Missbrauch einer beherrschenden Stellung im Schienenverkehr Litauens

20. November 2020 -

Das Gericht der Europäischen Union hat den Beschluss der Europäischen Kommission bestätigt, mit dem der Missbrauch einer beherrschenden Stellung des staatlichen Eisenbahnunternehmens Litauens auf dem litauischen Markt für den Schienengüterverkehr festgestellt wurde.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 140/2020 vom 18.11.20020 ergibt sich:

Die wegen des betreffenden Verstoßes gegen dieses Unternehmen verhängte Geldbuße werde jedoch von 27.873.000 auf 20.068.650 Euro herabgesetzt, so der EuG.

Die Lietuvos geležinkeliai AB („LG“), das staatliche Eisenbahnunternehmen Litauens, betreibt in Litauen die Eisenbahninfrastruktur und erbringt dort zugleich Schienenverkehrsleistungen. In ihrer Eigenschaft als Erbringerin von Schienenverkehrsleistungen schloss sie im Jahr 1999 eine Geschäftsvereinbarung mit der Orlen Lietuva AB („Orlen“), einer im Besitz des polnischen Ölunternehmens PKN Orlen SA befindlichen litauischen Ölgesellschaft, über die Erbringung von Schienenverkehrsleistungen im litauischen Staatsgebiet. Diese Vereinbarung erfasste u. a. die Beförderung von Mineralölerzeugnissen aus einer Orlen gehörenden großen Raffinerie in Bugeniai im Nordwesten Litauens, nahe der Grenze zu Lettland, zum litauischen Seehafenterminal Klaipėda im Hinblick auf die Verbringung der betreffenden Erzeugnisse nach Westeuropa.
Im Anschluss an im Jahr 2008 aufgetretene Differenzen zwischen LG und Orlen über die Tarife für die Schienenverkehrsleistungen, die Gegenstand der Vereinbarung waren, erwog Orlen, ihre Seeexporttätigkeit vom Abgangsort Klaipėda auf die Seehafenterminals Riga und Ventspils in Lettland zu verlagern und in diesem Zusammenhang die Latvijas dzelzceļš, die staatliche Eisenbahngesellschaft Lettlands („LDZ“), mit der Beförderung ihrer Erzeugnisse aus der Raffinerie Bugeniai zu beauftragen. Für die Verbringung ihrer Fracht zu den lettischen Seehafenterminals beabsichtigte Orlen die Nutzung einer Bahnstrecke, die von ihrer Raffinerie ins lettische Rengė führte (nachfolgend: „kurze Strecke“) und von ihr bis dahin benutzt worden war, um den lettischen und den estnischen Markt zu bedienen.
Aufgrund einer Verformung der Bahntrasse auf dieser kurzen Strecke auf einer Länge im zweistelligen Meterbereich setzte LG als Betreiberin der Schieneninfrastruktur am 02.09.2008 den Verkehr auf einem 19 km langen Teilabschnitt dieser Strecke (nachfolgend: „streitige Gleisstrecke“) aus. Am 03.10.2008 begann sie mit dem vollständigen Abbau der streitigen Gleisstrecke, der noch im selben Monat abgeschlossen wurde.
Infolgedessen musste Orlen, die davon ausging, dass LG keine kurzfristige Reparatur der streitigen Gleisstrecke beabsichtigte, von ihrem Vorhaben, die Dienste von LDZ zu nutzen, Abstand nehmen. In der mündlichen Verhandlung haben LG und LDZ jedoch bestätigt, dass die Arbeiten zum Wiederaufbau der streitigen Gleisstrecke schlussendlich aufgenommen worden seien und mit ihrem Abschluss im Dezember 2019 sowie mit der Wiederinbetriebnahme der Strecke vor Ende Februar 2020 gerechnet werde.

Die Europäische Kommission gelangte auf Beschwerde von Orlen hin mit Beschluss vom 02.10.2017 zu dem Ergebnis, dass LG durch die Entfernung der streitigen Gleisstrecke ihre beherrschende Stellung als Betreiberin der litauischen Eisenbahninfrastruktur missbraucht habe, da sie LDZ am Eintritt in den Markt der Beförderung von Mineralölerzeugnissen auf der Schiene von der Raffinerie von Orlen zu den Seehafenterminals Klaipėda, Riga und Ventspils (nachfolgend: „relevanter Markt“) gehindert habe. Für diesen Verstoß verhängte die Kommission eine Geldbuße von 27.873.000 Euro gegen LG und gab ihr auf, dem Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union abzuhelfen. LG erhob gegen den Beschluss der Kommission Klage beim EuG.

Das EuG hat die Klage von LG weitgehend abgewiesen. Es hält jedoch in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung auf dem Gebiet der Festsetzung von Geldbußen unter Berücksichtigung der Schwere und der Dauer des Verstoßes für angebracht, den Betrag der gegen LG verhängten Geldbuße von 27.873.000 auf 20.068.650 Euro herabzusetzen.

