht, können Sie die vorgezogene Schwerbehindertenrente nicht in Anspruch nehmen. In diesem Fall bleibt nur die reguläre Altersrente ab Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze – hierfür genügen bekanntlich fünf Beitragsjahre. Anders ausgedrückt: Ohne 35 Beitragsjahre kein vorzeitiger Altersruhestand wegen Schwerbehinderung.
- Wechsel in den Beamtendienst gut abwägen: Überlegen Sie es sich gut, wenn Sie von einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit in ein Beamtenverhältnis Ab dem Zeitpunkt der Verbeamtung zahlen Sie keine Beiträge mehr in die gesetzliche Rentenkasse ein. Ihre bis dahin erworbenen Rentenansprüche bleiben zwar erhalten, aber sie wachsen nicht weiter. Das LSG-Urteil zeigt, dass ein Wechsel in den Staatsdienst langfristige Auswirkungen auf die Rentenansprüche haben kann. Insbesondere können bestimmte vorzeitige Rentenoptionen verloren gehen, wenn man die erforderlichen Beitragszeiten dadurch nicht erreicht. Beamtenjahre zählen eben nicht für die 35-Jahres-Regel der Rentenversicherung mit.
- Freiwillige Beiträge in Betracht ziehen: Falls Sie doch in den öffentlichen Dienst wechseln (oder bereits gewechselt sind) und knapp unter 35 Beitragsjahren liegen, prüfen Sie die Möglichkeit freiwilliger Beiträge zur Rentenversicherung. Personen, die aktuell keine Pflichtbeiträge zahlen (z. B. Selbständige oder Beamte), können durch freiwillige Einzahlungen eventuell die 35 Jahre voll machen und sich so die Option auf eine vorgezogene Rente sichern. Lassen Sie sich hierzu beraten, ob und wie freiwillige Beitragszahlungen in Ihrem konkreten Fall sinnvoll sind.
Konsequenzen für Beamte
Auch Beamte – sei es aktive Beamte mit Schwerbehinderung oder ehemalige Angestellte, die verbeamtet wurden – sollten diese Entscheidung im Hinterkopf behalten:
- Frühe Pension vs. Rente: Schwerbehinderte Beamte können zwar oft früher in den Ruhestand gehen (je nach Dienstherr etwa mit 60 bzw. 62 Jahren). So erhielt der Kläger im vorliegenden Fall vom Land Berlin ein vorgezogenes Ruhegehalt aufgrund seiner Schwerbehinderung. Doch eine vorzeitige gesetzliche Rente gibt es für Beamte nur, wenn 35 Beitragsjahre in der Rentenversicherung vorliegen – was bei langjährigen Beamten meist nicht der Fall ist. Haben Sie also nur wenige Jahre in die Rentenkasse eingezahlt, können Sie eine gesetzliche Rente in der Regel erst ab dem regulären Rentenalter beziehen (frühestens ab 63 mit Abschlägen bzw. je nach Geburtsjahr entsprechend später).
- Regelaltersrente aus früheren Beiträgen: Wenn Sie vor Ihrer Beamtenlaufbahn einige Jahre als Arbeitnehmer gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt haben, steht Ihnen später grundsätzlich eine Regelaltersrente aus diesen Beiträgen zu. Diese beginnt mit Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze (je nach Jahrgang etwa mit 66–67 Jahren) und wird entsprechend der eingezahlten Jahre berechnet – in vielen Fällen dürfte es nur eine relativ kleine Zusatzrente Prüfen Sie Ihren Rentenkontenverlauf bei der Deutschen Rentenversicherung, um zu wissen, welche Ansprüche aus Ihren Beitragszeiten bestehen. Wichtig: Liegen insgesamt weniger als fünf Beitragsjahre vor, besteht später kein Rentenanspruch aus der gesetzlichen Versicherung. In solchen Fällen kann ggf. eine Beitragserstattung der eingezahlten Beiträge beantragt werden – hierzu sollten Sie sich individuell beraten lassen.
- Keine doppelte Versorgung: Machen Sie sich bewusst, dass Sie nicht doppelt kassieren können. Aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten Sie Leistungen nur für die Jahre, in denen Sie dort Beiträge gezahlt haben. Ihre Jahrzehnte als Beamter erhöhen weder die gesetzliche Rente noch ersetzen sie fehlende Beitragsjahre. Ihre primäre Absicherung im Alter ist das Beamtenruhegehalt. Eine gesetzliche Rente kann allenfalls zusätzlich kommen, wenn genügend Beitragsjahre außerhalb des Beamtenverhältnisses zusammengekommen sind – in vielen Fällen also erst in Form der kleinen Regelaltersrente ab 67.
Das LSG-Urteil unterstreicht die strikte Trennung der Altersvorsorgesysteme. Wer zwischen Angestelltendasein und Beamtenlaufbahn wechselt, muss langfristig planen. Arbeitnehmer sollten darauf achten, ausreichend Beitragsjahre für eventuelle vorzeitige Rentenansprüche zu sammeln, und Beamte sollten ihre verbleibenden Rentenanwartschaften realistisch einschätzen. Insgesamt zeigt der Fall, dass eine lange Berufstätigkeit nicht automatisch zu einem frühen Renteneintritt berechtigt – entscheidend sind die erfüllten Voraussetzungen im jeweiligen System. Im Zweifel ist es ratsam, frühzeitig eine individuelle Beratug (etwa bei Rentenberatern oder Anwälten) in Anspruch zu nehmen, um böse Überraschungen im Alter zu vermeiden. So können Arbeitnehmer und Beamte sicherstellen, dass sie alle zustehenden Ansprüche kennen und optimal nutzen.