Nach Auffassung des EuG hat LG als Betreiberin der litauischen Eisenbahninfrastruktur, die infolge eines ehemaligen gesetzlichen Monopols eine beherrschende Stellung auf dem Markt des Betriebs der Eisenbahninfrastruktur innehat, ohne Investitionen in das dem litauischen Staat gehörende Schienennetz getätigt zu haben, nach dem Unionsrecht und dem nationalen Recht die Aufgabe, den Zugang zur öffentlichen Eisenbahninfrastruktur zu gewähren sowie für einen guten technischen Zustand dieser Infrastruktur und einen sicheren und ununterbrochenen Eisenbahnverkehr zu sorgen und im Fall der Störung des Schienenverkehrs alle erforderlichen Maßnahmen zur Wiederherstellung des Normalzustands zu treffen.

In diesem Zusammenhang könne das in Rede stehende Verhalten, also das Entfernen der streitigen Gleisstrecke, nicht im Licht der Rechtsprechung zur Verweigerung des Zugangs zu grundlegender Infrastruktur beurteilt werden, die für den Schluss auf die Missbräuchlichkeit einer Praxis eine höhere als die in dem angefochtenen Beschluss herangezogene Schwelle ansetze. Ein solches Verhalten sei nämlich wie ein Handeln zu bewerten, das den Markteintritt durch die Erschwerung des Marktzugangs behindern und so eine wettbewerbswidrige Marktabschottung bewirken könne.

LG sei der Nachweis nicht gelungen, dass sich die streitige Gleisstrecke nach dem Auftreten der in Rede stehenden Verformung und der eingehenden Bewertung ihres Gesamtzustands in einem Zustand befand, der ihre umgehende vollständige Entfernung rechtfertigte. Die Kommission habe insoweit zutreffend dargetan, dass Probleme auf einem Teilabschnitt von 1,6 km der 19 km langen streitigen Gleisstrecke nicht deren vollständige und sofortige Entfernung rechtfertigen konnten. Jedenfalls sei LG nach dem geltenden Rechtsrahmen nicht nur zur Gewährleistung der Sicherheit ihres Schienennetzes gewesen, sondern auch zur Minimierung der Störung und Verbesserung der Leistung dieses Netzes verpflichtet.

Zum Vorbringen von LG, wonach die vollständige und sofortige Entfernung der streitigen Gleisstrecke und ihre im Anschluss daran ursprünglich geplante vollständige und sofortige Wiederherstellung wirtschaftlich günstiger gewesen seien als umgehende punktuelle Reparaturen mit einer anschließenden vollständigen, aber gestaffelten Neuerrichtung, sei festzustellen, dass es für LG in Ermangelung der für den Beginn der Wiederaufbauarbeiten erforderlichen Finanzierung und ohne das Durchlaufen der üblichen Vorbereitungsphasen für die Durchführung solcher Arbeiten keinerlei Anlass gegeben habe, die streitige Gleisstrecke in aller Eile zu entfernen. Desgleichen habe die Kommission fehlerfrei befunden, dass es ein im Schienensektor außerordentlich unübliches Verhalten darstelle, noch vor dem Beginn von Renovierungsarbeiten zum Abbau einer Gleisstrecke zu schreiten.

Außerdem bestätigt das EuG, dass LG, da sie eine beherrschende Stellung nicht nur als Betreiberin der Schieneninfrastruktur, sondern auch auf dem relevanten Markt einnahm, eine besondere Verantwortung hatte, einen wirksamen und unverfälschten Wettbewerb auf diesem Markt nicht zu beeinträchtigen. Dieser Verantwortung hätte sie somit bei der Entscheidung über den Umgang mit der Verformung der streitigen Gleisstrecke Rechnung tragen müssen und darauf achten müssen, dass nicht jede Möglichkeit einer kurzfristigen Wiederinbetriebnahme dieser Strecke vereitelt werde. Durch die Entfernung der gesamten streitigen Gleisstrecke sei LG dieser Verantwortung jedoch nicht nachgekommen, da ihr Verhalten den Zugang zum relevanten Markt erschwerte.

Zur Auswirkung der Entfernung der streitigen Gleisstrecke auf die Möglichkeit von LDZ, die zur Ausfuhr auf dem Seeweg bestimmten Mineralölerzeugnisse von Orlen von der Raffinerie zu den lettischen Seehafenterminals zu befördern, sei darauf hinzuweisen, dass der Umstand, in Litauen eine Strecke benutzen zu müssen, die länger und stärker befahren sei als der litauische Teil der kurzen Strecke, für LDZ höhere Trassenkonfliktrisiken, eine Unsicherheit hinsichtlich der Qualität und der Kosten der ergänzenden Schienenverkehrsdienste sowie Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit dem Mangel an Information und Transparenz hinsichtlich der Markteintrittsbedingungen und damit eine größere Abhängigkeit vom Betreiber des litauischen Eisenbahnnetzes bedeutete. Außerdem seien 2008 und 2009 die Kosten für die Beförderung von Mineralölerzeugnissen von Orlen auf den längeren Strecken zu den lettischen Seehafenterminals höher gewesen als auf der Strecke nach Klaipėda. Folglich könne der Kommission nicht vorgeworfen werden, ihr sei mit der Schlussfolgerung, dass die längeren Strecken zu den lettischen Seehafenterminals im Vergleich zu der Strecke nach Klaipėda nicht wettbewerbsfähig gewesen seien, ein Beurteilungsfehler unterlaufen.